Aschgrau

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Unschlüssig stehe ich herum und starre ihn an. Vorbei ist es mit der Ruhe in meinem Kopf. Das Perlweiß von heute Morgen ist durchzogen von grasgrünen Fäden und ich betrachte ihn fasziniert. Grasgrün kenne ich, allerdings nicht in dieser Form.

Der Mann dreht sich um und will wohl zum nächsten Bild, entdeckt mich allerdings dabei, wie ich ihn unverhohlen anstarre. Augenblicklich verwandelt sich das Perlweiß in Aschgrau und auch die grasgrünen Fäden verblassen. Er weicht meinem Blick aus und eilt in den Raum nebenan.

Was war das? Ist es ihm peinlich, dass ich ihn angestarrt habe? Das ist mir lange nicht passiert. In aller Regel beobachte ich recht unauffällig. Zu gern würde ich dem Mann folgen, aber ich befürchte, er hält mich für einen Freak. Und irgendwie bin ich das ja auch.

Ich stelle mich selbst vor die Seerosen und versuche, in das Bild einzutauchen. Natürlich gelingt mir das kein bisschen, denn ich frage mich unaufhörlich, ob er noch nebenan ist, ob er das Museum verlassen hat, was es mit dem Perlweiß auf sich hat. Während ich in meinem Rucksack nach meinem Skizzenblock wühle, gehe ich nach oben in die fünfte Etage.

Vor Van Goghs Sternennacht steht eine Sitzbank, auf der ich es mir bequem mache und meine Stifterolle neben mir ausbreite. Aschgrau habe ich zum Glück, nur mein Motiv ist buchstäblich vor mir geflüchtet. Also begnüge ich mich damit, eine Skizze von seinen chaotischen Haaren und seinen Gesichtszügen zu machen. Mit den Augen bin ich nicht zufrieden, weil ich bislang keine Gelegenheit hatte, sie ausgiebig zu beobachten, aber zumindest wird es in meinem Kopf etwas ruhiger.

Als ich aufschaue, steht er plötzlich da und schaut auf das Bild. Sein Rücken ist mir zugewandt, aber ich erkenne, dass das Perlweiß wieder da ist, allerdings durchmischt mit Aschgrau. Und nun? Schwarzes Papier oder Weißes? Frustriert wühle ich in meinem Rucksack, denn nun ist Eile geboten.

Ich beginne auf dem weißen Block, da das Aschgrau überwiegt und muss dann mit großer Ernüchterung feststellen, dass mein neuer, perlweißer Stift bei Weitem nicht so gut deckt, wie ich es gern hätte. Als ich wieder aufschaue, ist der Mann weg.
Kann dieser Tag noch frustrierender werden?

•••

An den folgenden zwei Tagen wächst mein Unmut immer weiter an. In der U-Bahn sehe ich nirgends perlweiß, Elfenbein oder einen anderen Weißton. Alle sind moosgrün oder stahlgrau, die schlammbraune Phase scheint vorbei zu sein. Der mysteriöse Mann ist nicht zu sehen.

Heute ist Freitag und ich bin sogar schon zwei Haltestellen vor meinem Ziel aufgestanden und durch den Zug gegangen. Ohne Erfolg. Stattdessen skizziere ich jeden Morgen mit meinem perlweißen Stift in meinem schwarzen Skizzenblock, doch es hilft nichts.

Dean arbeitet jeden Abend so lange, dass ich bereits schlafe, wenn er sich leise neben mich ins Bett legt. Morgens, wenn ich aufstehe, ist er noch zu müde und sein sonst so klares Grasgrün ist von stahlblauen Flecken getrübt, also lasse ich ihn schlafen.

Maddie kommt in mein Büro und stellt mir meinen Kaffee hin, bevor sie sich auf das gemütliche Sofa in der Ecke setzt. Normalerweise ist Maddie eine Mischung aus goldgelb und grasgrün, doch heute sehe ich auch essigrote Flecken.

„Was bedrückt dich?" frage ich sie und lege mein Tablet mit den Skizzen von Fuchur und dem Zahnpflegelutscher zur Seite. Maddie seufzt und trinkt einen Schluck von ihrem eigenen Kaffee. „Ich mache mir Sorgen um Ella."
„Was ist los mit meinem kleinen Sonnenschein?" erkundige ich mich.

Maddies fünfjährige Tochter Ella ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Sonnenschein und ich liebe die Kleine abgöttisch. Schon als sie auf die Welt kam, strahlte sie in so einem klaren Sonnengelb, dass es mich fast blendete. Ich bin sicher, dieses Kind noch nie traurig erlebt zu haben.

„Sie hat Ärger mit einer der Erzieherinnen," murmelt Maddie. „Du kennst mein Kind, sie ist wie du. Am liebsten malt sie den ganzen Tag. Gib Ella einen Stift und ein Blatt Papier und sie ist glücklich. Nur fing diese Frau an, ihr zu erzählen, dass sie die Dinge schon so malen soll, wie sie wirklich sind und nicht irgendwie."

Besorgt mustere ich meine Freundin. Ich war derjenige, der Ella ihre ersten Stifte geschenkt hat und jedes Mal, wenn die Kleine und ich uns sehen, malen wir. Im Gegensatz zu mir hat Ella keine Vorliebe für besondere Farben, vielmehr malt sie Dinge, die sie sieht, meist nur mit einem einzigen Stift und dichtet Sachen hinzu. Ich bin mir sicher, dass sie sich diese Sachen nicht ausdenkt, sondern vielmehr auf unterbewusste Art wahrnimmt.

Ich runzele die Stirn, denn ähnliche Erfahrungen musste auch ich als Kind machen.
„Zur Zeit will sie gar nicht malen und ist dabei so aufbrausend und traurig, Ricardo," beklagt sich Maddie. „Ich weiß nicht, was ich noch machen soll."

„Soll ich mal mit ihr reden? Wenn jemand etwas vom Malen versteht, dann ich," schlage ich vor.
„Darum bin ich eigentlich auch hier," murmelt Maddie verlegen.
„Seid ihr morgen zu Hause? Dann komme ich nachmittags vorbei."
„Und was ist mit dir und Dean? Ihr habt euch die ganze Woche nicht gesehen," wendet meine liebste Kollegin ein.

Ich winke ab. „Der denkt gerade ohnehin nur an seine neue Speisekarte, ich bin ganz froh wenn mir dieses Essensgerede erspart bleibt," lache ich.
Als hätten ihm die Ohren geklingelt, bekomme ich eine Nachricht von Dean.

Dean

Hey, bitte sei nicht böse,
aber heute schaffe ich es
wohl auch nicht früher.

Soll ich sonst im
Restaurant vorbeikommen?
Dann sehen wir uns
zumindest dort.

Das ist doch total langweilig
für dich, Ricardo.

Aber ich bekomme was
leckeres zu essen und
außerdem mag ich den
Koch ;)

Okay. Dann schreib mir,
wann du losfährst. Was
hättest du denn gern?

Soll ich jetzt schon
bestellen?

Wenn du magst?

Ich lasse mich auch gern
überraschen.

Dann lasse ich mir was
einfallen.

Bis später.

„Dean?" fragt Maddie und mir fällt auf, dass ihre essigroten Flecken kleiner geworden sind.
„Ja," seufze ich. „Wird wieder spät."
„Meinst du, da ist alles okay bei ihm?"
Fragend sehe ich sie an. „Ja, er geht nur total darin auf. Wie sollte ich ihn da bremsen?"

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