Im Büro wartet heute keine Maddie auf mich. Stattdessen liegt ein Umschlag auf meinem Schreibtisch und darauf steht ein Kaffeebecher und ein PostIt mit ihrer schönen, schwungvollen Handschrift:
Sind schon beim Keppler-Shooting. Adresse steht im Kalender. ❤️ Maddie
Ich trinke einen Schluck und setze mich an meinen Schreibtisch. Sind? Keppler? Das heißt, Philipp muss dort sein.
Gedankenverloren öffne ich den Umschlag und kippe den Inhalt auf meiner Schreibtischunterlage aus. Vor mir liegt mein Skizzenblock, leicht geknickt von seinem engen Aufenthalt in Philipps Handschuhfach, bestimmt dreißig Schwarz-Weiß-Fotografien, auf denen ich beim näheren Hinsehen nur mich selbst oder Teile von mir erkenne und ein einzelner weißer Zettel. Mit zittrigen Fingern falte ich ihn auseinander und lese, was dort steht:
Ricardo,
den Block hattest du vergessen. Die Bilder sind für dich, ich habe keine Verwendung dafür.
PhilMeine Unterlippe zittert, als ich seine Worte immer und immer wieder lese. Ich schaue auf die Fotos und sehe mich. Ricardo glücklich, Ricardo überrascht, Ricardo nachdenklich. Ricardo schlafend, Ricardo entspannt. Ricardo verträumt, Ricardo beim Zeichnen, Ricardo frech.
Er hat keine Verwendung dafür.
Eine Träne tropft auf mein lachendes schwarz-weißes Gesicht und ich beiße mir schmerzhaft auf meine zitternde Lippe.
Ich stopfe alles verzweifelt in den Umschlag zurück und verbanne diesen in eine meiner Schubladen. Trotzig wische ich mir die Tränen mit dem Handrücken vom Gesicht und schnappe mir meinen Rucksack.
•••
Auf dem Weg zur U-Bahn schaue ich in meinem Kalender nach der Adresse und stelle fest, dass ich nur etwa fünf Stationen fahren muss.
Im Zug starre ich durch die anderen Menschen hindurch und sehe nichts. Kein Moosgrün, kein Stahlgrau, es sind einfach nur nichtssagende Menschen für mich.
Immer wieder hallen die Worte, die auf Philipps Zettel standen, in meinem Kopf.
Ich habe keine Verwendung dafür.
Hat er auch keine Verwendung für mich? Habe ich mich so getäuscht? Habe ich irgendetwas falsch gemacht? Will sich das Universum an mir rächen, weil ich Dean verlassen habe?
Die Durchsage meiner Haltestelle weckt mich aus meiner Trance und ich schlüpfe zwischen den farblosen Menschen nach draußen auf den Bahnsteig.
Die Adresse des Shootings ist nur zwei Blocks entfernt in einer leerstehenden Lagerhalle und als ich mich dem Gebäude nähere, höre ich schon laute Musik mit starkem Bass und jemanden, der Anweisungen ruft.
Maddie steht vor der Halle und sieht.. verstört aus.
„Maddie," rufe ich und sie eilt auf mich zu. Ihre Augen sind leicht gerötet und sie packt meine Arme.
„Ricardo," sagt sie atemlos und ich sehe interessiert zum Eingang der Halle.
„Was ist da drin los?" will ich wissen.
„Du solltest lieber nicht-" beginnt sie, doch ich schiebe mich an ihr vorbei und drücke die angelehnte, schwere Stahltür auf.Im Inneren der Halle hat jemand eine Nebelmaschine und farbige Scheinwerfer aufgebaut und ich sehe erst mal nichts als roten Nebel.
„Ich habe doch gesagt, lasst die verdammte Tür zu," schreit eine männliche Stimme. Der Nebel lichtet sich etwas und ich erkenne Fred Keppler in einer senfgelben Chinohose und einem ausgewaschenen schwarzen Hemd, das so schlecht sitzt, dass man seine dünnen Arme und den Ansatz eines Bauches noch deutlicher erkennen kann.„Oh," macht er überrascht und kommt grinsend auf mich zu. „Mr. Cooke, wie schön."
Er greift meine Hand und hält sie wie beim letzten Mal etwas zu lange fest und schaut mir für mein Gefühl zu tief in die Augen, so dass ich meinen Blick beschämt von ihm abwende.Ich erkenne Hintergrundschirme für Belichtung, eine Leinwand und sehe mehrere Menschen umherlaufen. In der Mitte des Geschehens steht ein großer, schlanker Mann, der offenbar eine Art Geschirr aus Leder trägt. Um seinen Hals befindet sich ein Halsband, an dem eine lange, großgliedrige Kette hängt, die straff gespannt ist und es ihm unmöglich macht, sich weiter als in einem Radius von einem Meter zu bewegen.
Sein Mund wird zu meinem Erschrecken von einem silbernen Knebel zugehalten und auf seinem Kopf thronen schwarze Wuschelhaare. Ein Komparse hält ein Messer gefährlich nah an das Ohr unter den Wuschelhaaren und ich schnappe ängstlich nach Luft.
„Fast perfekt, oder?" säuselt Keppler hämisch in mein Ohr und ich zucke zusammen.
„W-Was?"
„Ich habe ihn fast so weit, aber Ihre Kollegin hat ein hervorragendes Model aufgetrieben bis er doch zustimmt," stellt er klar.Erst jetzt sehe ich, dass jemand ein Stück vor dem geknebelten Model mit dem Messer unter dem Ohr steht und eine Kamera betätigt. Dieser Jemand hat ebenfalls schwarze Wuschelhaare und seine langen Finger, die gekonnt das Objektiv der Kamera einstellen und den Auslöser betätigen, erkenne ich sofort.
Noch immer sehe ich keine Farben, ganz im Gegenteil, als ich ihn sehe, zieht mein Brustkorb sich schmerzhaft zusammen und die ganze Welt scheint ihre Farbe für mich zu verlieren.
Ich habe keine Verwendung dafür.
„Meinen Sie," faselt Keppler weiter. „Sie könnten ihn überzeugen? Einen Fotografen finde ich bestimmt, aber ein Gesicht wie seins.."
Wütend starre ich den kleinen, dürren Mann an. „Er IST der Fotograf. Dafür wurde er engagiert, Mr. Keppler," knurre ich.
„Nun, jeder hat seinen Preis," kichert der Kunde und geht zum Ort des Geschehens. Nein, er läuft nicht. Er wieselt eher.Ich sehe, wie er sich Philipp von hinten nähert und seine Hand wie beiläufig um dessen Hüfte legt. Er muss sich auf die Zehenspitzen stellen, um Philipp etwas ins Ohr zu flüstern und ich habe das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen.
Ich drehe auf dem Absatz um und gehe nach draußen zu Maddie. Die Stahltür schließt sich quietschend hinter mir und ich lehne mich schwer atmend an die Wand daneben.
„Es ist furchtbar, Ricardo," jammert Maddie und ich nicke nur zustimmend.Kalter Schweiß steht mir auf der Stirn und ich zittere.
„Ricardo, ist alles okay?" fragt Maddie besorgt und legt ihre Hand auf meine Schulter.
„Nein, Maddie," sage ich kaum hörbar. „Gar nichts ist okay. Kann ich heute Abend auf eurem Sofa schlafen?"
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Farbenspiel | ✓
Teen FictionRicardo Cook hat eine besondere Gabe: er kann recht passabel zeichnen und er kann die Farben anderer Menschen sehen. Doch nicht alle Menschen haben die gleichen Farben und manche sind ein wahrer Regenbogen. ------------ ❝ Verzweifelt suche ich in me...