Elfenbein

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Schlammbraun. Ich kann mich nicht erinnern, die Farbe schon oft benutzt zu haben, aber heute scheint ein schlammbrauner Tag zu sein. Vielleicht geht eine Magen-Darm-Welle herum.
Ich schaue auf und werfe einen kurzen Blick auf die Frau Mitte fünfzig, die mir gegenüber sitzt und in ihre ihrer Rezeptzeitschrift liest.

Der Stift fliegt über das Papier meines Skizzenbuchs auf meinem Schoß und schon nach zwei Haltestellen ist die schlammbraune Frau fertig.

Ich schließe mein Buch und verstaue es neben meiner Stoffrolle, in der meine Stifte fein säuberlich einsortiert sind, in meinem Rucksack. Wenn ich mich so umsehe, entdecke ich noch mindestens drei weitere schlammbraune Menschen, aber ich habe es mir als persönliches Limit gesetzt, nur eine Person pro Tag zu zeichnen und danach die Farben auszublenden oder zumindest zu ignorieren.

Die Frau mit der Rezeptzeitschrift reibt sich unbewusst über den geblähten Bauch unter ihrem Cardigan und ich bin mir sicher, dass es Magen-Darm sein wird. Innerlich ermahne ich mich, heute so wenig Dinge und Personen wie möglich zu berühren.

Ich lasse meinen Blick schweifen und entdecke noch ein paar moosgrüne, stahlgraue und einige eisblaue Menschen. Weiter hinten strahlt etwas Sonnengelbes und am Geplapper, das aus der Richtung zu mir dringt, erkenne ich, dass es ein Kind sein muss.
Still lächele ich vor mich hin und stehe dann auf, um mich vor eine der U-Bahntüren zu stellen, denn die nächste Haltestelle ist meine.

Aus dem Augenwinkel sehe ich etwas Helles schimmern und als ich in die Richtung blicke, sitzt dort ein elfenbeinfarbener Mann, etwa in meinem Alter.

Natürlich ist er nicht für alle Menschen elfenbeinfarben, genauso wie die Rezeptzeitschriftenfrau für niemanden schlammbraun ist. Für mich allerdings schon.

Der Mann starrt mit leerem Blick aus dem Fenster, obwohl dort außer dem Dunkel des Tunnels nichts zu erkennen ist. Ich frage mich, was Elfenbein bedeutet, denn ich kann mich nicht erinnern, schon einmal jemanden mit dieser Farbe gesehen zu haben. Ich weiß nicht einmal, ob ich Elfenbein in meiner Farbpalette habe und wie ich es am besten auf hellem Papier skizziere.

All diese Gedanken sausen durch meinen Kopf und erst im letzten Moment bemerke ich, dass der Zug bereits steht und die Menschen hinter mir drängeln, da sie wie ich den Wagen verlassen wollen. Ich stolpere auf den Bahnsteig und starre zurück in den Zug zu dem elfenbeinfarbenen Mann, der mich nicht wahrzunehmen scheint.

Langsam setzt sich der Zug in Bewegung und er verschwindet aus meinem Blickfeld, während weiter schlammbraune und stahlgraue Menschen an mir vorbeieilen.

Auf dem Weg ins Büro denke ich die ganze Zeit darüber nach, wie ich das Elfenbein zu Papier bringen kann und halte sogar kurz in einem Hauseingang, um in meinen Stiften nachzusehen. Gut, ich habe einen elfenbeinfarbenen Stift, aber dennoch muss ich auf dem Weg nach Hause in meinem liebsten Kreativladen vorbeigehen, denn das Papier meines Skizzenbuches hat fast den gleichen Farbton und würde so eine Zeichnung unmöglich machen.

„Guten Morgen, Ricardo," begrüßt mich meine Freundin und Kollegin Maddie, als ich die Agentur betrete. Wie jeden Morgen finde ich einen großen Becher Kaffee mit Haselnussmilch auf meinem Schreibtisch vor.
„Morgen," murmele ich geistesabwesend und lasse den Inhalt meines Rucksacks auf meinen Schreibtisch purzeln.

„Hattest du wieder eine Idee?" will Maddie wissen und betrachtet mich eingehend, während ich durch meine Schubladen wühle und etwas suche.
„Nein, nicht wirklich," überlege ich und finde schließlich das, wonach ich suche. Triumphierend ziehe ich zwei schwarze Skizzenblätter hervor und lege sie vor mir auf dem Schreibtisch ab.

„Du siehst aber aus wie ein Ricardo, der eine Idee hat," widerspricht sie mir.
„War noch was, Maddie?" frage ich etwas genervt. Sie hebt beschwichtigend die Hände. „Nein, bin schon weg. Denkst du an den Pitch mit Cooper?"
„Ja, ja," winke ich ab und starre konzentriert auf die schwarzen Blätter vor mir. „Alles fertig, ich werde da sein."

Wie Maddie das Büro verlässt, bekomme ich gar nicht mehr mit, denn ich versuche, mit meinem elfenbeinfarbenen Stift die Fetzen aus meiner Erinnerung zu Papier zu bringen.

Zwei Stunden später wandert auch das zweite Blatt zerknüllt in meinem Papierkorb und ich reibe meine Schläfen. Dieses Gefühl hatte ich lange nicht mehr. Es macht mich wahnsinnig, es nicht aus meinem Kopf zu malen.

„Kommst du, Ricardo?" fragt Maddie, die wieder den Kopf zur Tür hereinsteckt? Ich nicke und nehme die Mappe mit den Skizzen, die ich für den Termin vorbereitet habe und folge ihr in den Konferenzraum.

An den U-förmig aufgestellten Tischen sitzen bereits unser Abteilungsleiter und zwei Herren, die ich nicht persönlich kenne, von denen ich jedoch weiß, dass der Ältere der beiden Frank Cooper ist. Professionell gehe ich auf die Männer zu und begrüße zuerst den großen Kunden, den wir heute hoffentlich von unserer Agentur überzeugen können.

„Mr. Cooper," sage ich höflich und schüttele seine Hand mit festem Druck. „Ricardo Cook, ich darf Ihnen heute meine Ideen präsentieren."
„Freut mich sehr, Mr. Cook," grüßt mich Mr. Cooper und erwidert meinen Händedruck. „Das ist mein Sohn und Mitinhaber, Justin," stellt er den hageren, jungen Mann neben sich vor.

Ich schüttele auch dessen Hand, die sich anfühlt wie ein kalter Fisch und begrüße ihn freundlich.

Die Präsentation ist auf die Werbekampagne des neuen Produkts der Coopers ausgerichtet. Ein Zahnpflegelutscher für Kinder.
Ich habe hierfür einen kleinen, grünen Drachen entworfen, der mit seiner langen, blauen Zunge den gesunden Lutscher vertilgt.

Die Coopers sehen nur mäßig begeistert aus und noch während des Vortrags habe ich plötzlich einen Einfall.
„Mr. Cooper," unterbreche ich mich selbst. „Sie scheinen nicht vollkommen überzeugt."
Der kahlköpfige Mann nickt und auch sein Sohn wiederholt die Geste, nachdem er seinen Vater fragend angesehen hat.

„Was halten Sie davon, den Drachen etwas zu modifizieren?"
„Woran haben Sie gedacht, Mr. Cook?" will Cooper wissen.
„Nun, kennen Sie Fuchur? Den Glücksdrachen aus der Unendlichen Geschichte von Michael Ende?" erfrage ich.

Cooper nickt wieder, nur sein Sohn zieht die Stirn in Falten. Maddie klatscht freudig und sagt begeistert: „Meine Tochter Ella liebt Fuchur. Wir lesen jeden Abend in dem Buch."
„Sie sollten das Buch unbedingt lesen, Mr. Cooper jr.," zwinkere ich dem jüngeren Mann zu.

„Fuchur ist ein Glücksdrache und muss ein neues Abenteuer zusammen mit Atreju, dem Indianerjungen bestehen," überlege ich laut und beginne bereits auf meinem Präsentationstablet, welches auch an den Beamer des Konferenzraums angeschlossen ist, zu zeichnen. „Und nach ihrem Erfolg fliegen sie zur kindlichen Kaiserin in den Elfenbeinturm und erhalten als Dank für ihre Heldentaten..."

„Den Zahnpflegelutscher!" beendet Cooper begeistert und ich zeige grinsend mit einem Fingerschnipsen auf ihn.

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