Zerrissen

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Ich hatte Luca nichts von dem Brand erzählt. Marec dagegen schon. Er hatte sich riesige Sorgen gemacht und mich dadurch in meinem Entschluss, nichts zu Luca zu sagen, bestärkt.
Inzwischen war durchgesickert, dass die Verantwortliche eine Auslandsstudierende war, die nur ein Semester in dieser Wohnung gelebt hatte und deren Flug zurück nach Indonesien am Tag nach dem Brand gegangen war. Sie hatte sich wohl Frühstück machen wollen und war wieder eingeschlafen, während eigentlich nur für zehn Minuten die Kochbanane auf dem Herd stehen sollte.
Seit drei Tagen kämpfte ich mit mir. Das Bedürfnis, aus der Wohnung rauszukommen, wurde immer mächtiger. Es zog mich nach Hause in die Geborgenheit meiner Familie. Doch noch hatte ich die Klausuren vor mir. Die zweite Hälfte des Januars war längst angebrochen. In einem Monat war schon alles wieder vorbei.
Marec forderte inzwischen täglich ein Foto von außerhalb meiner Wohnung. So wollte er sichergehen, dass ich genügend frische Luft bekam. Bisher hatte ich mich brav daran gehalten, doch ich bezweifelte, dass ich das immer durchziehen konnte.
Die Gespräche mit Luca waren ein wenig eintönig. Wenn wir über unseren Tag sprachen, kam eigentlich nichts Neues. Luca trainierte und ich lernte. So beschränkten sich unsere Telefonate auf wenige Minuten am Tag.
Das war überraschenderweise okay für mich. Luca hatte sich bisher auch nicht beschwert, deshalb dachte ich nicht weiter darüber nach, wie er dazu stand. Bis eine Nachricht von Vale kam.

- Ist bei dir und Luca alles okay? Er benimmt sich komisch und ist irgendwie angespannt und unkonzentriert, aber erzählt mir nichts. Wenn er so weitermacht, muss ich ihm das Motorradfahren verbieten. -

Ich biss mir auf die Unterlippe. Die Schuldgefühle nagten an mir. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie wenig ich über seine aktuelle Gefühlslage wusste. Was in seinem Leben los war, woran er gerade arbeitete, das war ein Geheimnis für mich.
Doch das konnte und wollte ich vor Vale nicht zugeben. Er musste nicht wissen, dass ich wahrscheinlich meine Anspannung auf Luca übertrug und ihn in eine Funkstille zwang, die ihm wahrscheinlich gar nicht mal so gut passte.
Das gute an Nachrichten war, dass niemand das Gesicht sah, welches ich beim Tippen machte. Ich wusste, dass meine Nachricht nicht ganz der Wahrheit entsprach. Ich wusste auch, dass ihr einziger Sinn darin lag, Vale abzuwimmeln.

- Bei uns ist alles gut. Ich wüsste nicht, dass es ein Problem gibt. Ich habe im Moment durch meine Prüfungen nur wenig Zeit und weiß deswegen bestimmt auch nicht alles. Aber ich rede mal mit ihm. Vielleicht finde ich ja was raus. -

Oh nein, das machte ich ganz bestimmt nicht. Nicht nur, dass Luca nicht begeistert davon wäre, dass Vale mich fragte, er würde mir auch nicht sagen, dass etwas nicht stimmte. Weil Luca mich kannte. Er nahm an, dass mich der Lernstress einnahm, also versuchte er, mich nicht mit seinen Problemen zu belasten.

- Okay, das wäre gut. Vielleicht klärt sich dann ja alles ganz schnell. -

Auch wenn er es nicht ausschrieb, mir war bewusst, dass Vale davon ausging, dass Lucas miese Laune mit mir zu tun hatte. Das war ja wahrscheinlich auch so.
Trotzdem kränkte mich sein versteckter Vorwurf. Vielleicht sollte ich Luca heute Abend bei unserem täglichen Telefonat doch mal darauf ansprechen. Auch wenn ich bezweifelte, dass er dazu irgendwas sagen würde.
Doch Luca sollte mich überraschen. Als ich beim Telefonieren heute wirklich mal darauf achtete, fiel auch mir auf, dass seine Antworten knapper und bissiger waren als sonst. Er klang müde und abgespannt.
Auf meine Frage, ob bei ihm alles in Ordnung sei, antwortete er: „Bei mir vielleicht. Ich mache mir mehr Sorgen um dich, bellezza." „Sorgen? Um mich?", das konnte ich nicht so recht verstehen, „Warum das denn?"
Luca seufzte tief und rang sich zu einer zögerlichen Erklärung durch: „Es ist anders geworden. Du hast dich verändert. Ich höre tagsüber kaum noch etwas von dir und wenn wir abends telefonieren bist du kurz angebunden und hältst mich auf Abstand. Du lässt mich nicht mehr an deinem Leben teilhaben und ich weiß nicht, was los ist. Das macht mich verrückt. Du fehlst mir, aber ich weiß nicht, ob du mich überhaupt noch vermisst."
Luca...", meine Stimme klang gequält, „Natürlich fehlst du mir. Jeden Tag. Und das macht es so schwer für mich. Ich muss mich auf meine Prüfungen konzentrieren. In zwei Wochen muss ich fünf Klausuren schreiben. Mein Tag besteht quasi rund um die Uhr nur aus Lernen. Aber ich kann mich nicht konzentrieren, wenn ich an dich denke. Also muss ich mein Handy tagsüber ausschalten, damit ich nicht abgelenkt bin. Der ganze Stress zerrt an meinen Nerven und dann kam da noch der Brand vor ein paar Tagen..."
Warte, was?", Luca unterbrach mich, „Welcher Brand?" „Ach, eine Küche in der Etage unten drunter hat gebrannt. Nichts weiter Schlimmes, aber in dem Moment hat es mich ziemlich fertig gemacht." „Warum hast du nichts erzählt?", wollte er wissen, doch es fiel mir schwer, das zu erklären: „Ich wollte dich nicht beunruhigen."
Wieder seufzte Luca tief, doch er beließ es dabei. Stattdessen schlug er nun versöhnlichere Töne an: „Ich weiß doch, dass du viel Stress hast. Ich weiß auch, dass du im Moment anderes im Kopf hast. Es fällt mir einfach nur schwer, auf dich zu verzichten und ich habe Angst, dass du dich überforderst."
Ich weiß.", sagte ich schlicht. Ich würde ihm nicht verraten, dass ich schon mit dem Gedanken gespielt hatte, das Studium aufzugeben und mir etwas in Italien zu suchen. Den Gedanken hatte ich bisher immer recht schnell wieder verworfen, da das Risiko zu hoch war. Was, wenn es mit Luca doch nicht langfristig gut ging? Dann stand ich in einem fremden Land, dessen Sprache ich nicht konnte, ganz allein da. Ich sollte einfach dieses Studium durchziehen und danach konnte ich immer noch über Italien nachdenken.
Sofern ich dann noch mit Luca zusammen war.
Das war noch etwas, über das ich mit Luca nicht sprach. In den letzten Tagen hatte ich immer wieder Zweifel an der Beständigkeit unserer Beziehung. Vielleicht hätte ich mich nie darauf einlassen sollen. Es hatte von Anfang an nie gut für uns ausgesehen.

Als das Wochenende näher rückte, hielt ich es in Gelsenkirchen nicht mehr aus. Kurzerhand packte ich am Freitag meine Sachen und lud sie in mein Auto. Ich hatte zwar auch eine Tasche voll nur mit meinen Unterlagen zum Lernen, doch ich wollte nicht das komplette Wochenende nur in die Bücher schauen.
Auf der viereinhalbstündigen Fahrt drehte ich die Musik im Auto so laut auf wie möglich. So brachte ich meinen Kopf zum Schweigen, der mich schon seit Tagen in den Wahnsinn trieb.
Den ersten Abend verbrachte ich zuhause. Den Samstag wollte ich größtenteils mit Lilia verbringen, deswegen gehörte der Freitagabend ganz meiner Familie. Wir gingen alle zusammen in ein Restaurant und saßen anschließend noch eine Weile zusammen im Wohnzimmer vor dem Kamin.
Hier zuhause hatte ich auch endlich wieder die Nerven, regelmäßig auf mein Handy zu schauen. Immer wenn ich das tat, wartete eine Nachricht von Luca oder Marec auf mich, manchmal auch von beiden. Auch mit Fabio schrieb ich endlich mal wieder ausführlich, wenn auch nur über oberflächliche Themen.
Dieser Abend war der erste seit langer Zeit, den ich wirklich genoss. Ich fühlte mich mal nicht gestresst und unter Druck gesetzt. Ja, mir war vorher klar gewesen, dass das Studium hart werden würde, aber wenn dann noch die eigenen Gefühle am Rad drehten, war hart schon fast zu euphemistisch.

Lilia und ich saßen auf der alten Holzbank auf dem kleinen Berg in der Nähe des Hauses meiner Eltern. Im Sommer war man hier gut verborgen hinter hohem Gras und dem dichten Laub der umstehenden Bäume. Doch jetzt im Winter waren die Äste kahl und das Gras lag gelb und platt gedrückt vom letzten Schnee am Boden. Irgendwie passte das zu meiner Stimmung.
Es dauerte gar nicht lang und unser Gespräch kam auf die ganze Luca-Marec-Situation. Wobei es anscheinend nur für mich Marec einschloss. Ich erzählte Lilia ausführlich von all meinen Zweifeln in Bezug auf Luca.
„Die Entfernung ist definitiv ein Problem. Wir sehen uns so selten, da müssen wir uns ja fast schon jedes Mal wieder neu kennenlernen. Was ja auch durch das ganze Zeitproblem kommt. Ich bin voll im Studium eingespannt und kann nicht einfach mal so weg und Luca ist mehr als 200 Tage im Jahr unterwegs. Und wenn er nicht unterwegs ist, muss er trotzdem trainieren. Dann kommt auch einfach die Sprachbarriere dazu. Klar, wir können beide Englisch, aber es ist trotzdem nie das gleiche, wie wenn ich ihm all die Dinge auf Deutsch oder Italienisch sagen könnte. Außerdem ist Luca in Italien ziemlich bekannt und wird es wohl noch mehr, wenn er irgendwann MotoGP fährt. Ich weiß nicht, ob ich mein Leben in die Öffentlichkeit tragen will."
„Bist du dann fertig mit deinem Monolog?", unterbrach Lilia mich missbilligend, „Das klingt für mich nach nichts als Ausreden." Das ließ sie mich erst mal schlucken, bevor sie weitersprach: „Das klingt für mich, als hättest du dich längst entschieden, und zwar dafür, diese Beziehung mit Luca wegzuwerfen. Nachdem ihr beide so lange gebraucht habt, um endlich mal in die Puschen zu kommen. Ich glaube, du würdest Luca damit ziemlich verletzen, wenn du einfach so aufgibst."
„Wo gebe ich denn auf?", empörte ich mich, „Ich habe lediglich dargelegt, woran die Beziehung gerade zu scheitern droht und ich kann nun mal nicht alles davon ausschalten."
„Nein, aber du könntest dich mal ein bisschen anstrengen und kämpfen.", Lilia war nicht wirklich auf meiner Seite. „Du könntest auch einfach zu mir halten, wie man es als beste Freundin sollte.", maulte ich. Genervt verdrehte sie die Augen: „Ich halte zu dir und genau deswegen versuche ich gerade, dich vor einem riesigen Fehler zu bewahren. Du wirst es bereuen, wenn du das alles einfach wegwirfst. Luca ist wie geschaffen für dich."
„Ich werfe überhaupt nichts weg!", rechtfertigte ich mich, „Ich habe gerade einfach nur ein paar Zweifel. Das ist eine Phase. Ich bin mir sicher, das ist spätestens dann wieder vorbei, wenn wir uns wiedersehen." Wenn ich doch nur wirklich so überzeugt davon wäre, wie ich es Lilia gerade vermittelte.
Ich unterdrückte ein Seufzen und zwang mich stattdessen zu einem kleinen Lächeln. Lilia musterte mich noch immer skeptisch, doch sie schien mir zu glauben.
Doch dann machte ich einen Fehler, der mich ziemlich in die Scheiße reiten sollte. Ich murmelte vor mich hin, gerade noch laut genug, dass sie es hören konnte: „Warum konnte sich nicht Marec in mich verlieben. Das hätte alles viel einfacher gemacht."
„Einfacher?!?", hysterisch lachte Lilia auf, „Denkst du allen Ernstes, mit Marec wäre es einfach gewesen? Der Typ ist das Gegenteil von einfach und das weißt du genau. Luca ist viel pflegeleichter. Bei dem wüsstest du wenigstens, weswegen ihr streitet. Marec kann dir ja noch nicht mal sagen, warum er sich seit Neuestem aufführt wie ein eifersüchtiger Irrer. Also erzähl mir nichts von einfacher."
„Er hat sich doch jetzt gut im Griff.", es war ein schwacher Versuch, ihn zu verteidigen und Lilia hielt auch sofort dagegen: „Ja, im Moment. Wer weiß, wie lange noch. Im Ernst, vergiss ihn."
Das riet sie mir jetzt schon seit Jahren. Doch es hatte vor Luca nicht funktioniert und ganz aus meinem Kopf heraus hatte ich ihn selbst jetzt noch nicht bekommen. So langsam hatte ich die Hoffnung aufgegeben, dass ich das jemals schaffen würde.

Nur Minuten nachdem Luca aufgelegt hatte, klingelte mein Handy an diesem Abend erneut. Fabio hatte schon heute Nachmittag angekündigt, dass mal wieder ein Gespräch fällig war.
Schon in den ersten Sekunden des Gesprächs wurde mir klar, dass das nicht von ungefähr kam. Bei ihm war alles bestens, also konnte er nur mit Luca gesprochen haben und der hatte von der komischen Stimmung zwischen uns erzählt. Fabio lenkte das Gespräch auch sofort auf mich. Also erklärte ich ihm genau das, was ich heute schon Lilia erzählt hatte.
Okay, du zweifelst also daran, ob die Beziehung halten kann.", stellte der Franzose nüchtern fest. „Jep.", bestätigte ich knapp und ich konnte förmlich hören, wie es in seinem Kopf ratterte.
Schließlich stellte er eine Frage, mit der ich mich selbst noch nicht beschäftigt hatte: „Und warum gerade jetzt? Ich meine, ihr seid ja schon ein paar Monate zusammen." Ich legte nachdenklich den Kopf in den Nacken und seufzte tief.
Das weiß ich nicht.", gab ich ehrlich zu, „Vielleicht weil ich ihn in meinem Prüfungsstress hier gebraucht hätte, um mich aus meinem Schneckenhaus zu holen und mir ein bisschen was von der Last abzunehmen. Mich manchmal einfach raus zu holen aus meiner Wohnung und so den Kopf für neuen Stoff freimachen. Weißt du, Marec stand letzte Woche einfach so vor meiner Tür und hat mich wirklich mal für ein paar Stunden abgelenkt."
Aha, daher weht also der Wind.", sein Tonfall ließ absolut keinen Schluss auf seine Meinung zu. Und da er keine Anstalten machte, weiterzusprechen, musste ich ihn wohl fragen: „Wie meinst du das?"
Na ja, du fängst genau in dem Moment an zu zweifeln, wenn der Typ, auf den du kurz vor Luca noch total heiß warst, plötzlich wieder präsent ist. Ich weiß nur leider nicht, ob das noch unter ‚Macht der Gewohnheit' fällt, oder schon zu ‚da sind noch Gefühle' gehört.", erklärte Fabio seine Sicht der Dinge.
Eine Sicht, die mir gar nicht gefiel. Denn das würde das ganze letzte Jahr quasi unbedeutend machen und auf all den Schmerz konnte ich ein weiteres Mal gut verzichten.
Als ich still blieb, fing Fabio wieder an zu reden: „Ob du wirklich noch was für diesen Marec empfindest, musst du selbst wissen. Nur entscheide dich nicht vorschnell. Überleg dir gut, ob es eine schon mal gescheiterte Liebe wirklich wert ist, etwas ernstes und Ehrliches, wie das mit Luca aufzugeben."
Ich wusste nicht, ob ich Marec hinter mir gelassen hatte. Ich wusste nur, dass ich ihn eben nicht komplett aus meinem Leben ausschließen konnte und das auch gar nicht wollte. War das schon der Fehler?
Ich will weder den einen noch den anderen aufgeben.", gab ich niedergeschlagen zu. Fabio seufzte: „Ehrlich gesagt bezweifle ich, dass das funktionieren wird. Irgendwann wirst du dich entscheiden müssen. Schiebe es nicht zu weit vor dir her, wenn es so weit ist. Das tut allen Beteiligten nur unnötig weh."
Mich beschlich das ungute Gefühl, dass es dafür schon zu spät war. Hätte ich mich womöglich schon vor Wochen oder Monaten entscheiden müssen?
Woher soll ich denn wissen, wann es so weit ist?", fragte ich in meiner Verzweiflung. Fabios Antwort war so simpel wie vorhersehbar: „Hör auf dein Herz. Es ist das Einzige, was dir sagen kann, was dich glücklich macht. Und es wird spüren, wann die Zeit gekommen ist."

Am Sonntag musste ich schon wieder zurückfahren. Dieses Mal konnte die Musik im Auto meine Gedanken nicht auf stumm schalten. Ganz im Gegenteil, ich hatte gar keine Lust darauf, Musik zu hören.
Fabios Worte schwebten seit dem gestrigen Abend in meinem Kopf und umkreisten ständig mein Gedankenzentrum, wie ein angriffslustiger Hai.
Eine Entscheidung zwischen Luca und Marec war nicht unbedingt die Lösung meiner Probleme, die ich mir gewünscht hatte. Es wäre mir viel lieber, wenn ich mein Leben weiterhin mit beiden teilen könnte.
Doch Fabio hatte recht. Das würde auf Dauer nicht funktionieren. Entweder musste ich mich dieser Entscheidung stellen, oder einer von beiden würde mir dann irgendwann die Entscheidung abnehmen und das dann nicht im Guten.
Nur konnte mir mein Herz keine Auskunft geben. Beim Gedanken an eine Trennung von Luca zog es sich schmerzhaft zusammen, doch ganz ähnlich reagierte es, wenn ich darüber nachdachte, den Kontakt zu Marec abzubrechen. Danke. So war es mir echt keine Hilfe.

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