Fernblau

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Verwundert sieht Philipp mich an und bevor ich ihm antworten kann, kommt die sonnengelbe Kellnerin mit unseren Frühstücken. Ich nehme mir mein Croissant, nachdem sie die Teller vor uns abgestellt hat, und reiße ein Stück ab, bevor ich weiterspreche: „Es hat eine Weile gedauert bis ich die Bedeutung der meisten Farben kannte. Manche treten recht häufig auf. Sonnengelb für fröhlich, Stahlblau für müde oder auch Moosgrün für genervt.
Andere Farben sind seltener, wie Korallenrot, wenn jemand tiefe Liebe wie zum Beispiel für Familie empfindet, so wie du, wenn du von deiner Schwester oder deinem kleinen Bruder sprichst."

Philipp, der begonnen hat, ein Brötchen aufzuschneiden, schaut zu mir auf. „Das hast du gesehen?"
Ich nicke lächelnd und stecke mir ein Stück Croissant in den Mund. Nachdenkliches Fernblau erscheint in seiner Färbung und ich beobachte ihn weiter.

Zu gern würde ich ihn schon wieder zeichnen, aber er wird weitere Antworten verlangen und so begnüge ich mich damit, sein buntes Farbenspiel zu beobachten.
„Welche Farbe hast du?" platzt er plötzlich heraus und ich lache überrascht auf, weil ich damit gerade nicht gerechnet habe.

„Keine," erwidere ich wahrheitsgemäß und Philipp runzelt verwirrt die Stirn. „Nicht mal, wenn du in den Spiegel schaust?" Ich schüttele den Kopf. „Ich sehe bei mir selbst keine Farben, auch bei Tieren nicht."
„Oh," macht er fast ein wenig enttäuscht. „Heißt das, Tiere haben keine Gefühle?"

Seine Gedankengänge faszinieren mich fast noch mehr als seine Farben und ich stütze meinen Kopf auf meine Hand. „Nein, das heißt nur, dass ich sie nicht sehen kann. Warum, weiß ich nicht. Ich hatte aber auch nie einen starken Bezug zu Tieren."

„Welche Farbe magst du am liebsten?" fragt Philipp nun und beißt von seinem Brötchen ab.
„Keine Bestimmte," stelle ich ehrlich klar, während ich in meinem Kaffee rühre. „Ich bewerte die Farben nicht, aber mich faszinieren schon die, die ich nicht so häufig sehe, am meisten."

In Philipp sehe ich etwas Cyan und ich hebe fragend eine Augenbraue. Was kommt jetzt?
„Das heißt, du stehst auf mich wegen meiner Farbe?" fragt er und wieder einmal überrascht er mich mit einem einzigen Satz. Als ihm klar wird, was er da gerade gesagt hat, kommt das beschämte Aschgrau sofort wieder zum Vorschein und er beschäftigt sich ausgiebig mit dem weißen Mozzarella auf seinem Teller, um mich ja nicht ansehen zu müssen.

Vorsichtig greife ich seine Hand und wispere: „Es sind eher deine Farben. Plural. Es gibt nicht viele Menschen, die so schnell von nachdenklichem Fernblau zu frechem Cyan bis hin zu beschämtem Aschgrau wechseln."
„Tut.. tut mir leid," stammelt er und will seine Hand aus meinem Griff ziehen, doch das lasse ich nicht zu.

„Bitte nicht," sage ich leise. „Ich bin ein sehr ehrlicher Mensch, Philipp und ich schätze Ehrlichkeit auch bei anderen sehr. Also kannst du mir immer sagen, was du gerade denkst."
Er schaut nachdenklich auf unsere Hände, wieder in dieses intensive, fast schon grüblerische Fernblau gehüllt und nickt dann zustimmend.

„Noch mehr Fragen oder erzählst du mir auch ein dunkles Geheimnis von dir?" versuche ich, die Stimmung zu lockern. Allerdings gelingt mir das nur mäßig, denn Philipps Kopf schnellt fast schon ertappt nach oben. Oh, es gibt offenbar ein Geheimnis. Und ich nehme an, es hat etwas mit dem Elfenbein zu tun, denn genau das beginnt gerade wieder, ihn zu umgeben.

Zu groß ist mein Verlangen, ihn genau darauf anzusprechen, doch ich fürchte, ihn damit wieder in die Flucht zu schlagen, also stopfe ich mir schnell ein weiteres Stück von meinem Croissant in den Mund und nuschele: „Fragen sind okay."

Philipp lächelt mich dankbar an und trinkt einen Schluck von seinem Milchkaffee. „Wissen viele Menschen, dass du das kannst? Die Farben sehen, meine ich," möchte er wissen und ich beeile mich, den süßen Teig in meinem Mund herunterzuschlucken.

„Nein, nur wenige," gebe ich zu. „Meine Mutter wusste es natürlich, mein Psychologe und ansonsten noch Maddie. Und natürlich Ella, wobei ich ihr nie davon erzählen musste, sie wusste es von Anfang an, da sie eine ähnliche Gabe hat."

„Oh ja," macht er. „Ich erinnere mich. Sie malt Dinge, die nicht da sind."
Ich nicke. „Sie malt schon Dinge, die da sind, nur die normale Menschen nicht sehen. Ich denke, ihre Gabe kommt dem Gedankenlesen näher."
Wieder grübelt er und sagt dann leise: „Und.. der Mann?"

Ich schlucke und atme tief durch. „Der Mann heißt Dean," sage ich ruhig. „Er weiß es nicht. Er ist.. ausgeglichen. Er kocht gern und versteht nicht viel von Farben." Ich lache unbeholfen, denn das Thema ist mir etwas unangenehm. Philipp sieht mich fragend an und an seinem neugierigen Capriblau erkenne ich, dass er gern mehr Informationen hätte. Ich kann es ihm nicht verdenken.

Ich lehne mich zurück und spiele mit meiner Serviette herum, während ich weiterrede: „Wir sind seit etwas mehr als drei Jahren zusammen. Er ist Koch und wir haben uns in dem Restaurant kennengelernt, in dem er arbeitete. Seit einem halben Jahr ist er Mitbesitzer eines neuen Restaurants an der Upper East Side. Wir verstehen uns gut. Dean ist meistens grasgrün. Ausgeglichen."

Erwartungsvoll sieht Philipp mich an, doch ich weiß nicht, was ich noch über Dean sagen soll. Eine Sache fällt mir noch ein und ich kaue nervös auf meiner Lippe.
„Ich habe ihm von dir erzählt," murmele ich. „Also, nicht direkt. Aber ich habe ihm gesagt, dass ich jemanden kennengelernt habe, der mir nicht mehr aus dem Kopf geht."

Überraschtes Himmelblau breitet sich um Philipp aus. „Was hat er gesagt?" hakt er nach.
„Nichts," erwidere ich. „Ich habe es ihm gesagt und heute früh war er schon weg, als ich ging."

Philipp scheint darüber nachzudenken und kaut an seinem Brötchen. Ich hänge kurz meinen Gedanken nach und frage mich, was Dean wohl gerade tut und wie es ihm geht. Er ist mir ja nicht egal.

„Welche Farben sind besonders selten?" holt Philipp mich zurück und ich zucke fast ein wenig zusammen.
„Elfenbein, ganz offensichtlich," beginne ich und er lächelt wieder beschämt. „Tiefschwarz habe ich nur einmal gesehen, Safrangelb gibt es auch nicht so oft, das ist Erkenntnis und.. hm.. Schwarzrot habe ich letztens auch gesehen, da weiß ich auch nicht, was es bedeutet."

„Heißt das, du lernst öfter Menschen wegen ihrer Farben kennen?"
„Du warst der Erste," gebe ich zu. „Normalerweise male ich die Leute einfach und dann lässt das Verlangen recht bald nach."
„Hm," macht er und scheint zu überlegen. „Willst du jetzt auch malen?"
„Dich?" frage ich zurück. „Immer."
„Wieso?"
„Wieso wolltest du mich fotografieren?"
„Nicht wolltest, Ricardo," korrigiert er mich. „Will."

Er lacht verlegen, als ich die Augen aufreiße. „Okay," schlägt er schließlich vor. „Du darfst mich malen, wenn ich dich fotografieren darf. Wollen wir dafür nur vielleicht in den kleinen Park am Ende der Straße gehen? Da ist das Licht besser."

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