Philipp wohnt laut seiner Visitenkarte in einem unscheinbaren Mehrfamilienhaus. Mit wackeligen Knien gehe ich die paar Stufen zur Haustür nach oben und schaue auf das Klingelschild. Der Name Wooding ist in der dritten Etage zu sehen und nachdem ich tief durchgeatmet habe, drücke ich fest auf den Knopf neben dem Namen.
Eine Weile passiert nichts und ich bezweifle, dass Philipp überhaupt zu Hause ist, doch dann knackt es in der Leitung und ich höre seine Stimme über die Gegensprechanlage. „Hallo?"
„Ja, hallo," sage ich. „Ich habe ein Paket für.." Suchend blicke ich auf das Klingelschild und lese den Namen, der neben Wooding steht. „.. für Reinsch."
Oh, nicht im Ernst! Er denkt doch, ich will ihn verarschen! Sein Nachbar heißt Reinsch?Ich kneife meine Augen zusammen, denn ich rechne fest damit, dass Philipp gleich auflegen wird, doch ich höre nur ein erschöpftes „Okay, ich nehme es für ihn an." Der Summer ertönt und ich drücke die Tür auf. Herr Reinsch scheint oft zu bestellen und nicht zu Hause zu sein, wenn ich nicht in Frage gestellt werde.
Mit fest klopfendem Herzen gehe ich die Stufen nach oben und plötzlich bekomme ich Angst. Was soll ich ihm sagen? Was, wenn er mir die Tür vor der Nase zuschlägt? Bei der Vorstellung daran zieht sich mein Brustkorb schmerzhaft zusammen.
In der dritten Etage sehe ich rechts und links eine Tür. Die Rechte ist geschlossen, die linke Tür einen Spalt angelehnt. Zögerlich stelle ich mich vor die angelehnte Tür und klopfe zaghaft daran.
„Moment," höre ich Philipps Stimme von drinnen rufen und dann weiteres Gemurmel. Oh, er ist nicht allein. Wie dumm von mir. Ich vernehme Schritte und kann die Worte, die er spricht, nun besser verstehen.
„Nein, es gibt auch nichts mehr zu sagen, Sannie." Kurze Pause. „Können wir morgen beim Essen in Ruhe darüber reden?" Pause. „Ja, ich hab dich auch lieb. Ich muss jetzt aufhören, Reinsch hat wieder irgendwelchen Mist bestellt."Die Tür wird aufgerissen und Philipp in seinem Elfenbein-Perlweiß brabbelt ein „Entschuldigung".
„Schon okay," sage ich ruhig und erst jetzt sieht er mich an.
In Sekundenschnelle wechselt seine Farbe zu einem überraschten Himmelblau, durchmischt mit Bordeauxviolett, Aschgrau und Alarmrot.„Ricardo," sagt er kaum hörbar und sein Anblick lässt mein Herz noch schneller schlagen. Ich sehe ihm an, dass er am liebsten sofort die Flucht ergreifen würde und genau das will ich nicht.
„Ich würde wirklich gern mit dir reden, Philipp," sage ich schon fast flehend.
Er atmet tief durch, das Himmelblau lässt etwas nach und er seufzt.„Hör' zu, du bist mir wirklich keine Rechenschaft schuldig," sagt er leise. „Ich.. ich dachte, da wäre was und ich wollte dich nicht überrumpeln, also bitte erspare mir einfach diese unangenehme Situation, okay?"
„Nein," sage ich energisch und mache einen Schritt auf ihn zu. Das Alarmrot und das Bordeauxviolett schreien mich schon fast an.
„Da ist auch was," gebe ich zu und sofort kommt ein wenig von dem Himmelblau zurück. „Ich.. ich hab keine Ahnung, was, aber du gehst mir nicht aus dem Kopf, Philipp."Seine blauen Augen mustern mich misstrauisch, prüfend, ob ich die Wahrheit sage.
„Aber.." beginnt er und ich hebe die Hand, denn ich weiß genau, was er sagen will. Ich habe keine Antwort darauf, was mit Dean ist oder wird und, um ehrlich zu sein, ist Dean gerade die letzte Person, an die ich denken kann.„Wenn die Situation anders wäre, hätte ich dich vermutlich an dem Tag, als du zum ersten Mal in der Agentur standest, schon um ein Date gebeten," gebe ich ehrlich zu. Philipps Wangen färben sich wieder rot und das Aschgrau kommt in seiner Färbung hinzu, zusammen mit etwas Magenta und Lavendel.
„Aber sie ist es nicht," flüstert er.
„K-Können wir nicht einfach.. ich weiß nicht.. reden?" schlage ich vor. „Ich würde dich gern tausend Fragen fragen und dir Antworten geben, wenn ich denn welche habe und du überhaupt welche haben möchtest."Philipp sieht mich lange an, in seinem Farbspiel sehe ich das enttäuschte Bordeauxviolett und das ängstliche Alarmrot gegen neugieriges Capriblau und Lavendel kämpfen. Ich will schon gehen, will ihm sagen, dass es mir leidtut und dass ich ihn künftig nicht mehr belästigen werde, doch dann kommt entschlossenes Nussbraun dazu und er hält mir die Tür auf.
„Ich habe leider keine Haselnussmilch," sagt er. „Aber einen einfachen Kaffee oder ein Wasser kann ich dir trotzdem anbieten."
Mein Herz macht einen riesigen Satz in meine Kehle und ich lächele verlegen, als ich nicke. „Wasser ist okay," antworte ich und betrete vorsichtig seine Wohnung.Philipp geht durch den kurzen Flur in einen Raum zur Rechten, während ich mich interessiert umsehe. Der Flur ist gesäumt von vielen, verschiedenen Bilderrahmen, in denen sich Schwarz-Weiß-Fotografien befinden. Sie alle zeigen einzelne Landschaften und ich betrachte sie kurz, bevor ich Philipp in die Küche folge.
Die Küche ist klein, aber schlicht und ordentlich. Auch hier hängen Fotos an den Wänden, diese zeigen allerdings Früchte, Gemüse und auch Küchenutensilien wie Töpfe oder Besteck. Offenbar hat Philipp seine Bilder nach Themen in der Wohnung verteilt und sofort bin ich neugierig, wie die anderen Räume aussehen.
Eine Sache haben alle Bilder gemeinsam: sie lassen den Betrachter sofort ein Verlangen nach dem dargestellten Motiv entwickeln und das zeigt mir, wie gut Philipp Dinge wahrzunehmen und darzustellen weiß.
„Still oder mit Kohlensäure?" fragt er mich und ich schaue nun doch zu ihm. „Still, bitte," antworte ich und erkenne an seinem Kühlschrank untypische, farbige Fotos. Sie zeigen ihn mit seiner Schwester und einem Jungen, der wohl sein kleiner Bruder ist. Auf einem Bild lachen alle drei in die Kamera, auf einem Weiteren liefern sie sich offenbar eine Tortenschlacht und auf einem Dritten umarmen sie sich ganz fest.
„Die hat Sannie dort angebracht und mir mit Schmerzen gedroht, wenn ich sie abnehme," erklärt er lächelnd und reicht mir ein Glas.
„Kann ich verstehen," sage ich. „Man sieht sofort, wie viel ihr einander bedeutet."
Er lächelt vor sich hin, während er die Bilder betrachtet und in seiner Färbung erkenne ich wieder das Korallenrot.„Wohnzimmer?" schlägt er vor und ich zucke mit den Schultern. „Wo immer du willst," antworte ich. „Mit dir rede ich auch im Keller, wenn du das lieber magst."
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Farbenspiel | ✓
Teen FictionRicardo Cook hat eine besondere Gabe: er kann recht passabel zeichnen und er kann die Farben anderer Menschen sehen. Doch nicht alle Menschen haben die gleichen Farben und manche sind ein wahrer Regenbogen. ------------ ❝ Verzweifelt suche ich in me...