Ich genieße die Mittagspause mit Philipp sehr. Er erzählt noch ein wenig von seinem kleinen Bruder Luca, mit dem er wie mit seiner Schwester ein sehr enges Verhältnis zu haben scheint. Am meisten mag ich, dass seine Färbung, je länger er über die beiden spricht, von Aschgrau zu Korallenrot wechselt.
„Was ist mit dir, Ricardo?" fragt er interessiert, als wir zurück zur Agentur gehen.
„Was soll mit mir sein?" frage ich zurück und bin in Gedanken schon wieder an meinem Skizzenblock, dieses Mal schwirren mir allerdings keine Hüte im Kopf herum, sondern ich überlege krampfhaft, ob ich einen korallenroten Stift habe.„Hast du Geschwister?" will er wissen.
„Hm?" mache ich. „Nein, Einzelkind."
„Oh," kommt es von ihm und er bleibt unbeholfen stehen, denn wir sind bereits wieder vor meinem Büro angekommen.
„Mein Dad verließ uns als ich vier war," führe ich aus. „Ich schätze meine Mom wollte danach nie wieder jemanden in unsere Familie lassen."Philipp betrachtet mich nachdenklich und ich sehe, dass das Essigrot langsam zurückkommt. Macht er sich Sorgen um mich?
„Da seid ihr ja wieder," unterbricht uns Maddie. „Ricardo, ich habe hier noch die Kopien für dich."
Sie kommt auf uns zu und reicht mir ein paar weiße Blätter.„Was für Kopien?" wundere ich mich und drehe den Stapel herum. Oh. Die Bilder, die Philipp von mir gemacht hat.
Verwundert schaut Philipp auf die Kopien.
„Wieso brauchst du Kopien von den Fotos?" erkundigt er sich und ich weiß nicht, warum ich gerade rot werde.
„Ich brauche die Originale für die Präsentation," mischt Maddie sich ein. „Ricardo wollte sie erst gar nicht herausrücken."Ich schicke ihr mit meinem Blick Blitze, doch sie scheint es vollkommen zu ignorieren. Philipp zuckt mit den Schultern. „Ich kann dir auch Abzüge machen," bietet er an.
„Nein," pampe ich, mehr in Maddies Richtung. „So wichtig sind die Bilder auch gar nicht."Schüchtern wie er ist, wird Philipp schlagartig zu einer Mischung aus Aschgrau und Beigerot. Na super. Jetzt bereut er sein Angebot auch noch.
Ich klemme mir die Blätter unter den Arm und stapfe in mein Büro.
„Komm, Phil," kichert Maddie. „Wir schauen mal, ob wir in meiner Schublade noch ein Snickers für Ricardo finden. Dann ist er vielleicht nicht mehr ganz so miesepetrig."Ich höre, wie sie sich von meiner Bürotür entfernen und trete wütend gegen meinen Papierkorb. Spinnt sie? Warum muss sie mich so vorführen?
Kurz darauf öffnet sich meine Tür und Maddie kommt ungefragt herein. Sie wirft mir ein Snickers auf den Schreibtisch und sieht mich mit in die Hüfte gestemmten Armen an. Von ihrem üblichen Grasgrün ist nichts zu sehen, stattdessen ist sie von einem satten Grauoliv geprägt. Maddie ist sauer.
„Kannst du mir mal sagen, was dein Problem ist?" zischt sie und ich sehe sie verwirrt an.
Mein Problem? Sie führt mich doch vor!
„Wenn du mir deins verrätst?" schnappe ich zurück. Ihre Augenbrauen heben sich fast bis zur Decke. „Mein Problem? Ich habe kein Problem, Ricardo!" schreit sie nun fast. „Du bist doch hier schon seit Tagen die Oberzicke!"
„Das stimmt doch überhaupt nicht!" meckere ich zurück.„Ach nein? Aber erst die Bilder nicht rausrücken und dann so tun, als wären sie nicht so wichtig?" motzt sie. „Auf meinem Schreibtisch rumwühlen und pampige Kommentare abgeben, wenn ich einen Witz mache, dass du und Phil euch heimlich getroffen habt?"
„Kann ich nicht auch mal schlechte Laune haben?" versuche ich mich zu verteidigen.
„Kannst du, Ricardo," faucht sie. „Aber behalt sie für dich. Reiß dich zusammen, ich habe keine Lust, dass dieser nette Mann den Job nicht annimmt, nur weil du hier die Diva spielen musst!"Ohne mich widersprechen zu lassen, rauscht Maddie aus meinem Büro und knallt die Tür hinter sich zu. Verdattert starre ich ihr nach. Wieso sollte er den Job wegen mir nicht annehmen? Ich habe doch gar nichts mit dem Job zu tun. Hat er zu ihr etwas darüber gesagt?
Grübelnd verbringe ich den Rest meines Arbeitstages an meinem Schreibtisch. Als ich schließlich gehe, ist das Licht in Maddies Büro bereits aus. Kein Abschied, weder von ihr noch von Philipp.
Um meinen Tag noch abzurunden, bekomme ich auf dem Weg zur U-Bahn eine Nachricht von Dean.
Dean
Hey, absolutes Chaos hier.
Amy hat sich am
Wochenende in die Hand
geschnitten, ich muss ihren
Spätdienst noch mitmachen.
Tut mir leid.Schon okay, ich bin eh
erledigt.Brummig stecke ich mein Handy wieder ein. So viel zur Erholung vom Wochenende.
In der U-Bahn überlege ich noch immer, warum ich so patzig zu Maddie war. Ich weiß es wirklich nicht, aber es tut mir dennoch leid, denn wir streiten uns nur selten. Ich ziehe mein Telefon wieder hervor und schreibe ihr eine Nachricht.
Maddie
Tut mir leid wegen
meiner Miesepetrigkeit.Sollte es auch.
Ich gelobe Besserung.
Danke.
Ich wollte dich nicht
anschreien.Echt? Das klang aber
anders.Der Keppler-Pitch
ist mir wirklich wichtig.Ich weiß, Liebes. Hat er
was gesagt?Wer?
Phili-
Ich starre auf mein Display und lösche das Wort wieder.
Phil.
Nein.
Warum glaubst du dann,
dass er den Job wegen mir
nicht annimmt?Hast du mitbekommen, wie
schüchtern der ist? Gott, er
hat eine Gabe für Fotografie,
aber ich habe noch nie jemand
so Unsicheren gesehen. Und in
deiner Nähe scheint das bei
ihm noch schlimmer zu sein.Bin ich so furchteinflößend?
Ich denke ja. Darum rennen
immer alle schreiend weg.Ich liebe dich auch >:(
Sei einfach lieb zu ihm.
Lieb ist mein zweiter
Vorname.Ist bei dir sonst alles okay,
Ricardo?Warum fragst du?
Wegen der Miesepetrigkeit.
Ist mit Dean alles okay?Dem geht's gut.
Und euch?
Alles super. Wir waren
am Wochenende in den
Hamptons.Die feinen Herrschaften.
Wer kann, der kann.
Nein, alles gut.Okay, dann bis morgen.
Bis morgen.
Erleichtert steige ich an meiner Haltestelle aus. Ich mag es nicht, mit jemandem im Groll auseinander zu gehen und schon gar nicht mit jemandem, der mir nahesteht.
Morgen ist ein neuer Tag und Ricardo lässt den Miesepeter zu Hause, beschließe ich.

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Farbenspiel | ✓
Genç KurguRicardo Cook hat eine besondere Gabe: er kann recht passabel zeichnen und er kann die Farben anderer Menschen sehen. Doch nicht alle Menschen haben die gleichen Farben und manche sind ein wahrer Regenbogen. ------------ ❝ Verzweifelt suche ich in me...