Alarmrot

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Der Mann aus der U-Bahn, der in unzähligen unvollständigen Variationen auch auf meinem Skizzenblock zu sehen ist, sitzt auf dem Sofa in meinem Büro und hält einen Becher Milchkaffee in seinen großen Händen. Wieder überwiegt das Aschgrau und noch immer sehe ich einzelne Magentaflecken. Ich suche wie wild in den Dateien meines Notebooks nach den vergangenen Präsentationen und ärgere mich wieder einmal darüber, dass ich, ähnlich wie in meinem Kopf, nie wirklich Ordnung in meinem Computer halten kann.

"Kann sich nur um Stunden handeln," sage ich verlegen und klicke hilflos herum. Der Mann nickt nur und sieht sich weiterhin meinem Büro um. Es scheint ihm sichtlich unangenehm zu sein, hier zu sein.
"Wie heißen Sie eigentlich?" frage ich geistesabwesend, als ich mit einem lauten "Yes!" den gesuchten Ordner finde.
"Phil," sagt er leise und nippt an seinem Kaffee. Ein wenig cremefarbener Milchschaum bleibt an seiner Oberlippe haften und seine blassrosa Zunge leckt ihn ab.
"Nur Phil?"
"Entschuldigung," murmelt er und das Aschgrau nimmt zu. "Eigentlich Philipp, aber ich bevorzuge Phil."

Ich lächele ihn an. "Ich bin Ricardo. Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir uns nicht siezen? Ich fühle mich dann immer schrecklich alt."
Er grinst verlegen und nickt. "Geht mir genauso."
Ich starte den Beamer, der das Bild meines Notebooks an die Wand projiziert und drücke auf den Startknopf des Videos. "Vermutlich kotzt du nach dem Video Regenbogen," erkläre ich, denn genau das war damals die erste Reaktion des Kunden, nachdem ich meinen Entwurf präsentiert hatte.

Die Werbung ist für bunte, saure Kaubonbons, die alle unterschiedliche Farben haben. Für das Video und dessen Entwurf bin ich, so nannte es Maddie seinerzeit, vollkommen ausgerastet. Wochenlang entwarf ich kleine Ausschnitte mit immer wieder anderen Farben, die allesamt nacheinander abgespielt wurden. Peter riss nach meiner Präsentation die Augen auf und meinte, er könnte heute kein Auto mehr fahren, er fühle sich wie auf einem LSD-Trip.
Am Ende wurden die Farbsegmente, die meines Erachtens nach nicht allzu intensiv waren, verlängert und die Gesamtheit der Farbauswahl drastisch gekürzt.

Philipp starrt gebannt auf den Bildschirm und mit Freude beobachte ich, wie das Aschgrau einem hellen Sonnengelb weicht. Da ich weiß, dass das Video noch etwa zwei Minuten dauern wird, ziehe ich heimlich meinen Skizzenblock und meine Stifterolle hervor und beginne, ihn zu zeichnen. Seine Gesichtszüge sind begeistert und er wirkt vollkommen anders als in dem perlweißen Ton. Ich kann seine Augen nur von der Seite sehen, versuche aber dennoch, sie so gut es geht, zu erfassen.

"Wow," macht er, nachdem das Video zu Ende ist. "Das war der absolute Wahnsinn." Seine Augen strahlen begeistert und ich kann nicht anders, als stolz zu grinsen. Ich glaube, er ist der Erste, der meine Kreation tatsächlich so mag, wie sie ursprünglich gedacht war. "Ich habe nicht das Bedürfnis mich zu übergeben, aber ich fühle mich dennoch sehr.. erfüllt mit Farbe," lacht er. Ich mag sein Lachen und beobachte, wie das Sonnengelb bei dem Geräusch heller aufleuchtet, ähnlich wie bei Ella, wenn sie lacht.

Sein Blick fällt auf den Stift in seiner Hand und sofort kehren das Aschgrau und das Magenta zurück. Schnell klappe ich den Block zu.
„Äh.. darf ich was fragen?" will er wissen.
Ich ahne, was jetzt kommt und ich nicke vorsichtig. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, denn ich befürchte, dass er gleich wieder die Flucht ergreifen wird.
"Wen hast du da gemalt? Auf deinem Block?"
Verwirrt runzele ich die Stirn. Lag ich so daneben mit meinen Skizzen?

Normalerweise erkennen Leute sich selbst immer sofort, wenn sie meine Zeichnungen von sich sehen. Oft habe ich vermutet, dass es daran liegt, dass sie unterbewusst ihre Farbe wahrnehmen. Besonders bei Dean fällt mir das immer auf. Anfangs habe ich Dean fast jeden Tag gemalt und er liebte es. Jedes Bild war grasgrün. Ich habe es ihm nie gesagt, aber irgendwann hat mein Interesse daran, ihn zu zeichnen, einfach nachgelassen, da jedes Bild dem anderen glich.

Ich blättere verwirrt durch den Block und finde, man kann Philipp ganz eindeutig darauf erkennen. "Ist das schwer zu erkennen?" frage ich.
"Naja, es scheint ein und dieselbe Person zu sein und wenn man nach den Haaren geht, könnten es fast meine sein," überlegt er laut. "Aber warum solltest du mich malen?"
"Hmm," mache ich. "Das ist ein bisschen schwer zu erklären."

Erwartungsvoll schaut er mich an und ich hole tief Luft. Bevor ich beginne, überlege ich, wie viel ich ihm zumuten kann, ohne dass er gleich in der Irrenanstalt anruft oder einen Exorzisten konsultiert.
„Ich zeichne gern," erkläre ich ihm. „Als Kind haben mich Menschen schon immer fasziniert und darum zeichne ich am liebsten Menschen."

„Hm," macht er verständnisvoll. „So geht es mir mit dem Fotografieren. Magst du es auch am liebsten, wenn sie es gar nicht mitbekommen?"
„Ja," lächele ich. „Genau das. Dann ist alles ruhiger."
„Und unverfälscht."
„Genau!" Begeistert beobachte ich ihn.
„Und.. ist der Mann auf den Bildern ein Freund von dir?" will er wissen.

Überrascht schaue ich ihn an. Er hat wirklich keine Ahnung.
„Ähm.. nein, ich zeichne tatsächlich am liebsten Menschen, die ich gar nicht kenne," führe ich weiter aus. „Zumal die in meinem Umfeld langsam auch genervt davon sind."
Er lacht leise und nickt. Er scheint ähnliche Erfahrungen zu haben.

„Also siehst du diesen Mann öfter? Der ganze Block ist voll," sagt er. „Ich wollte nicht in deinen Sachen wühlen, aber ich muss zugeben, dass ich neugierig war."
Das Aschgrau hat wieder die Oberhand, nur ein paar Magentaflecken sind noch da. Er schämt sich.
„Das bist tatsächlich du," gebe ich leise zu. „Tut mir leid, wenn ich dich offenbar nicht gut getroffen habe."

Philipp reißt überrascht seine blauen Augen auf und seine Wangen färben sich hellrosa. „W-Wieso malst du mich?"
Seine Farbe wechselt von aschgrau zu einem regelrecht lauten Alarmrot.
Ich zucke hilflos mit den Schultern. „Du fielst mir einfach auf. Hör' zu, ich wollte dir nicht-"

Er steht abrupt auf und verschüttet dabei fast seinen Milchkaffee. „Ich... muss dann... danke für den Kaffee," murmelt er, stellt den Becher auf dem Bild, das Ella von mir und seinem Geister-Ich gemalt hat, auf meinem Schreibtisch ab und flüchtet praktisch aus meinem Büro.

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