Für einen Donnerstag Mitte November war es noch recht warm, als ich in Valencia in Vales Mietwagen stieg. Er trug eine riesige Sonnenbrille, die nicht so aussah, als sollte sie ihn nur vor der Sonne schützen.
„Hey, na bist du wieder fit?", fragte er nach. Ich hatte mich tatsächlich bei Luca angesteckt und lag eine Woche lang flach. Doch jetzt ging es mir wieder gut. „Jep.", antwortete ich, „Alles auskuriert." „Sehr gut.", lachte er, während er auf die Straße bog, „Wir wollen ja nicht, dass Luca sich wieder ansteckt, nicht wahr?"
Valentino drückte einen Knopf am Armaturenbrett und schon öffnete sich das Verdeck des Cabrios. Der Wind fuhr in meine Haare und wirbelte sie wie eine wilde Wolke hinter mir her. So konnte es sich leben lassen.
Die Fahrt dauerte nicht lang. Schon nach etwa einer halben Stunde kamen wir an dem Hotel direkt an der Strecke an. „So.", meinte Vale und hielt den Wagen an, „Dann mach dir mal einen schönen Abend. Wir sehen uns morgen an der Strecke. Mittags in der Hospitality?" „Ja, genau.", bestätigte ich und öffnete die Tür, um auszusteigen. Vale rief mir noch hinterher: „Und wehe, du verrätst Luca etwas!" Lachend schlug ich die Autotür wieder zu und sah ihm hinterher, als er davonfuhr.
Schnell checkte ich an der Rezeption ein und bezog dann mein Zimmer für eine Nacht. Es war hell und bestand zum größten Teil aus dem Bett, aber das war in Ordnung. Morgen würde ich sowieso zu Luca ziehen.
Nach einem ausgiebigen Bad, in Gelsenkirchen hatte ich leider nur eine Dusche, also genoss ich das hier besonders, versuchte ich die Knoten aus meinen Haaren zu bekommen. Das war gar nicht so einfach, gelang mir aber mit der Zeit. Sollte Vale wieder auf die Idee kommen, mich mit einem Cabrio abzuholen, sollte ich mir vorher einen Zopf flechten.
Eigentlich hatte ich mich beim Baden entspannen wollen, doch ich war so auf Lucas Reaktion gespannt, dass ich einfach nicht ruhiger wurde. Hoffentlich konnte ich gleich schlafen.
Doch vorher rief er mich noch an. Er ging ja davon aus, dass ich in Deutschland war und mir das Rennen nur auf dem Fernseher anschauen konnte. „Guten Abend, vita mia.", begrüßte er mich, als ich abnahm. „Hey Luca. Wie war dein Tag?" „Relativ langweilig. Bei mir ändert sich in der nächsten Saison nicht wirklich viel, da bin ich für die Presse eher uninteressant.", erklärte er.
Ich brummte nur zustimmend. Jetzt, wo ich hier auf dem Bett lag, wurde ich doch tatsächlich müde. „Und?", fragte er, „Ist es kalt in Deutschland?" Und ich war wieder wach. Ich hatte keine Ahnung, ob es kalt war. Ich war ja nicht dort.
„Ähm ja... Kälter als in Spanien auf jeden Fall.", wich ich aus. Luca fragte weiter: „Was hast du heute gemacht?" Ahnte er etwas? In diesem Moment befürchtete ich es. Doch auch hier antwortete ich brav und schilderte ihm einen normalen Donnerstag aus meinem Studentenleben.
Er hörte sich das alles geduldig an und trotzdem hatte ich das Gefühl, dass er etwas vermutete. „Ich hätte dich jetzt wirklich gern hier.", seufzte er dann und ich wünschte mich in seine Arme. „Ja.", erwiderte ich, „Das wäre schon nicht schlecht, oder?" Ich konnte sein Schmunzeln auf der anderen Seite förmlich hören.
„Bald sehen wir uns ja wieder.", versuchte ich ihn aufzumuntern, „Weißt du schon, wann du bei welchem Training sein musst?" „Nein, leider nicht."
Bald beendeten wir unser Telefonat. Ich war inzwischen wirklich müde und da die nächsten Tage lang und anstrengend werden würden, kuschelte ich mich in mein Kissen und schloss die Augen. Lucas Gesicht tauchte in meinem Kopf auf und begleitete mich sanft ins Land der Träume.
Schon am Anfang der Boxengasse steuerte ich eine Box an. Fabio winkte mir schon von Weitem. Dass ich nicht gleich zu Luca ging, hatte mehrere Gründe. Zum einen hatte ich noch recht früh am Morgen keine Lust auf Anfeindungen in seiner Box und zweitens waren wir beide später mit Vale zum Essen verabredet. Nur wusste er noch nicht, dass ich auch kam und diese Überraschung wollte ich nicht verderben.
Fabio umarmte mich stürmisch, als ich seine Box ansteuerte. Ich konnte ihn noch nicht mal begrüßen, da hatte er mich schon gefragt, ob ich das erste Freie Training in seiner Box schauen wollte.
„Solange dein Team nichts dagegen hat, gern.", meinte ich und folgte ihm nach drinnen. Sein Teamkollege Joan Mir winkte mir von seiner Seite der Box aus zu und widmete sich dann wieder seinen Unterlagen. Er kannte mich inzwischen auch schon. Einige Teammitglieder nickten mir zu oder begrüßten mich knapp, doch alles in allem wurde ich wenig beachtet.
Solange er sich noch nicht vorbereiten musste, saß Fabio bei mir und erzählte mir von seinen Fortschritten bei Aurelie. Zufällig kannte einer seiner Kumpels sie recht gut und hatte ihm ihre Telefonnummer gegeben. Jetzt standen die beiden in regelmäßigem Kontakt und telefonierten sogar fast jeden Abend.
„Das klingt ja super!", freute ich mich für ihn und sein strahlendes Lächeln wurde noch ein bisschen breiter. Fabio konnte mir sogar ein Foto von ihr zeigen. Es war eine zierliche, blauäugige Blondine. Ich konnte sie mir wirklich gut neben ihm vorstellen. Na hoffentlich vermasselte er es nicht.
Dann wurde es langsam Zeit. Das erste Freie Training stand in den Startlöchern. Es war kühl, aber die Sonne schien. Fabio zog sich betont langsam an, erst die Kombi, dann die Stiefel, dann der Helm und schließlich die Handschuhe. Auf dem Weg zu seinem Motorrad holte er sich von seinem gesamten Team noch mal ein paar Schulterklopfer ab.
Er zeigte, was er konnte. Anscheinend wollte er die Saison 2016 besonders gut abschließen. Er stand als 4. auf der Zeitenliste, als das Training abgewunken wurde. „Nicht schlecht.", empfing ich ihn zurück in der Box und gab ihm einen anerkennenden High-Five.
Gemeinsam fläzten wir uns in den hinteren Teil der Box, um das Team nicht zu stören, und schauten uns auch die anderen Freien Trainings an. Vale schien auch gut drauf zu sein, denn er wurde 2. in der MotoGP.
Bei Luca sah das leider etwas anders aus. Obwohl es noch wärmer wurde, fast 20 Grad, und das eigentlich genau sein Wetter war, wollte ihm keine wirklich schnelle Runde gelingen. Er beendete das Training nur auf Platz 26.
Danach war es auch schon Zeit, mich wieder auf den Weg zu machen. Ich musste ins Fahrerlager und nach der Yamaha-Hospitality suchen. Fabio ließ mich gleich aus der hinteren Tür der Box raus, so musste ich nicht ganz außen rum laufen.
Es dauerte auch gar nicht lang, bis ich mein Ziel gefunden hatte. Vale wartete draußen auf mich. Ich hatte nämlich Bedenken geäußert, dass man mich sonst einfach so hätte hineinspazieren lassen.
Meine Anspannung stieg unaufhörlich je näher wir dem Tisch kamen, an dem sich Luca schon allein niedergelassen hatte. Noch hatte er uns nicht bemerkt. Er starrte nämlich mit bösem Blick sein Handy an. Selbst als wir schon fast vor ihm standen, war ihm noch nichts aufgefallen.
Schließlich räusperte sich Vale, was zu einem erschrockenen Aufsehen seitens Luca führte. Und dann klappte ihm einfach der Mund auf. Das Handy landete unsanft auf dem Tisch, als er aufsprang und fast schon über den Tisch hinweg auf mich hinzugestürmt kam.
Ich verlor den Boden unter den Füßen, als er mich hochhob und herumwirbelte. Das Glitzern in seinen Augen drang tief bis in mein Herz und brachte es zum Schmelzen. Gab es etwas Perfekteres als diesen schlichten Moment des Wiedersehens? Für mich nicht.
Als er das Herumwirbeln sein ließ, dachte er noch lange nicht daran, mich wieder runter zu lassen, geschweige denn mich loszulassen. Doch daran störte ich mich nicht. Stattdessen presste ich stürmisch meine Lippen auf seine. Ich ließ ihm keine Chance, diesem Kuss zu entkommen. Andererseits fühlte es sich nicht so an, als wollte er das. Er erwiderte den Kuss mindestens genauso eifrig und es brauchte Vale, um uns daran zu erinnern, wo wir uns gerade befanden.
„Ich kann's nicht fassen!", keuchte Luca schließlich, als wir zu dritt am Tisch saßen und unsere Paellas löffelten. Noch immer konnte er das Grinsen nicht von seinem Gesicht verbannen.
Vale und ich warfen uns einen Blick zu. Plan geglückt! „Wie lange habt ihr beide das schon geplant?", wollte Luca jetzt wissen. „Müsste in der Woche gewesen sein, als du so krank warst.", überlegte Vale und ich nickte zustimmend.
Selbst nach dem Essen blieb das breite Grinsen erhalten. Die Wege von Vale und uns beiden trennten sich schließlich. Jeder musste wieder in seine Box. Diesmal blieb ich bei ihm und folgte ihm, wenn auch zaghaft.
Ich traute mich schon fast aufzuatmen, als mir nicht gleich eine Welle der Ablehnung entgegenschlug. Doch eine gewisse Anspannung blieb, vor allem als mir Mario das erste Mal über den Weg lief. Ich hielt für eine Sekunde den Atem an. Aber alles, was ich bekam, war ein beiläufiges Nicken. Hatte er mich nicht erkannt?
Doch nur ein paar Augenblicke später rief er Luca zu sich. Ich verzog mich in meine übliche Ecke und versuchte, keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Das klappte auch eine ganze Weile ganz gut. Emanuele war der Einzige, der mich offensichtlich bemerkte und auch begrüßte. Alle anderen zeigten es nicht, wenn sie mich bemerkt hatten. Aber das war okay für mich.
Pünktlich zum Beginn des zweiten Freien Trainings der Moto3 war Luca wieder bei mir. Wir verfolgten Fabios Fahrt und waren beide der Meinung, dass er es seinem zukünftigen Teamchef zeigen wollte. Doch am Ende landete er mit einem minimalen Abstand von zwei tausendstel Sekunden hinter Jorge Navarro auf Platz 7. Das würde ihn sicher auf die Palme bringen.
Für Vale lief das zweite Training nicht ganz so gut wie das erste. Am Ende lag er nur auf Platz 8 und die Fernsehbilder zeigten ihn in einer angespannten Diskussion mit seinem Team.
Jetzt musste Luca raus. Ich wünschte ihm noch viel Glück, bevor er sich Helm und Handschuhe anzog. Immer noch ein wenig eingeschüchtert blieb ich auf meinem Platz in der Box, während das Team raus an den Kommandostand ging. Doch noch bevor es losging, kamen zwei von ihnen zurück. Sie zogen sich zwei Stühle heran und setzten sich neben mich. Meinen verwirrten Blick kommentierte einer von ihnen nur mit einem: „Damit du nicht so alleine bist." Dann verfolgten wir Lucas Fahrt auf Platz 25.
Eine kleine Diskussion hatte es gegeben, als Luca meinte, dass er mit seinem Team zu Abend essen wollte. Von der Idee alleine zu essen war ich nicht wirklich begeistert und mitkommen stellte ich mir unangenehm vor. Auch wenn das Team heute aufgeschlossener gewesen war.
Schließlich hatte ich mich doch breitschlagen lassen. Also saß ich jetzt mehr oder weniger stumm neben ihm am Tisch und probierte brav alles, was der Teamkoch mir anbot. Das Essen war gar nicht schlecht.
Trotzdem fühlte ich mich noch unbehaglich. Die Gespräche um mich herum drehten sich ums Motorradfahren und wirklich mitreden konnte ich da nicht. Abgesehen davon wollte ich mich auch nicht ungebeten einmischen. Auch Luca sprach heute nicht viel mit mir. Aber das nahm ich ihm nicht übel. Er sollte sich ja nicht ausschließen, nur weil ich dabei war.
Nach dem Essen fand sich das Team noch in lockeren Grüppchen zusammen, um sich weiter zu unterhalten. Luca versprach mir, dass er nur noch ein oder zwei Gespräche führen wollte und wir dann ins Motorhome zurückkehren würden. Also stand ich jetzt irgendwo mitten im Raum und sah mich ein wenig um.
So bemerkte ich Mario erst, als er vor mir stand. Augenblicklich zog ich den Kopf ein. Doch er bedeutete mir nur wortlos, ihm zu folgen. Also tat ich das wohl lieber. Ein wenig mehr am Rand, wo uns nicht jeder sofort sehen konnte, blieb er schließlich stehen. Ich zögerte noch ein wenig, bevor ich mich zu ihm gesellte.
Sein Blick verunsicherte mich. Ich konnte nicht einschätzen, was er von mir wollte. „Also, Vanessa...", begann er, „Ich glaube, ich sollte mich entschuldigen und wahrscheinlich den Großteil des Teams mit einschließen. Wir waren nicht wirklich fair dir gegenüber und..." Er stockte.
„Ich dachte, du solltest vielleicht wissen, warum...", jetzt fehlten ihm anscheinend die Worte, „Also, Luca ist quasi bei uns groß geworden. Viele von uns haben sehr lange mit Valentino zusammen gearbeitet und so haben wir Luca aufwachsen sehen. Seine Mutter hat ihn ständig mit an die Strecke gebracht, aber wenn Vale fuhr, dann haben wir auf ihn aufgepasst, damit sie sich auf Valentino konzentrieren konnte. Luca hat viel von uns gelernt und wir haben uns untereinander immer mehr wie eine Familie betrachtet. Wir haben seinen ersten Liebeskummer mitgemacht und auch den zweiten und dritten. Wir haben gesehen, wie es ihm damals ging und wie sehr sich das auf das Motorradfahren ausgewirkt hat. Wahrscheinlich wollten wir ihn davor nur beschützen. Das ist ganz sicher keine Entschuldigung, aber vielleicht kannst du verstehen, dass wir dir persönlich nichts Böses wollten."
„Ist schon okay.", winkte ich ab, „Ich bin euch nicht böse. Ich kann das schon nachvollziehen." Mario sah etwas entspannter aus: „Wir wollten einfach nur nicht, dass er zu sehr abgelenkt wird. Allerdings scheint er abgelenkter zu sein, wenn du nicht dabei bist."
„Alles was ich will, ist, dass es ihm gut geht.", antwortete ich schlicht. Mario quittierte das mit einem Nicken: „Dann sind wir ja einer Meinung." „Sieht ganz so aus.", sagte ich noch, dann verließ er mich wieder.
Als ich zu meiner Warteposition zurückkehrte, wartete Luca schon dort auf mich. „Alles in Ordnung?", fragte er mich besorgt und legte mir den Arm um die Hüfte. Ich schmiegte mich in seine Berührung und nickte: „Alles gut. Ich habe mit Mario gesprochen und ich glaube, wir sind auf einen Nenner gekommen."
Lucas Augen leuchteten begeistert auf. „Das ist ja toll!", rief er aus, „Vielleicht wird es dann etwas ruhiger in der Box." Meine Begeisterung klang ein wenig ab, doch ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen.
Der Abend wurde nicht mehr lang. Als wir zurück im Motorhome waren, gingen wir beide nur noch ins Bett. Ich war müde und Luca musste auch morgen wieder fit sein. So dauerte es nicht lang, bis wir zusammengekuschelt einschliefen.
Am nächsten Morgen wartete gleich die nächste Überraschung auf mich. Als wir die Box betraten, wurde uns aus jeder Ecke ein freundliches „Guten Morgen" entgegengerufen. Ich verzog mich gleich wieder in meine übliche Ecke und pflanzte mich auf meinen Stuhl.
„Hey, komm doch ein bisschen hier rüber. Da siehst du die Bildschirme besser.", rief mir einer der Fahrwerksspezialisten zu. Ein wenig zögerlich zog ich meinen Stuhl mehr in die Mitte der Box.
Luca schob einen zweiten Stuhl neben mich und kurz darauf tauchte auch Balda auf meiner anderen Seite auf. Die beiden lehnten sich zurück und studierten ihre Datenblätter, solange das dritte Freie Training der Moto3 noch nicht begonnen hatte. Ich tippte noch ein wenig auf meinem Handy herum, um niemandem im Weg zu sein.
Kurz bevor das Training begann, zeigte der Sender eine Wettervorhersage für heute. Es sollte sonnig bleiben und fast 20 Grad warm werden.
Fabios hellblaue Kombi tauchte regelmäßig auf den Bildschirmen auf. Er war recht schnell unterwegs und lag ein paar Mal sogar an der Spitze des Feldes. Am Ende waren nur drei Fahrer schneller als er. Er wurde wieder Vierter.
Jetzt war es wieder Zeit für Valentino. Luca und Balda nutzten die kurze Pause, um sich schon mal die Lederkombi anzuziehen. Das Team warf regelmäßig einen Blick auf den Bildschirm, wie mir heute ganz besonders auffiel. Vielleicht weil ich jetzt wusste, dass viele von ihnen mit Vale zu tun hatten. Sie beobachteten seine Fahrt auf Platz 9, während sie die Bikes von Luca und Balda vorbereiteten.
Als es so weit war, holte sich Luca noch seinen Glückskuss ab. „Hey, ich will auch!", rief mir Balda lachend zu, doch ich schüttelte den Kopf. Stattdessen lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück und beobachtete, wie sich die Box leerte. So konnte ich mich ganz in Ruhe auf Lucas Training konzentrieren. Am Ende stand er auf Platz 25 der Zeitenliste.
„Verdammt! Wieder nur eine 1:36!", fluchte Luca, als er die Zeitenliste in der Hand hielt. Mario stützte sich neben ihm auf sein Knie und meinte: „Wir müssen wirklich eine 1:35 schaffen, wenn du im Quali eine Chance haben willst." „Das weiß ich.", Luca klang angespannt. Ich wollte aufstehen, um den beiden etwas mehr Ruhe zu verschaffen.
Doch Mario legte mir eine Hand aufs Knie und sagte: „Nein, nein. Bleib nur sitzen. Wir beide sind hier gleich fertig." In Zeitlupe sank ich zurück in meinen Stuhl. Mario ging jetzt dazu über, Luca mit Fragen zu Löchern: „Was sagst du zur Federspannung vorne? Und hinten? Waren die Reifen heiß genug? Hat das Fahrwerk gepasst? Müssen wir noch was verstellen?" Das wurde mir zu technisch, also konzentrierte ich mich lieber auf den Saisonrückblick, der im Fernsehen lief.
Nach der Mittagspause war wieder die Moto3 die erste Klasse, die auf die Strecke ging. Fabio fuhr genauso schnelle Zeiten wie am Morgen, doch jetzt reichten sie nicht mehr für Platz 4. Er wurde nur noch 23. und hatte damit morgen im Rennen sehr viel vor sich.
Vor dem Qualifying der MotoGP wurde Vale noch 5. im vierten Freien Training. Im Qualifying konnte er sich sogar noch mal verbessern. Er erreichte Startplatz 3 für das letzte Rennen dieser Saison.
Jetzt war wieder Luca an der Reihe. Als er gerade aus der Box gefahren war, machte sich sein Team auf den Weg an den Kommandostand. „Hey Vanessa,", rief mir Mario zu, „willst du mit rüber kommen?" Überrascht folgte ich dem Team an die Boxenmauer.
Sechs Bildschirme hingen im Kommandostand und zeigten die verschiedensten Daten an. Einer zeigte die Fernsehbilder, einer die aktuelle Position aller Fahrer auf der Rennstrecke, einer die aktuellen Zeiten, einer die schnellsten Zeiten, einer die Platzierungen, einer den Highspeed... Davor saßen zwei Datarecording-Verantwortliche mit ihren Laptops und überwachten die Daten, die Baldas und Lucas Bikes in Echtzeit an sie sendeten.
Die Hälfte der Zeit war schon um, als das Team langsam unruhig wurde. „Komm schon, Luca. Du brauchst die 1:35.", brummelte einer vor sich hin. Doch er wurde einfach nicht schneller.
Und dann, endlich leuchtete die ersehnte 1:35 auf dem Bildschirm auf. Das katapultierte Luca in der Liste gleich deutlich nach vorn. Aber dann wurden auch die anderen immer schneller und er wurde wieder nach unten durchgereicht. Die Anspannung im ganzen Team war deutlich zu spüren.
Am Ende wurde er nur 18., aber ihm fehlte keine Sekunde auf die Spitze und nur 9 Tausendstel auf den Fahrer vor ihm. Allerdings konnte ich verstehen, dass er nicht glücklich mit dem Ergebnis war. „Ich hätte echt gedacht, wir schaffen es weiter vor, mit dieser Zeit.", seufzte er, als er gerade den Helm abgesetzt hatte.
„Ich finde, du kannst ziemlich stolz auf dich sein.", meinte ich besänftigend und nahm ihm seine Handschuhe ab, damit er den Rest seiner Schutzkleidung ausziehen konnte, „Dein Ziel hast du erreicht." „Da gebe ich dir recht. Was die anderen machen, können wir nicht vorhersagen.", pflichtete mir Emanuele bei, der gerade zufällig vorbeigekommen war. Luca zuckte nur mit den Schultern.
Fabio hatte gerade sein Rennen auf Platz 14 beendet. Damit war seine Zeit in der Moto3 vorbei. Er sah doch ein wenig wehmütig aus, als er zurück an seine Box kam.
Luca hatte jetzt noch eine knappe halbe Stunde, bevor er an den Start ging. Er war sich gerade umziehen. Dann tauchte plötzlich Milena vor mir auf. Sie drückte mir ein Bündel Klamotten und High-Heels in die Hand und befahl mir: „Geh mal hinter zu Luca und zieh dich auch um. In einer Viertelstunde geht's in die Startaufstellung."
Ich war ein wenig verwirrt, doch ich befolgte die Anweisung. An der Tür zum Teamtruck hinter der Box klopfte ich zögerlich, doch anscheinend laut genug. Luca öffnete fast sofort die Tür und stand nur in Unterwäsche vor mir. Stumm schluckte ich und sah mir seinen schlanken Körper ganz genau an. „Oh, hi.", er wurde ein wenig rot, „Komm rein, was gibt's denn?"
Ich hielt ihm die Schuhe und das Bündel vor die Nase und meinte: „Ich soll das anziehen." „Okay. Komm hier hinter. Da sieht man dich nicht gleich, wenn man vorn zur Tür reinkommt.", Luca lotste mich in den hinteren Teil des Trucks, wo eine Sitzecke rund um einen kleinen Kaffeetisch stand.
Während Luca sich in seine Kombi zwängte, besah ich mir das Bündel in meinen Händen genauer. Es war ein kurzes, figurbetontes Kleid in den Teamfarben. Die Schuhe passten ebenfalls farblich dazu.
Gerade als ich in das Kleid geschlüpft war und die Schuhe angezogen hatte, kam Luca in seiner Kombi zurück in den Raum. „Oh, wow.", entfuhr es ihm. Mit großen Augen musterte er mich. Ich spürte die Hitze in meine Wangen steigen und sah verlegen zu Boden.
Seine Körperwärme hüllte mich ein, als Luca hinter mich trat und seine Hände auf meine Oberarme legte. Leicht wie eine Feder streifte sein Atem meine Haut, als er einen sanften Kuss auf meinen Nacken drückte. Verträumt schloss ich meine Augen und ließ mich gegen ihn sinken. „Dolce cuoricino amato.", flüsterte Luca. Für einen Moment war alles perfekt.
Und dann klopfte es an der Tür. „Seid ihr beiden fertig? Wir müssen gleich raus!", schallte Milenas Stimme durch die Tür. „Sind unterwegs!", rief Luca zurück. Aber erst nach einem Kuss ließ er mich los.
Hand in Hand schlenderten wir in die Box. Dort trennten sich unsere Wege recht schnell. Luca sprach noch mal mit seinem Team, während er sich seine Stiefel, den Helm und die Handschuhe anzog. Ich dagegen bekam einen schwarz-orangenen Schirm in die Hand gedrückt und wurde von Milena direkt mit raus an den Kommandostand genommen. Sie erklärte mir kurz den Ablauf der Startaufstellung, doch das kannte ich alles schon aus dem Junior Cup von meinem Bruder.
„Umso besser.", sagte sie dazu und reichte mir eine große Sonnenbrille. Die erinnerte mich ein wenig an die, die Vale getragen hatte, als er mich vom Flughafen abgeholt hatte.
Bewaffnet mit Sonnenbrille, High-Heels und Schirm und in Begleitung von Lucas Team setzte ich den ersten Schritt auf die Start-Ziel-Gerade. Ein leichter Wind blies mir die Haare ins Gesicht und den staubigen Gummigeruch in die Nase. Ich atmete tief ein. Die Spannung kroch aus dem Asphalt langsam in meine Glieder. Zeit für mein Kameralächeln.
Das verstärkte sich noch, als ich schließlich am richtigen Platz stand und den Schirm aufspannte. Nur wenig später rollte Luca in die Startaufstellung und stellte den Motor seines Motorrades ab. Er setzte den Helm ab und eine Sonnenbrille auf. In den zehn Minuten, die er jetzt hier stand, gab er ungefähr fünf Interviews und lächelte für zahlreiche Fotos. Und ich stand daneben und lächelte auch.
Schließlich kam das Signal. Luca setzte den Helm wieder auf. Das komplette Team außer Mario und mir verließ die Strecke. Beiläufig griff Luca nach meiner freien Hand und drückte sie kurz. Ich sah ihn an. Für eine Sekunde verschmolzen unsere Blicke.
Dann kam das Signal für Mario und mich. Ich machte den Schirm zu und stolzierte Mario hinterher runter von der Strecke. Noch auf dem Weg zum Kommandostand wurden die Fahrer in die Einführungsrunde geschickt.
Pünktlich zum Start saß ich auf einem Stuhl am Kommandostand und konnte das Renngeschehen verfolgen. Es war kein leichtes Rennen. Am Start machte Luca einen Fehler und verlor viele Plätze. Die konnte er im Laufe des Rennens nicht wieder gut machen. Wir konnten sehen, dass er kämpfte, aber es wollte kein Überholmanöver gelingen. Als 22. überfuhr er die Ziellinie.
Luca war enttäuscht. Es kostete mich einiges an Überzeugungskraft, ihn wieder aus seinem Motorhome zu kriegen.
„Ich wollte Rookie oft the Year werden.", schnaubte er und verschränkte die Arme vor der Brust, während wir am Kommandostand saßen, um uns Vales Rennen anzusehen. Ich seufzte tief und legte eine Hand auf seinen Oberschenkel: „Das weiß ich. Und du hast alles gegeben." „Davon kann ich mir nichts kaufen."
Ich nahm meine Hand wieder weg und drehte mich weg von ihm hin zur Strecke. „Das ist mir schon klar.", sagte ich, „Aber du kannst es nicht mehr ändern. Mir ist es ehrlich gesagt lieber, dass du es heute nicht übertrieben hast, und heil angekommen bist."
Luca seufzte wieder, doch er sagte nichts mehr dazu. Wir sahen uns Vales Rennen an. Auf Platz 4 verpasste er knapp das Podium.
Damit war diese Saison vorbei. Das letzte Rennen war gefahren, alle Punkte waren vergeben. Der eine war glücklich, der andere nicht. Doch schon in ein paar Wochen begann die Saison 2017 mit den ersten Testtagen. Für den einen änderte sich viel, für den anderen nicht.
Nur eins war klar: Zeit zum Entspannen hat ein Motorradrennfahrer nicht.
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Italian Dream
FanfictionFür sie ändert sich an einem Wochenende das ganze Leben. Für ihn auch, nur weiß sie das nicht und wird es so schnell auch nicht erfahren. Oder doch? Luca Marini ist ein junger, ambitionierter Motorradrennfahrer, gerade frisch in die Weltmeisterschaf...