Entgegen meines üblichen Verhaltens fahre ich heute bewusst zur gleichen Zeit wie gestern mit der U-Bahn und hoffe, auch den gleichen Wagen erwischt zu haben. Ich achte nie peinlich genau darauf, wo ich einsteige. In aller Regel wechsele ich zwischen den vorderen, den hinteren und irgendeinem der mittleren Wagen. Dummerweise war gestern die Mitte dran.
Ich setze mich an die Stelle, wo gestern die schlammbraune Rezeptzeitschriftenfrau saß und blicke mich suchend um. Stahlgrau, schlammbraun, moosgrün. Kein Elfenbein. Weiter hinten sehe ich etwas Sonnengelb, so falsch kann ich nicht sein.
Ich seufze und mein Blick fällt auf eine Frau etwa Mitte Dreißig, deren stahlblaue Färbung von anthrazitfarbenen Fäden durchzogen ist. Nicht vollkommen ungewohnt, aber dennoch selten. Die Frau hat Kopfhörer in ihren Ohren und ihre Augen geschlossen.
Ich ziehe meinen Skizzenblock mit den weißen Blättern hervor, wühle in meinem Rucksack nach der Stifterolle und beginne unauffällig zu zeichnen.
Inzwischen bin ich darin so geübt, dass nur wenige, verstohlene Blicke ausreichen, um die wesentlichen Details meines Objekts zu erfassen. Und da die Zeichnungen ohnehin nur für mich selbst sind, ist es auch nicht wichtig, ob sie detailgetreu sind.Der Zug hält an einer Haltestelle und ich zeichne unbeirrt weiter. Die Frau öffnet kurz ihre Augen, scheint aber festzustellen, dass sie ihr Ziel noch nicht erreicht hat und verbirgt ihre dunklen Pupillen wieder hinter ihren Lidern.
Ich bin fast fertig mit meiner Zeichnung, als ich etwas Helles im Augenwinkel sehe. Der elfenbeinfarbene Mann hat sich wieder an den Platz wie gestern gesetzt. Nur ist seine Färbung heute ein Perlweiß.
Ich runzele verwirrt meine Stirn. Ich hätte schwören können, dass ich gestern elfenbeinfarben gesehen habe. Gut, er fiel mir erst an meiner Haltestelle auf und dann sah ich ihn nur durch die schmutzige Scheibe der U-Bahn, vielleicht hatte ich mich wirklich geirrt. Aber ich habe keinen perlweißen Stift.
Verzweifelt suche ich in meiner Stifterolle, aber ich finde nur elfenbeinfarben, creme und schneeweiß. Verdammt! Ein zweites Mal ignoriere ich meine Prinzipien und suche meinen neuen Skizzenblock hervor, den mit den schwarzen Seiten.
Ich entscheide mich für den elfenbeinfarbenen Stift, auch, wenn ich jetzt schon weiß, dass mich das Ergebnis nicht befriedigen wird. Heimlich schaue ich zu dem jungen Mann herüber, der wieder nur aus dem Fenster starrt. Seine Gesichtszüge sind fein und seine Haare ein einziges Durcheinander. Vermutlich sieht er gut aus, aber mich fasziniert seine Farbe. Zu gern wüsste ich, was sich dahinter verbirgt.
Viel zu schnell kommt die Durchsage für meine Haltestelle und ich stelle mich an die Tür. Noch immer habe ich meine Stifterolle unter den Arm geklemmt und zeichne weiterhin, stets bemüht, den Mann nicht zu offensichtlich anzustarren. Als die Tür sich öffnet, rutscht mir die Rolle unter dem Arm weg und landet mit einem hölzernen Klirren auf dem Boden des U-Bahn-Wagens.
Glücklicherweise sind meine Stifte alle fein säuberlich in die jeweiligen Laschen sortiert, so dass ich lediglich die Rolle aufheben und gut festhalten muss. Als ich wieder zu dem Mann sehe, mustert er mich kurz, sieht aber wieder aus dem Fenster, als unsere Blicke sich treffen.
„Dürfte ich mal?" drängelt ein älterer, moosgrüner Mann und drückt von hinten gegen meinen Rücken. Ich stolpere aus dem Wagen und stehe wie gestern auf dem Bahnsteig. Ich starre zurück zu dem Mann, durch das Fenster sehe ich weiterhin perlweiß, aber jetzt mit hauchzarten aschgrauen Flecken, die gelegentlich erscheinen und wieder verschwinden.
•••
Dean
Heute Abend wird spät.
Schon wieder?
Ja, die neue Saisonkarte
ist noch nicht ganz
fertig.Okay.
Im Kühlschrank steht
noch Pasta von gestern
Abend.Ich kann mir auch selbst
was zu essen machen,
Dean!Ich weiß, aber ich möchte
auch gern, dass du danach
noch lebst ;)Na, vielen Dank!
Komm nicht allzu spät.Ich versuche es.
Ich lege mein Handy weg und setze mich wieder an die Skizzen für die Cooperkampagne. Mir ist bewusst, dass dafür noch Zeit ist, aber ich habe beschlossen, dass Fuchur perlweiße Zähne bekommt.
Zu diesem Zweck bin ich auf dem Weg ins Büro noch einmal ins „True Colors" abgebogen und habe unter skeptischen Blicken von Elmer nach einem perlweißen Stift gesucht.
Kurz habe ich überlegt, die Skizze von heute Morgen noch einmal neu anzufertigen, aber habe den Gedanken schnell wieder verworfen. Skizzen von Skizzen machen ist wie eine Kopie einer Kopie: es wird mit jedem Mal schlechter.
Zumindest bin ich jetzt vorbereitet, denn ich bin mir sicher, dass es perlweiß war. Wenn ich den Mann morgen früh nochmal sehe, kann ich ihn vielleicht besser zeichnen und dann gibt mein Kopf endlich Ruhe.
Ich überlege, wann es mir zuletzt so ging.
Schon als Kind hatte ich eine große Vorliebe für Farben. Meine Mutter amüsierte sich darüber, dass ich bereits im Kindergarten meine Bausteine stets nach Farben sortierte. Ich bekam regelmäßig Wutanfälle, wenn einer meiner Stifte, den ich gerade brauchte, nicht auffindbar oder schlichtweg leer war. Das Gleiche geschah, wenn man mir weismachen wollte, dass ich statt gelb auch orange nehmen konnte. Schon damals wollte niemand verstehen, dass orange und gelb vollkommen verschieden sind und rein gar nichts miteinander zu tun haben.Meine wütende Phase wurde erträglicher, nachdem meine Mutter mich voller Sorge zu einem Kinderpsychologen brachte. Dr. Beavers schlug vor, dass ich das, was mich in meinem Kopf beschäftigte, einfach zeichnete. Wenn es auf einem Blatt war, musste es nicht länger in meinem Kopf sein und diese Methode wandte ich seitdem fast täglich an.
•••
Ich verlasse das Büro heute früher als sonst. Peter war begeistert von Fuchurs perlweißen Zähnen und hätte mir als Dank vermutlich sogar den Rest der Woche freigegeben, wenn ich danach gefragt hätte. Allerdings habe ich keine Lust, mich allein zu Hause zu langweilen, wenn Dean gerade so viel arbeitet. Meist enden solche Tage nur mit halbfertigen Skizzen und einem wütenden Ricardo.
Ich beschließe, mal wieder ins MoMA, das Museum of Modern Art, zu gehen. Am Wochenende wimmelt es vor Touristen, aber um diese Zeit sind hier nur wenige Menschen, die ich ertragen muss. Ich liebe es, die Bilder zu betrachten, denn sie geben mir das Gefühl, nicht der Einzige zu sein, der das Bedürfnis hat, sein Inneres auf Papier auszudrücken.
Ich schlendere durch die Räume und sehe hier und da ein paar Menschen. Sie sind meist safrangelb oder auch capriblau, viele auch grasgrün, wie Dean.
Als ich in den nächsten Raum gehe, steht er plötzlich vor Claude Monets Seerosen und starrt gedankenverloren auf das Bild.
Der Mann aus der U-Bahn.
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Farbenspiel | ✓
Teen FictionRicardo Cook hat eine besondere Gabe: er kann recht passabel zeichnen und er kann die Farben anderer Menschen sehen. Doch nicht alle Menschen haben die gleichen Farben und manche sind ein wahrer Regenbogen. ------------ ❝ Verzweifelt suche ich in me...