Flaschengrün

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„Du musst mir erst etwas versprechen," sage ich ernst und Philipp sieht mich mit großen Augen an. Das ängstliche Alarmrot kratzt an den Rändern seiner Färbung und ich nehme schnell seine Hand.
„Du läufst bitte nicht gleich weg," füge ich schnell hinzu.

„Okay," macht er zweifelnd und sieht auf unsere verschränkten Hände.
„Du hast diese Eigenart, dass du schnell weglaufen willst," füge ich hinzu und er lächelt verlegen.
„Hast du das gemerkt?" fragt er.
„Ein wenig," grinse ich.

Die sonnengelbe Kellnerin bringt uns unsere Kaffeebestellung und schaut auf unsere Hände. „Ihr seid wirklich ein süßes Paar," schwärmt sie, vollkommen von einem liebevollen Altrosa umgeben, während sie uns förmlich anschmachtet. Ich kichere leise, doch Philipp zieht verlegen seine Hand aus meiner, seine Wangen wieder rot.
„Danke," flüstere ich ihr nur zu und zwinkere. Sie versteht den Wink glücklicherweise und lässt uns wieder allein.

„Also," sage ich und weiß nicht recht, wie ich anfangen soll. Vermutlich ist Ehrlichkeit wieder die beste Methode. „Ich kann Farben sehen."
Philipps Augenbrauen ziehen sich verwirrt zusammen und er formt seinen Mund zu einem „Oh". An den cyanfarbenen Flecken erkenne ich, dass er etwas Freches sagen will und ich hebe eine Augenbraue.

„Das ist.. furchtbar, Ricardo," grinst er. „Das muss sehr schlimm für dich sein."
Ich lächele kurz, denn mit so einer Reaktion hatte ich schon gerechnet. „Da ist noch mehr," füge ich hinzu und er schaut mich fragend an. „Jetzt sag' mir bitte nicht, dass du auch noch Musik hören kannst," sagt er kichernd und ich muss selbst lachen, schüttele aber den Kopf.

„Kannst du nicht?" macht er entsetzt, aber noch immer cyanfarben und amüsiert gelbgrün gefärbt und ich knuffe ihn liebevoll in die Seite.
„Doch, aber ich wollte auf etwas anderes hinaus," lache ich. Philipp bemüht sich, mich ernst anzusehen und ich atme tief durch.

„Ich sehe die Farben von Menschen," versuche ich zu erklären. „Es fing schon als kleines Kind an, dass ich eine besondere Vorliebe für Farben hatte und Malen mein Ventil wurde. Ich rastete regelrecht aus, wenn einer meiner Stifte, den ich gerade brauchte, nicht auffindbar oder gar leer war."

Philipps amüsiertes Gelbgrün hat sich in ein interessiertes Kobaltblau gewandelt und er hört mir gebannt zu, während ich weiter fortfahre: „Ich hatte so meine lieben Probleme im Kindergarten und in der Schule, weil ich zwar schon früh sehr gut zeichnen konnte, aber nie die Farben verwendete, die alle anderen sehen."

Ich seufze und sehe zu der Frau mittleren Alters, die gerade das Café betritt. Sie ist stahlblau und etwas schlammbraun.
„Die Frau dort ist müde und außerdem ist ihr übel," erkläre ich und Philipp sieht zu der Frau, die im Gegensatz zu allen anderen tatsächlich einen Tee bestellt und sich unbewusst über den Magen reibt.

„Aha," macht er zweifelnd.
„Für mich ist sie stahlblau und schlammbraun," verdeutliche ich. „Die Kellnerin ist ebenfalls müde, also stahlblau, ansonsten aber sonnengelb. Besonders, weil wir hier sitzen und sie mal mehr machen kann als nur Kaffee, denke ich."
„Willst du mir jetzt sagen, dass du Gedanken lesen kannst, Ricardo?" fragt Philipp und ich sehe zweifelndes Flaschengrün in seiner Färbung.

„Du zweifelst," stelle ich fest und er lacht.
„Naja, du siehst Edward Cullen nicht gerade ähnlich," grinst er und ich beiße mir auf die Lippe.
„Es ist auch kein Gedankenlesen," sage ich ernst und versuche, nicht zu verletzt über seine Reaktion zu sein. Es gibt nicht viele Menschen, die von meiner Gabe wissen und es fällt mir nicht leicht, jemandem davon zu erzählen. „Es sind eher Gefühle."

„Hm," macht er und atmet durch. Ich sehe, wie das Flaschengrün verschwindet und das interessierte Kobaltblau zurückkommt.
„Hast du deine Zweifel gerade weggeatmet?" frage ich und er hebt überrascht die Augenbrauen. Sofort kommt überraschtes Himmelblau zu seiner Farbe dazu.
„Hast du das gesehen?" fragt er und ich nicke.

Das Safrangelb der Erkenntnis mischt sich dazu und aschgraue Flecken, sowie magentafarbene Wellen erscheinen und ich befürchte, auch gleich das Alarmrot zu sehen. Leise zähle ich die Farben auf, die ich sehe, in der Hoffnung, dass er nicht gleich die Flucht ergreift.
„Safrangelb, Aschgrau, Magenta," flüstere ich und füge Perlbrombeer hinzu, als auch das wieder auftaucht.
„Bin ich so bunt?" fragt er verwirrt und ich zucke mit den Schultern.
„Für mich schon," gebe ich zu.
„Hm," macht er und blickt auf seine Hände, als könnte er daran etwas erkennen.

„Lange konnte ich damit nicht gut umgehen, denn es ist nichts, was ich ausblenden kann oder nur schwer," versuche ich weiter, Philipp einzuweihen. „Meine Mutter war verzweifelt wegen meiner Wutanfälle, es wurde immer schlimmer, auch wenn ich nie auf sie losging, so ging doch einiges in unserer Wohnung zu Bruch. Also schickte sie mich zu einem Psychologen."

Mitfühlend sieht Philipp mich an, das Perlbrombeer noch präsent, aber auch wieder das interessierte Kobaltblau.
„Der Arzt riet mir, einfach die Menschen, die ich sehe, zu zeichnen und das tat ich. Damit wurde es besser, weil ich sie so aus meinem Kopf auf das Papier bekam."
„Darum hast du mich gemalt?" fragt er und ich nicke.
„Warum nicht jemand anderen aus der U-Bahn?
Auf dem Block war nur ich."

Ich räuspere mich und bin plötzlich etwas verlegen. Ich möchte nicht, dass er denkt, ich hätte ihn gestalkt oder so.
„Die meisten Menschen sehen fast immer gleich aus," verrate ich ihm. „Morgens sind alle moosgrün und stahlgrau. Ab und zu mal ein sonnengelbes Kind, aber größtenteils ist es immer das Gleiche. Maddies Mann Ron ist beispielsweise immer erdbraun, Ella fast immer sonnengelb oder zitronengelb und Dean ist immer grasgrün."

Philipp sieht mich fragend an. „Dean?" fragt er und ich schlucke. „Dein.. der Mann aus der U-Bahn?"
Ich nicke vorsichtig und erkenne, dass zweifelndes Flaschengrün zurückkommt. Zweifel daran, ob das hier alles eine gute Idee ist, denke ich.
„Jede Farbe hat eine Bedeutung," spezifiziere ich. „Sonnengelb ist fröhlich, Erdbraun ist bodenständig und Grasgrün ausgeglichen."

Philipp schaut mich erwartungsvoll an und fragt leise: „Welche Farbe hatte ich?"
Ich lächele, denn ich hoffe, endlich eine Antwort auf die Frage zu bekommen, die ich mir stelle, seit ich ihn zum ersten Mal in der U-Bahn sah.
„Elfenbein," flüstere ich und er runzelt die Stirn.
„Was bedeutet Elfenbein?" will er wissen und ich zucke mit den Schultern.
„Ich hatte gehofft, du kannst mir das beantworten."

Farbenspiel | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt