Chaos

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Wieder klingelte mein Handy. Entnervt warf ich einen kurzen Blick auf das Display. Luca. Verdammt, da musste ich rangehen. Ich war schon in den letzten Tagen nicht besonders fair gewesen, als ich ihn mehrfach weggedrückt hatte. Zwar hatten wir trotzdem jeden Tag telefoniert, nur waren die Gespräche kurz ausgefallen und immer spätabends gewesen.
Die Zeit war knapp. Meine erste Prüfungsphase im Studium forderte eigentlich 48-Stunden-Tage. Abgesehen von jeder Menge Abgaben hatte ich auch einen riesigen Berg an Unterlagen, die alle gelernt werden wollten.
Hey micina, immer noch so viel zu tun?", Lucas Stimme klang mitfühlend. Ich hatte das Gefühl, das gar nicht verdient zu haben. Tief seufzend antwortete ich: „Ja, ich habe noch ein paar wirklich stressige Tage vor mir." „Ich wünschte, ich könnte dir helfen." „Konzentrier du dich lieber aufs Motorradfahren. Das hier ist wohl leider mein Problem. Ich hab's mir ja selbst ausgesucht."
Luca war momentan noch mehr auf der Ranch als sonst. Manchmal fuhr er sogar alleine. Vale hatte mir erst gestern geschrieben, dass er sich Sorgen machte. Er hatte Angst, dass Luca sich selbst überforderte und zu viel von sich verlangte.
Das Problem war nur, ich hatte aktuell nicht die Nerven, mich damit zu beschäftigen. Vielleicht verdrängte ich mit dem ganzen Lernstoff, unter dem ich mich vergrub, auch nur das ekelhafte Gefühl, für Lucas Trainingswut verantwortlich zu sein. Ich war mir ziemlich sicher, dass er sich damit ablenken wollte, um nicht den ganzen Tag auf eine Nachricht von mir zu warten.
Trotzdem fiel es mir schwer, länger als zehn Minuten am Telefon zu bleiben. Ich sollte es eigentlich genießen, Lucas Stimme zu hören. Doch anstatt mich zu beruhigen, so wie es früher gewesen war, schaffte es seine Stimme im Moment nur, mich noch mehr zu stressen.
Ich redete mir gern ein, dass all das nur am Lernstress und der Prüfungsphase lag, doch ob das wirklich so war würde sich erst nach der letzten Klausur zeigen.
Wann sehen wir uns wieder?", fragte Luca, doch ich konnte ihm keine Antwort geben: „Ich weiß es nicht. Im Moment kann ich nur bis zur nächsten Klausur denken. Tut mir leid." „Okay.", Luca seufzte enttäuscht, „Das verstehe ich. Du fehlst mir einfach." „Du mir doch auch.", irgendwie fühlte sich das nicht richtig an.
Die Stunden vergingen. Der Berg an Unterlagen wurde kaum kleiner. Erst als ich die Augen kaum noch offen halten konnte und die Kopfschmerzen stärker wurden, ging ich schließlich ins Bett.
Erst jetzt erlaubte ich mir, wieder an Luca zu denken. Ich beantwortete noch ein paar Nachrichten, damit sich niemand Sorgen machte. Fabio, Lilia, meine Mutter, Marec, Vale und natürlich Luca. Die Liste war lang. Mit Mama telefonierte ich regelmäßig. Das hatte nichts mit Pflichtbewusstsein zu tun, ich vermisste sie einfach. Da sie zusammen mit meiner Oma arbeitete, legte ich meine Anrufe meist auf die Mittagspause und konnte so mit beiden sprechen. Trotzdem wollten weder ich noch sie auf die allabendliche Nachricht verzichten. Marec gab sich große Mühe, unsere Freundschaft zu retten und wieder in die richtigen Bahnen zu lenken. Seit Wochen hatte er sich keine blöden Kommentare mehr erlaubt.
Den Kontakt zu meinen Mitbewohnern vermied ich in den letzten Tagen konsequent. Das WG-Leben ging mir gerade tüchtig auf die Nerven, so wie eigentlich alles andere auch.
Mein Handy lag den Großteil des Tages nicht mehr in meiner Reichweite und war sowieso ausgeschaltet. Nur wenn ich mal fünf Minuten Pause machte, schaute ich mal drauf. Jedoch nie für lange. Dafür fehlte mir tatsächlich die Geduld. Nicht mal Musik durfte zur Zeit in meiner Nähe laufen.
An die frische Luft kam ich auch nur, wenn ich gerade etwas einkaufen musste. Doch auch da wählte ich Zeiten, zu denen eher wenig los war. Ich brauchte gerade einfach keine Menschen um mich herum.
Das hatten die meisten aus meinem Umfeld auch recht schnell verstanden. Ein paar Nachrichten hier und da, aber sonst hatte ich größtenteils meine Ruhe.
Nur Luca und meine Mutter hatten das Privileg, mich wirklich noch regelmäßig zu hören und garantiert eine Antwort auf ihre Nachrichten zu bekommen. Auch wenn das manchmal etwas länger dauerte.

- Machst du mir auf? -

Die Nachricht von Marec ließ mich für einen Moment aus allen Wolken fallen. Kurz flammte Panik in mir auf, doch ich besann mich recht schnell wieder und schob meine Unterlagen zur Seite.
Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte, doch es überraschte mich trotz seiner Nachricht, Marec vor meiner Tür zu sehen. Er hatte eine Maxi-Packung Nugatpralinen unter dem einen Arm und in der anderen Hand eine Flasche irgendeines Fruchtseccos. Bei diesem Anblick kam er mir vor wie mein Ritter in strahlender Rüstung. Warum hatte sich eigentlich Luca nicht einfach in den Flieger gesetzt und war zu mir gekommen?
„Was machst du denn hier?" „Das ist genau die Begrüßung, die man will, wenn man mit Schokolade und Alkohol vor der Tür steht.", scherzte Marec und schob sich ohne mit der Wimper zu zucken an mir vorbei in meine Wohnung, „Ich dachte mir, du brauchst vielleicht ein bisschen Ablenkung, bevor du mir noch über deinem Studienscheiß eingehst."
„Das ist kein Scheiß.", protestierte ich schwach, während ich ihm ins Wohnzimmer folgte. Er hatte den Fernseher schneller eingeschaltet, als ich bis drei zählen konnte. Dann huschte er in die Küche und organisierte ein Glas.
Als er zurück war, öffnete er zuerst den Fruchtsecco und goss ihn in das eben geholte Glas. Anschließend angelte er aus seinem Rucksack eine Flasche Bier und öffnete diese mit dem Flaschenöffner, der immer auf dem Couchtisch lag. Dann pflanzte er sich auf die Couch, lehnte sich zurück und zappte durch die Programme, bis er irgendeine Autosendung fand, die mich sowieso nicht interessierte.
„Willst du dich nicht zu mir setzen?", Marec rutschte extra seine überlangen Beine zur Seite, die mir nicht mal im Weg gewesen waren. Wortlos gab ich meinen Widerstand auf und ließ mich auf die Couch sinken.
Die Anspannung in meinem Nacken löste sich ein wenig, als ich mich langsam zurücklehnte. Ich spürte erst jetzt die Schwere meiner Knochen so richtig. Ich fühlte mich ausgelaugt, müde und überspannt.
Marec hielt mir das Glas hin und ich griff danach. Warm und prickelnd rann der Alkohol meine Kehle hinab und breitete sich in meinem Bauchraum aus. Die angespannten Nervenstränge lösten sich nach und nach. Süß und zart schmolz die Schokolade auf meiner Zunge und gab den Geschmack des Nugats frei.
Ich fühlte mich so gelöst wie schon zu lange nicht mehr. Mein schlechtes Gewissen meldete sich ausnahmsweise nicht, weder wegen der nahenden Klausuren noch wegen Luca.
Ein wenig später hatte Marec mich dazu überredet, noch eine Runde durch den Park und am Berger See entlang zu drehen. Es war noch geradeso hell, die Sonne näherte sich langsam dem Horizont.
Hier in Gelsenkirchen gab es selten Schnee, im Moment lag keiner. Trotzdem war der Winter deutlich zu erkennen und zu spüren. Die Luft war kalt und bildete kleine Wölkchen vor unseren Gesichtern, wenn wir ausatmeten. An den Ästen der kahlen Bäume waren kleine glitzernde Eiskristalle zu erkennen. Das Wasser des Sees hatte in Ufernähe eine dünne Eisschicht bekommen.
Ich hatte das drängende Bedürfnis, mich an Marec anzulehnen und mit ihm einfach den sich langsam nähernden Sonnenuntergang zu genießen.
Doch das ging nicht. Er war nicht Luca. Ich konnte mich nicht auf diese Weise Marec nähern und gleichzeitig Lucas Freundin sein. Das war nicht ich und das würde ich nie sein.
Die Sehnsucht fraß mich innerlich auf. Dabei war mir gar nicht klar, ob ich mich nach Luca sehnte, oder ob es einfach nur diese vertraute Nähe war, die mir fehlte. Doch mir war klar, dass dort etwas auf mein Herz drückte und meine Brust verengte. Das Atmen fiel mir schwerer und ich musste den schweren Kloß in meinem Hals mühsam runterschlucken.
Zunächst war es nur eine vorsichtige Berührung, wie ein zarter Lufthauch, den ich durch meine dicke Jacke kaum spüren konnte. Aber als ich ihn nicht wegstieß, wurde Marec mutiger.
Bald spürte ich die Wärme seiner Hand durch meine Jacke hindurch. Oder bildete ich mir das ein?
Nein, dort breitete sich definitiv die Wärme durch meinen Körper aus. Von dort, wo Marecs Hand auf meinen unteren Rücken traf.
Ich hatte nicht bemerkt, wie nah er mir inzwischen gekommen war. Ob das daran lag, dass ich die Spur der warmen Strahlen durch meinen Körper verfolgte, wusste ich nicht.
Doch jetzt legte er langsam seinen zweiten Arm um mich und zog mich so in eine enge Umarmung. Ich hielt den Atem an. Auch Marec schien auf eine Reaktion meinerseits zu warten, doch mein Kopf war so leer. Als da nichts kam, entspannte er sich langsam.
So blieben wir stehen. Mein Kopf lag an seiner Schulter, den Blick hinaus auf den See gerichtet und den Sonnenuntergang beobachtend. Marec hatte sich irgendwann getraut, sein Kinn vorsichtig auf meinem Kopf abzulegen.
Es leuchtete nur noch ein schwacher Streifen Orange am Horizont, als wir uns schließlich dazu entschieden, wieder zurückzugehen. Wir schwiegen, bis wir wieder in meiner Wohnung waren und selbst da blieb die Stimmung komisch. Marec blieb nicht mehr lang.
Als er wieder weg war, umfing mich eine drückende Leere. Schwer lasteten die letzten Stunden auf mir. Ja, ich hatte nicht an meine Prüfungen oder Luca gedacht, doch genau das war das Problem. Ich hatte nicht an Luca gedacht.
War mein schlechtes Gewissen wegen einer harmlosen Umarmung unter Freunden gerechtfertigt?
Das wäre es nicht, wenn es eine harmlose Umarmung unter Freunden gewesen wäre. Doch die war es nicht. Dafür hatte Marecs Nähe zu viele Dinge in mir ausgelöst, die dort nicht sein sollten. Gefühle, die eigentlich einzig und allein Luca vorbehalten waren.
Nur wie lange war es her, dass Luca genau diese Gefühle in mir ausgelöst hatte? Zu lange, das war klar. Wir hatten uns zu lange nicht gesehen. Mir war von Anfang an klar gewesen, dass das für eine Beziehung nicht gut war. Vor allem dann nicht, wenn sie noch frisch war und sich erst entwickeln musste. Woher sollte ich all diese Gefühle nehmen, wenn ich nicht an Lucas Seite sein konnte und seine Nähe genießen konnte. Wenn ich nicht mit ihm den Sonnenuntergang beobachten konnte?

Was ich am Leben im Studentenwohnheim hasste? Die Nächte waren immer kurz, auch in der Prüfungsphase. Irgendjemand war immer schon fertig mit seinen Klausuren oder schrieb in diesem Semester keine und feierte deshalb im Hof seine Partys. Doof nur, dass die Fenster meines Zimmers in Richtung Hof lagen.
Die vielen Stunden, die ich abends noch mit dem jämmerlichen Versuch einzuschlafen verplemperten, trugen nicht unwesentlich zu meiner miesen Laune bei.
Seit Marecs Besuch hatten sich diese Schwankungen von „Ich hasse alle Menschen" über „Vielleicht sind ja nur ein paar das Problem" zu „Ich hasse mein ganzes Leben" nicht unbedingt gebessert. Stattdessen gelang mir dieser Umschwung seit Neuestem in wenigen Momenten.
Nur dumm, dass diese Phasen auch dazu führten, dass ich quasi nichts von dem Stoff in meinen Kopf bekam. Immer wieder waren die Minuten am See viel zu präsent in meinem Kopf. Noch viel schlimmer aber war, dass sie sich mit Erinnerungen an die Wochen in Tavullia vermischten. Plötzlich war es nicht mehr Marec neben mir am See, sondern Luca. Oder aber, was noch viel verstörender war, neben mir im warmen Sand des italienischen Strandes saß nicht mehr Luca, sondern Marec.
Wie sollte man sich da auf irgendwas konzentrieren?!?
Und nicht genug damit, dass mir diese Szenen in meinem Kopf den Tag vermiesten, sie suchten mich auch in der Nacht heim. Natürlich vor allem, dann wenn es im Hof gerade still geworden war und ich eigentlich jede Minute Schlaf nutzen müsste, die ich kriegen konnte.
Auch die letzte Nacht war wieder eine jener Nächte gewesen. Zum Glück war es noch nicht wieder Sommer, sonst würde es schon wieder hell werden, als ich langsam in einen unruhigen Schlaf fiel.

Es war das Klingeln der Türglocke, das mich nur wenige Stunden später weckte. Ich warf mir nur schnell einen Pulli und eine Jogginghose über, denn eigentlich wollte ich möglichst schnell wieder zurück ins Bett und noch ein paar Stunden schlafen.
Doch daraus sollte nichts werden. Als ich die Tür öffnete, stand eine Nachbarin vor mir und rief ganz aufgeregt: „Feuer! Unten brennt eine Küche! Hol deine WG und raus!" Dann rannte sie auch schon weiter zur nächsten Tür.
Mit dem Brandgeruch, der sich jetzt so langsam durch die offene Tür in die Wohnung schlängelte, stieg auch die Panik in mir hoch. Seit ich mir vor vielen Jahren beim Auspusten einer Kerze mal die Haare abgefackelt hatte, hatte ich panische Angst vor Feuer. Selbst Feuerzeuge in meiner unmittelbaren Nähe brachten mich manchmal aus der Fassung.
Als mir die Bedeutung der Worte endlich klar wurde, hielt mich nichts mehr. Ich hämmerte an die Zimmertüren meiner Mitbewohner, rief mehrmals laut: „Feuer! Feuer!" durch die Wohnung und brachte dann doch lieber mich in Sicherheit. Ich musste mir noch Schuhe aus meinem Zimmer holen und bei der Gelegenheit zog ich mein Handy vom Ladekabel und nahm wenigstens das mit.
Draußen füllte sich der Hof schon langsam. Nicht nur die Bewohner unseres Hauses, sondern auch die aus den umliegenden Häusern (um den Hof herum) kamen nach draußen. Es dauerte nur wenige Minuten, dann war die Feuerwehr da.
Leider hielten der Pulli und die Hose, die ich trug, nicht wirklich viel von der Kälte ab. Es war eben immer noch Winter und die Temperaturen lagen geradeso im einstelligen Bereich. Noch dazu nieselte es, sodass ich bald heftig fror und vor Kälte zitterte.
Aus den anderen Häusern standen so viele Menschen um uns herum, doch keiner von ihnen kam auf die Idee, uns eine Jacke anzubieten. Oder uns in ihre Wohnung einzuladen, bis wir wieder zurückkonnten. Oder auch nur ein heißes Getränk. Das frustrierte mich fast noch mehr, als die ganze verlorene Zeit, die ich zum Lernen hätte nutzen können.
Nach etwa drei bis vier Stunden war zwar das Feuer vollständig gelöscht, doch das Haus konnte noch nicht wieder betreten werden. Die Feuerwehr musste erst irgendwie die giftigen Gase, die sich bei Feuer bildeten, irgendwie herausbekommen.
Es dauerte noch weitere viereinhalb Stunden, bis die meisten von uns in ihre Wohnungen zurückkehren konnten. Die Wohnung, in der das Feuer ausgebrochen war, war mindestens für die nächsten drei Monate unbewohnbar. Auslöser war eine auf dem Herd vergessene Kochbanane gewesen. Die Wohnung lag im Erdgeschoss, zu meinem Glück auf der anderen Seite und nicht direkt unter meiner. Meine Wohnung lag schräg darüber im ersten Stock.
Der penetrante Rauchgeruch hing noch immer schwer im Treppenhaus, als ich langsam die Treppe nach oben stieg. Es würde noch eine ganze Weile dauern, bis das wieder raus war.
Auch der Flur in der Wohnung roch noch leicht nach Feuer. Glücklicherweise war ich so clever gewesen, die Tür zu meinem Zimmer zu schließen. Der Geruch hatte es kaum hier hinein geschafft und meine Klamotten stanken zum Glück nicht alle danach.
Doch der Geruch war trotzdem da. Und ich konnte ihn nicht ausblenden. Dafür war die Angst zu groß, dass das Feuer erneut ausbrach und ich es diesmal nicht bemerkte oder nicht rechtzeitig gewarnt wurde.
An Lernen war so keinesfalls zu denken. Selbst wenn ich an meinem Schreibtisch saß und die Unterlagen vor mir liegen hatte, die Worte flogen an mir vorbei, ohne einen Sinn zu ergeben. Mein ganzer Körper wartete angespannt auf jegliche Anzeichen eines erneuten Feuers.
Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. So konnte es nicht weitergehen. Ich konnte nicht mehr. Die Klausuren, das Feuer, Luca, Marec... Mein Kopf war einfach zu voll.
Ich musste raus. Und wenn es nur für ein paar Tage war.

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