Zitronengelb

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„Wer war das denn?" fragt Maddie neugierig, nachdem Philipp fluchtartig die Agentur verlassen hat. Ich reibe mir mit den Händen mein Gesicht und stöhne auf: „Lange Geschichte."
Interessiert schaut Maddie auf das Bild, das Beamer weiterhin an meine Wand wirft und sieht das Startbild des bunten Werbevideos.
„Hast du ihm etwa das LSD-Video gezeigt?" fragt sie entsetzt. „Da wäre ich auch gerannt."

„Ist noch was, Maddie?" frage ich genervt, denn gerade bin ich nicht zu Scherzen aufgelegt. Beschwichtigend hebt sie die Hände und die Augenbrauen und verkrümelt sich leise wieder.

Den Rest des Tages kann ich mich kaum konzentrieren und muss ständig daran denken, dass dieser arme Mann mich für einen vollkommenen Freak halten muss. Und auf eine gewisse Art bin ich das auch. Er kennt noch nicht einmal das ganze Ausmaß und trotzdem habe ich es geschafft, ihn in die Flucht zu schlagen.

Ich weiß vielleicht nicht, was es mit dem Elfenbein oder dem Perlweiß auf sich hat, aber ich kenne Angst. Und die konnte ich bei ihm ganz deutlich sehen.

Gern würde ich ihm sagen, dass ich kein Perverser bin, der fremde Menschen in der Bahn malt, doch, wenn man es ganz genau nimmt, bin ich genau das.

Die folgenden Tage sind die ersten seit ich denken kann, an denen ich keine Skizzen anfertige. Ich sitze in der U-Bahn, betrachte die stahlgrauen, moosgrünen Menschen und stelle mir vor, wie sie allesamt die Flucht ergreifen, wenn sie bemerken, dass ich sie zeichne.

Ab und zu sehe ich jemanden in grasgrün oder auch zitronengelb, aber die meisten verschwimmen zu einem tristen Einheitsbrei aus Stress und Genervtheit.

Gestern Abend war Dean seit langem einmal wieder früher zu Hause und kochte gleich ein Drei-Gänge-Menü für uns, vermutlich um die fehlende Zeit auf seine Art wiedergutzumachen. Nur mit Mühe bekam ich das Essen herunter und als er sich im Bett dicht an mich kuschelte und begann, meinen Hals zu küssen, gab ich vor müde zu sein.

Ich starre still vor mich hin, während um mich herum Menschen die U-Bahn verlassen, einsteigen, sich neben mich setzen, wieder aufstehen. Sie haben keine Ahnung, dass sie für mich alle gleich aussehen.

Der Zug hält erneut und draußen sehe ich etwas Helles schimmern. Als ich auf die Anzeige schaue, stelle ich fest, dass hier wohl Philipps Haltestelle sein muss. Und dort auf dem Bahnsteig steht er. Die stahlgrauen und moosgrünen Menschen laufen an ihm vorbei und scheinen ihn überhaupt nicht zu sehen. Er wartet ab, bis niemand mehr drängelt und steigt dann in den Wagen, stets darauf bedacht, niemandem zu nahe zu kommen oder ihn gar zu bedrängen. Er fügt sich einfach so dazwischen.

Unverhohlen starre ich ihn an, seine Farbe ist eine Mischung aus Elfenbein und perlweiß, wie eine Wolke. Er scheint mich nicht gesehen zu haben, denn er blickt einfach nur ins Leere, während er zwischen den anderen Menschen steht und sich nur an der Laufstange festhält, die an der Decke des Zuges angebracht ist. In der anderen Hand hält er einen Rucksack, den er aber kurze Zeit später zwischen seinen Füßen auf dem Boden abstellt.

Eilig ziehe ich meinen Skizzenblock mit den schwarzen Seiten hervor und suche meinen elfenbeinfarbenen Stift. Doch auch heute zeichne ich nicht, obwohl der Wunsch nahezu unwiderstehlich ist. Stattdessen schlage ich den Block auf und schreibe hastig darauf.

Lieber Philipp,

ich wollte Sie nicht verängstigen.
Dies waren die einzigen Bilder, die ich von Ihnen gezeichnet habe.
Ich wollte Ihnen damit nicht zu nahe treten.
Bitte behalten Sie den Block oder vernichten Sie ihn.

Es tut mir leid,
Ricardo Cook

Ich stecke meinen Stift weg und stehe vorsichtig auf, mein Herz schlägt schnell und fest gegen meinen Brustkorb.

Die Leute stehen dicht gedrängt und mit jedem Wackeln des Wagens rücke ich ein Stück näher an Philipp heran, bis wir schließlich Rücken an Rücken stehen. Seine helle Farbe ist so klar für mich, dass ich mich kurz frage, ob wohl etwas davon an meinem Finger hängen bliebe, wenn ich ihn berühren würde. Nur knapp kann ich mich zurückhalten, nicht genau das auszuprobieren. Stattdessen lasse ich meinen eigenen Rucksack zwischen meine Füße fallen und tue so, als würde ich gleichgültig vor mich hinstarren.

An der folgenden Haltestelle herrscht wieder emsiges Gewusel und ich nutze meine Gelegenheit. Ich hocke mich kurz hin, öffne vorsichtig den Reißverschluss seines Rucksacks und schiebe meinen Skizzenblock langsam hinein. Dann schließe ich den Reißverschluss wieder leise und stelle mich hin.

Die nächste Haltestelle ist meine und ich bewege mich zwischen den moosgrünen Körpern langsam auf die Tür zu. Als der Zug hält und ich aussteige, drehe ich mich noch einmal um und werfe einen Blick auf Philipps elfenbein-perlweiße Farbe, bevor er aus meinem Blickfeld verschwindet.

Ich weiß nicht, ob diese Entscheidung die richtige war, aber es fühlte sich richtig für mich an. Ich bedauere ein wenig, nicht zumindest eine der Skizzen von ihm aufbewahrt zu haben, aber das wäre unehrlich gewesen und hätte mich erst recht zu einem Freak gemacht.

Auf dem Weg ins Büro beschließe ich, nicht mehr darüber nachzudenken. Ich kann mich nicht von einer einzigen, kleinen Sache so massiv beeinträchtigen lassen.

„Ricardo!" kommt mir Ella laut lachend im Eingangsbereich entgegengelaufen.
„Hey, Sonnenschein," rufe ich fröhlich und schließe das kleine Mädchen in meine Arme. „Hast du deinen Job doch an den Nagel gehängt und fängst jetzt endlich bei uns an?"
Sie kichert und schüttelt den Kopf. „Ich bin fünf, Ricardo."
„Und? Früh übt sich," sage ich ernst, drücke sie aber noch fester.

Maddie steht lächelnd in der Tür und ich schaue sie fragend an.
„Der Kindergarten hat einen Schulungstag und Ron ist in Dallas," erklärt sie.
„Wow," mache ich und grinse Ella an. „Und deine Mom hat so viel zu tun heute, dass keiner deiner Eltern etwas dagegen tun kann, wenn ich dich in meinem Büro dazu zwinge, Bilder zu malen."

Die Kleine strahlt mich an und stupst mit ihrem
Zeigefinger auf meine Nase. „Aber du malst aus," erklärt sie und an dem hellen Zitronengelb, das sie ausstrahlt, ahne ich, dass ich viel zu tun haben werde.
„Jedes einzelne Bild, mein Sonnenschein," verspreche ich und zwinkere Maddie verschwörerisch zu, die mich dankbar anlächelt.

Farbenspiel | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt