Eisblau

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Ich nippe an meinem Wasser und blättere planlos durch meinen Skizzenblock. Mit Erschrecken stelle ich fest, dass ich in den vergangenen Tagen fast ausschließlich perlweiße, chaotische Haare gezeichnet habe. Ein klares Zeichen dafür, dass mich diese Begegnung nicht loslassen will.

"Guten Abend, der Herr," höre ich eine vertraute Stimme neben mir und sehe einen grinsenden Dean neben mir stehen. Sein sonst so klares grasgrün ist mit zitronengelben Punkten übersät und ich lächele ihn an. Ich mag zitronengelb, besonders an Dean, denn er hat nur selten andere Farben in seinem grasgrün.
"Guten Abend," erwidere ich ebenso höflich, als würden wir uns gar nicht kennen und klappe schnell meinen Skizzenblock zu.

"Darf ich eine Empfehlung des Kochs aussprechen?" bietet er an und ich nicke.
"Heute empfehle ich das Zitronenrisotto mit Ruccolaspitzen. Wahlweise mit Scampi oder Rinderfiletstreifen," erklärt er professionell.
"Das klingt ausgezeichnet," pflichte ich ihm bei. "Gern nehme ich das Risotto mit Scampi."
"Sehr gern, der Herr," lacht er. "Wie war dein Tag?"

"Ganz gut," seufze ich. Er muss nicht wissen, dass ich seit Tagen einem Geist nachzulaufen scheine. "Ich bin morgen bei Maddie. Ich habe Ella schon so lange nicht mehr gesehen."
"Dann muss ich also kein schlechtes Gewissen haben, wenn ich morgen hier bin?"
Ich schüttele den Kopf. "Nein, ich dachte mir das fast schon. Wie kommt ihr voran?"

"Die Karte ist soweit fertig, zumindest die für den April," plappert er los. "Allerdings haben wir schon die ersten Ideen für Mai und dann müssen wir die Homepage noch überarbeiten. Wir haben einige Anfragen von Restauranttestern und Influencern, da müssen wir dringend an unserer Online-Präsentation etwas ändern."
"Verstehe," erwidere ich. "Ich werde ab nächster Woche ohnehin mitten in der Cooperkampagne stecken, also werde ich wohl auch kaum ansprechbar sein."

Dean lächelt und streicht mir liebevoll über den Arm. Von hinten ruft jemand seinen Namen und er zuckt entschuldigend mit den Schultern, bevor er wieder in der Küche verschwindet.

•••

"Ricardo!" ruft Ella begeistert und fällt mir um den Hals, nachdem sie mir die Tür geöffnet hat. Wie immer strahlt sie sonnengelb und schaut neugierig hinter meinen Rücken. "Hast du mir was mitgebracht?"
"Nein," antworte ich todernst. "Ich bringe immer nur Sachen für mich selbst mit. Stifte zum Beispiel. Und einen großen Block. Damit kannst du doch sowieso nichts anfangen, Liebes."
Sie lacht ihr glockenhelles Kinderlachen und nimmt den großen, weißen Block von mir entgegen. "Ich male vor und du malst aus," ruft sie lachend, während sie bereits in ihrem Zimmer verschwindet.

"Hey Ricardo," begrüßt mich Maddie liebevoll und umarmt mich. "Möchtest du einen Kaffee?"
"Sehr gern," sage ich und hole ein Paket Apfelkuchen, den ich in der kleinen Patisserie bei mir an der Ecke geholt habe.
"Hi, Ricardo," ruft Maddies Mann Ron mir aus dem Wohnzimmer zu. Er deckt gerade den Tisch, obwohl sein Blick mehr auf den Fernseher gerichtet ist, auf dem gerade ein Fußballspiel läuft.
"Kannst du das mal ausmachen?" weist Maddie ihn zurecht.
"Wieso?" protestiert er. "Ricardo verschwindet doch ohnehin gleich im Atelier."

Ron nennt Ellas Zimmer immer liebevoll das Atelier, denn all ihre Wände sind mit ihren Zeichnungen bedeckt. Ihr Schreibtisch ist voll mit Blättern und Stiften und auch auf dem Boden sieht es meist nicht anders aus. Ella macht sich nicht viel aus Puppen und Kuscheltieren.
"Wo er recht hat," grinse ich und küsse Maddies Wange. "Ruft mich, wenn der Kaffee fertig ist."
"Kommst du, Ricardo?" ruft Ella mich bereits aus ihrem Kinderzimmer.

"Wow," sage ich anerkennend, als ich das 'Atelier' betrete. "War Salvador Dali zu Besuch oder hast du eine Galerie geplündert?"
Ella lacht und schüttelt den Kopf. "Das war doch ich, Ricardo," kichert sie. "Komm', ich habe schon ein Bild fertig." Sie reicht mir ein Blatt, auf dem eindeutig ihre Eltern zu erkennen sind. Beide lachen auf dem Bild und ich ziehe meine Stifterolle aus meinem Rucksack.

Ella ist der einzige Mensch, der meine Farbwahl für ihre Bilder nie in Frage stellt. Ich beginne also, die Maddie auf dem Blatt mit grasgrün auszumalen und fülle die dunklen Wolken, die Ella um ihren Kopf gezeichnet hat, mit essigrot auf. Ron wird erdbraun, um seinen Kopf sind keine Wolken.

"Wolken, hm?" mache ich nur und male unbeirrt weiter, während Ella bereits auf dem nächsten Blatt malt. "Mom macht sich Sorgen," antwortet Ella und ich kann in ihrem Sonnengelb kleine eisblaue Kringel erkennen. "Weil Miss Rivers gesagt hat, dass ich nicht richtig male."
"Miss Rivers ist also Kunstkritikerin," stelle ich fest und nehme das nächste Blatt entgegen. Es zeigt Ella und ich erkenne auf dem Bild, dass sie darauf vollkommen in ein Eisblau gehüllt ist. Um sie herum sind Kringel und Blitze gemalt.

Ich ziehe meinen eisblauen Stift hervor und male die Ella auf dem Bild aus.
"Miss Rivers sagt, ich soll aufhören, Katzen auf ihren Kopf zu malen," plappert Ella weiter und macht sich an das nächste Bild.
"Katzen?"
"Sie denkt immer an Katzen. Sie riecht auch wie eine Katze. Und sie würde mich am liebsten auch wie eine Katze kratzen," redet Ella weiter. "Und gestern habe ich ihr Schnurrhaare gemalt. Aber sie wäre einfach gern eine Katze und Katzen brauchen Schnurrhaare."

Ich nicke verständisvoll. "Weißt du, mein Schatz," beginne ich. "Manche Leute möchten die Wahrheit nicht gern sehen. Du siehst sie und ich auch, aber viele Menschen bekommen Angst, wenn man beispielsweise sieht, dass sie gern eine Katze wären."
"Aber warum?" will Ella wissen. "Eigentlich mag ich Katzen."
"Aber vielleicht ist es Miss Rivers trotzdem unangenehm."
"Hat deine Erzieherin dich früher auch geschimpft, wenn du die Farben so gemalt hast, wie sie eigentlich sind?" erkundigt Ella sich und ich lache.

"Oh, ich habe sie giftgrün gemalt, mit braunen Punkten," erinnere ich mich. "Sie hat immer geschimpft mit mir, weil sie fand, dass ich sie wie eine Hexe gemalt hätte."
"War sie eine Hexe?"
Ich nicke. "Eine ganz böse. Sie mochte nicht mal Kinder."
"Was hast du dann gemacht, Ricardo?"
"Weißt du, Mäuschen," fahre ich fort. "Ich war lange sehr wütend. Und dann habe ich aufgehört zu malen."
"So wie ich," sagt Ella traurig und das Eisblau überdeckt nun fast ihr Sonnengelb.
"Aber damit ging es mir noch schlechter," erkläre ich weiter. "Und darum habe ich im Kindergarten und in der Schule nicht mehr gemalt, dafür aber zu Hause. Meine Mom mochte meine Bilder."

"Mom und Dad mögen meine Bilder auch," freut sich Ella und das Eisblau wird wieder weniger.
"Und ich liebe deine Bilder, mein Schatz," pflichte ich ihr bei.
"Ich hab dich auch gemalt, Ricardo," sagt sie begeistert und reicht mir ein Bild.

Darauf sehe ich eindeutig mich und auf meinem Kopf thronen wuschelige Haare.
"Hast du mir eine neue Frisur gemalt?" frage ich nach.
"Nein, du Dummerchen," kichert die Kleine. "Du denkst nur die ganze Zeit an Wuschelhaare. Hast du mal einen weißen Stift für mich?"

Farbenspiel | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt