Regenbogen

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Gefühlt verbringe ich mehrere Wochen auf der Matratze in Ellas Zimmer, obwohl es wohl nicht ganz so lange ist. Ich sehe sie sich morgens für den Kindergarten fertig machen, sie bringt mir meist eine Schüssel Cornflakes bevor sie geht, und nachmittags sitzt sie neben mir und malt oder kuschelt sich an mich und erzählt mir von ihrem Tag.

Maddie kommt ab und zu herein, um nach mir zu sehen und ich erinnere mich, dass sie irgendwann zu mir sagte, dass die Polizei Dean zum Verhör mitgenommen hat, sie anhand der Blutspuren aber sicher sind, dass er es war, der Philipps Haus so zerstört hat.

Ron war so freundlich, auch meine restlichen Sachen aus der Wohnung zu holen und all mein Hab und Gut lagert nun im Kellerabteil der Flemmings. Ich weiß, ich müsste mich nach einer neuen, eigenen Wohnung umsehen, aber ich bin kaum im Stande mich zu bewegen.

Maddie hat mich in der Agentur krankgemeldet und ich bringe es nicht einmal fertig zu fragen, wie das Keppler-Projekt läuft. Sie berichtet nicht davon und so nehme ich an, dass der Kunde zufrieden ist, vielleicht hat er auch seinen Willen bekommen.. ich kann darüber nicht nachdenken.

„Ricardo!" sagt Ella streng und ihre kleinen Augenbrauen sind eng zusammengezogen.
„Ja, Liebes?" mache ich schwach und tätschele ihre Hand. Könnte ich Farben sehen, wäre sie wohl genervtes Moosgrün oder sogar wütendes Grauoliv. Doch Ella ist schwarz-weiß. So wie alles, was ich sehe. Ich sehe keine Farben mehr.

„Ich will in den Park," erklärt sie.
„Du, mir ist nicht so nach-" beginne ich, doch sie hält mir mit ihrer kleinen Hand den Mund zu.
„Nein," unterbricht sie mich. „Ich habe fast alles gemalt, was dich fröhlich machen kann und es funktioniert nicht. Wir müssen raus."
Ich seufze. „Wenn du sagst, fast, bleibt doch noch was übrig, meine Süße. Warum malst du nicht das?"

Ella weicht meinem Blick aus. „Ich will mit dir in den Park. Biiiitte!" quengelt sie. „Für mich. Zu meinem Geburtstag!"
„Du hast gar nicht Geburtstag."
„Aber irgendwann schon."
Sie sieht mich so flehend an, dass ich schließlich müde nicke und langsam aufstehe.

„Mom!" schreit sie und rennt aus dem Zimmer. „Ricardo und ich gehen in den Park!"

•••

Ella und ich sitzen Hand in Hand in der U-Bahn und die Kleine ist ganz hibbelig neben mir. Viele Leute sind in den Feierabend unterwegs und Ella starrt die Menschen ungeniert an. Ich weiß, dass sie vieles wahrnimmt, auch wenn die Menschen für mich alle farblos oder nur schwarz-weiß sind.

Ich greife in meinen Rucksack und reiche ihr meinen Skizzenblock und einen Stift. Ich sehe nicht, welche Farbe er hat, es ist mir auch egal.
„Danke," flüstert sie leise und beginnt zu malen.
„Nicht so starren," flüstere ich zurück. „Das mögen sie nicht."
„Hmm," macht sie gedankenverloren und streckt konzentriert ihre Zunge zwischen den Lippen hervor.

Ich beobachte sie still, wie sie den älteren Herrn uns gegenüber zeichnet, der anhand von Ellas Zeichnung offenbar darüber nachzudenken scheint, was er heute Abend kochen soll. Ella malt weiter, während sie den Mann immer heimlich anschaut, der aber ganz in Gedanken ist und aus dem Augenwinkel sehe ich eine Farbe.

Elfenbein.

Ich drehe meinen Kopf in die Richtung und sehe einen Hinterkopf mit schwarzen Wuschelhaaren. Mein Herz rast wie verrückt und gleichzeitig scheint sich ein enges Korsett um meinen Oberkörper zu legen und mir die Luft abzuschnüren.

„Phil!" ruft Ella begeistert und bevor ich sie stoppen kann, springt sie auf, rennt zu seinem Platz und fällt ihm um den Hals.
Sein Elfenbein wandelt sich in überraschtes Himmelblau und dann trifft sein Blick mich.

Aus Himmelblau wird Basaltgrau, Leuchtgrün, Magenta, Lichtgrün und Lavendel. Philipp ist praktisch von einem Regenbogen umgeben und ich bin wie erstarrt.
Zögerlich steht er auf und lässt sich von Ella an der Hand zu mir ziehen.
„Guck mal, Ricardo!" ruft Ella begeistert und leuchtet Sonnengelb. „Phil ist hier. Sind sie wieder da?"

„Wer ist wieder da?" fragt Philipp sie interessiert, offenbar weiß er nicht, was er zu mir sagen soll.
„Die Farben," erklärt Ella ihm und schubst ihn auf den Platz neben mir. Ich rücke ein wenig zur Seite, als unsere Oberschenkel sich streifen und weiche seinem neugierigen Blick aus. Stattdessen strafe ich Ella mit einem Halt-die-Klappe-Blick, den das kleine Biest gekonnt ignoriert und auf Philipps Schoß klettert.

„Ricardo war sehr traurig in letzter Zeit und hat keine Farben mehr gesehen," plaudert sie frei von der Leber weg. „Obwohl ich ihm so viele tolle Sachen gemalt habe, die ihn glücklich machen sollten. Eiscreme, Hüpfburgen, dicke Kaninchen.."
„Dicke Kaninchen?" fragt er interessiert. „Hmm.. hast du es mit Motten versucht?"
„Motten?" quiekt Ella angeekelt. „Ricardo hasst Motten!"

Philipp lacht und das Geräusch zieht das Korsett um meine Brust noch enger.
„Das stimmt," grinst er sie an. „Aber er mag Sterne."
„Oh, Sterne hab ich vergessen," überlegt Ella und nimmt schnell den Skizzenblock.
Philipp sieht mich von der Seite an und als ich seinen Blick erwidere, lächelt er schief.

Die Durchsage des Zuges lässt verlauten, dass wir an unserer Haltestelle sind und Ella springt aufgeregt von Philipps Schoß. „Kommst du mit, Phil?" fragt sie ihn und ich schüttele hoffentlich unbemerkt meinen Kopf in ihre Richtung. Sie soll ihn nicht-
„Wohin denn?"
„Wir wollten in den Park. Ich kann klettern und schaukeln und ihr könnt über Erwachsenenkram reden," schlägt die Kleine vor.

„Vielleicht will ich ja auch klettern," lacht Philipp und Ella kichert vergnügt.
„Das will ich sehen bei den langen Beinen," quietscht sie und zieht ihn zum Ausgang. Verdattert folge ich beiden mit meinem Rucksack in der Hand.

•••

„Du hättest auch einfach sagen können, du hast keine Zeit," sage ich leise, als ich neben Philipp auf einer Bank in der Nähe des Spielplatzes sitze. Ella klettert wie eine kleine Spinne fröhlich durch Netze, die dort gespannt sind und ich behalte sie im Blick. Ich kann ihn nicht ansehen mit seinen ganzen Farben, es ist ungewohnt und blendet. Ich bin überfordert.

„Habe ich aber," sagt er leise.
Ich atme schwer ein und kämpfe gegen die verräterischen Tränen an, die sich schon wieder ihren Weg zu meinen Augenwinkeln bahnen.
„Ricardo, es tut mir-"
„Bitte nicht, okay?" unterbreche ich ihn mit erstickter Stimme. „Bitte nicht."

Philipp greift meine Hände und sagt energisch: „Doch, Ricardo. Ich muss es erklären. Ich dachte, du gehst zu ihm zurück. Ich dachte, ich wäre nur ein.. ein Ausrutscher gewesen. Ich weiß, das war gemein und dumm von mir und Madeleine rief mich an und hat mir erzählt, was geschehen ist und dass es dir so schlecht geht. Ricardo, es tut mir so unendlich leid."

Natürlich laufen die dummen Tränen jetzt über mein Gesicht und ich schniefe hilflos.
„Ich dachte, ich wäre dir egal," flüstere ich. „Für mich war plötzlich alles.. unsichtbar."
Philipp nimmt mein Gesicht in seine großen Hände und zwingt mich, ihn anzusehen.

„Du bist mir alles andere als egal, Ricardo," wispert er und legt seine Stirn an meine. „Ich bin unsterblich in dich verliebt und ich wünsche mir so sehr, dass du mir verzeihst."

„Küssen! Küssen! Küssen!" schreit plötzlich Ella von der Spitze des Klettergerüsts und feuert uns an. Zwischen den ganzen Tränen muss ich trotzdem lachen und Philipp sieht mich fragend an.
„Die Kleine hat einfach immer Recht," sage ich und als seine weichen, warmen Lippen endlich auf meine treffen, explodieren wieder Regenbogen in unzähligen Farben hinter meinen Lidern.

Farbenspiel | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt