Schlammbraun

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Nachdem ich seinen Brief zum dritten Mal gelesen habe, lasse ich mich langsam auf meinen Schreibtischstuhl sinken. Sannie ist seine Schwester. Und er steht auf Männer. Aber warum ist er so plötzlich weggelaufen? Denkt er, ich würde ihn dafür verurteilen? Er weiß ja nicht, dass ich selbst mit Dean zusammen bin. Oder war es ihm peinlich, dass er Single ist? Auch das würde mich doch nicht stören und es geht mich ja auch nichts an.

Ich frage mich nur, warum. Weil er so schüchtern ist? Hat er zu hohe Ansprüche? Merkwürdige Neigungen? Am Aussehen kann es nicht liegen. Oh, richtig. Es geht mich nichts an.

Maddie klopft vorsichtig an meine Tür und ich rufe: "Herein."
"Hey," sagt sie leise. "Ich habe dir einen Kaffee mitgebracht, möchtest du?"
Ich lächele, gefühlt zum ersten Mal seit Tagen, und nicke ihr zu. "Ich habe auch etwas für dich. Oder Ella."
Fragend runzelt sie die Stirn und kommt näher. Ich zeige ihr die Fotos, die Philipp von Ella gemacht hat und Maddie schnappt überrascht nach Luft.

"Ricardo!" ruft sie. "Die sind atemberaubend. Es ist als.. als hätte jemand sie fotografiert wie ich sie sehe."
"Wahnsinn, oder?" stimme ich ihr zu. "Bringst du ihr die Bilder mit? Ich denke, sie wird sich sehr freuen."
"Du," überlegt sie mit dem Finger am Kinn. "Ich brauche noch einen Fotografen für die Keppler-Kampagne. Meinst du, der macht sowas?"
"Ist das die für dieses Parfum?"
"Genau, für die Zeitschriftenanzeigen brauchen wir noch einen Fotografen, denn Keppler war mit Enrico total unzufrieden."
Ich schnaube abfällig. "Jeder ist mit Enrico unzufrieden. Der hätte lieber Schulfotograf werden sollen und selbst dafür ist er zu schlecht."

"Also, kannst du den hier mal fragen ob er dafür noch Kapazitäten hat?" hakt Maddie nach.
Ich seufze. "Liebend gern, aber ich weiß nicht mal, ob er das beruflich macht, geschweige denn wie ich ihn erreiche, denn ich habe keinerlei Kontaktdaten von ihm, Maddie."
Maddie wühlt in dem Umschlag, in den ich die Bilder von mir und den kleinen, weißen Brief zurückgesteckt habe, und zieht alles hervor. "Hier ist doch eine Visitenka- Ricardo!" schreit sie nun fast. "Ich will diesen Fotografen! Oh mein Gott!"

Fasziniert starrt sie auf die Bilder, die Philipp von mir gemacht hat. Ich versuche ihr die Bilder zu entreißen, erwische aber nur den Brief. Zum Glück, es wäre mir unangenehm, wenn sie ihn läse. "Beruhige dich, Maddie."
"Entschuldige mal," meckert sie mich an. "Hast du die Bilder von dir gesehen? Ich würde dir glatt einen Heiratsantrag machen, wenn ich nicht schon verheiratet wäre."
"Jetzt übertreib' mal nicht!" motze ich zurück und spüre, wie meine Wangen sich rot färben.

"Ich rufe ihn an," erklärt sie und schnappt sich die Visitenkarte. "Danke, Ricardo!"
"Was?" verdattert starre ich ihr nach, wie sie mit der Telefonnummer und vermutlich weiteren Informationen über Philipp aus meinem Büro stolziert. Verdammt!

•••

Frustriert sitze ich am nächsten Morgen in der U-Bahn und starre auf den schlammbraunen Mann mir gegenüber. Er muss schon die ganze Zeit unangenehm aufstoßen und ich befürchte, es ist nur noch eine Frage von wenigen Minuten bis er sich übergeben muss. Innerlich gebe ich ihm zwei Haltestellen. Es ist irgendwie ein abscheulicher Anblick, hat aber auch eine gewisse Faszination und außerdem lenkt es mich ab.

Ablenkung brauche ich auch, denn gestern habe ich mich dabei ertappt, wie ich in Maddies Büro schlich und nach der Visitenkarte aus Philipps Umschlag suchte. Umso unangenehmer war es mir, als Maddie plötzlich hinter mir stand, während ich mich durch die zahlreichen Zettel und Notizen auf ihrem Schreibtisch wühlte.

„Kann ich dir helfen, Ricardo?" hat sie skeptisch gefragt und an den sepiabraunen Flecken in ihrer sonst so grasgrünen Färbung konnte ich erkennen, dass sie meine Schnüffelaktion alles andere als guthieß.
„Ich.. äh.. ich brauche den Fuchur für die Coopers nochmal," habe ich auch noch gelogen und sie sah mich durch zusammengekniffene Augen an. „Den hast du mir noch gar nicht gegeben," sagte sie nur schnippisch und ich habe mir theatralisch an die Stirn gefasst, betont, was für ein Dussel ich doch wäre und bin in mein Büro zurückgeschlichen. Ohne Philipps Visitenkarte.

Da, nur eine Haltestelle. Der schlammbraune Mann springt auf und eilt mit einer Hand vor seinem Mund zum Ausgang, mehrere stahlgraue und moosgrüne Menschen wollen sich beschweren, als er sie zur Seite drückt, weichen aber angewidert zurück, als sie sein blasses Gesicht sehen. Das Schlammbraun zeigt sich auch kurz in ihnen und ich hoffe für sie, dass die Übelkeit nur temporär ist.

Der Platz gegenüber ist nun frei und plötzlich möchte sich jemand Helles dorthin setzen. Zu meiner Überraschung erkenne ich, dass es Philipp ist, wieder in seiner perlweißen-elfenbeinfarbenen Mischung und ich springe fast schon auf, um ihn reflexartig am Arm festzuhalten und daran zu hindern, sich auf den vermutlich kontaminierten Platz zu setzen.

„Ricardo," sagt er überrascht und schlagartig ist das Aschgrau und Magenta zurück. Ein moosgrüner, dicklicher Mann sieht seine Chance und zwängt sich auf den nun freien Platz und als ich mich umdrehe, sehe ich, dass eine stahlblaue, junge Frau sich meinen Platz ergattert hat. Philipp und ich stehen mitten in dem vollen U-Bahn-Wagen und müssen nun wohl oder übel hier verweilen.

„Guten Morgen," presse ich hervor und schwanke, als der Zug plötzlich anfährt. Dieses Mal sind Philipps Reflexe schneller, denn er legt instinktiv seine Hand in meinen Rücken und zieht mich leicht an sich, damit ich nicht lang hinschlage. So schnell er mich gepackt hat, so schnell lässt er mich wieder los und deutet nach oben an die Stange, an der er sich mit seiner anderen Hand festhält.

„Festhalten," murmelt er und weicht meinem Blick aus, das Aschgrau nun vollkommen präsent und seine Wangen leicht gerötet.
„Danke," flüstere ich verlegen und umfasse die Stange ebenfalls.

Philipps Blick schweift durch den Wagen und ich werde das Gefühl nicht los, dass er mich absichtlich nicht ansieht. Ich hingegen kann gerade nicht aufhören, ihn anzustarren, obwohl ich an seinem Aschgrau erkennen kann, dass er sich furchtbar unwohl fühlt und schämt.

„Danke für die Fotos übrigens," sage ich leise und sein Blick trifft nun doch auf mich. Wir stehen so nah beieinander, dass ich in seinen stahlblauen Augen feine, goldene Flecken sehen kann. Seine Wimpern sind schwarz und von Natur aus so elegant geschwungen, dass ihn so manche Frau darum beneiden wird und an seiner linken Augenbraue hat er eine winzige Narbe, von der ich mich frage, woher sie wohl stammt.

Und da ist es wieder, das unbändige Verlangen, ihn zu zeichnen. Egal, ob auf schwarzem oder weißem Papier. Aber diese Wimpern, die goldenen Flecken und diese kleine Narbe halten mich so gefangen, dass ich sie unbedingt zu Papier bringen möchte.

Farbenspiel | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt