Wirklich gut schlafen konnte ich in dieser Nacht nicht. Und das lag nicht an dem Lärm, der vom Ankerberg zu meinen Ohren vordrang. Mit dem konnte ich umgehen, denn an der Rennstrecke wurde es nie wirklich leise.
Es war mein Kopf, der mich nicht in Ruhe ließ. Jedes Mal wenn ich gerade fast eingeschlafen war, kreisten meine Gedanken um diese hellblauen Augen. Diese Augen, die mich schon den ganzen Abend verfolgten. Die Augen, die ich unbedingt wiedersehen wollte.
Falls es nicht diese Augen waren, die mich wachhielten, dann war es eine sanfte Stimme, die mit diesem deutlichen italienischen Akzent meine Gedanken durcheinanderwirbelte. Ich konnte mir nur vorstellen, wie schön es klingen würde, wenn diese Stimme tatsächlich Italienisch sprach.
Schließlich war es die Müdigkeit, die meinen Kopf bezwang und so schlief ich dann doch noch ein.
Motorengeräusche weckten mich am nächsten Morgen. Um mich herum schlief meine ganze Familie noch. Ich aber quälte mich aus dem Bett und zog mich an.
Na ja, zumindest versuchte ich das. Ich probierte bestimmt zehn verschiedene Outfits, bevor ich mich für eine schwarze Jeans und ein meerblaues T-Shirt entschied. Mir war gar nicht klar gewesen, dass ich so viele Klamotten dabeihatte.
Aus dem Schrank kramte ich meine grau, schwarz und weißen Sneaker hervor und verließ dann möglichst leise den Wohnwagen. Es war ein Wunder, dass meine Eltern noch nicht aufgewacht waren. Bei dem Herumgewusel. Ich schloss die Tür hinter mir und drehte mich schwungvoll um.
Dabei stieß ich mit ziemlicher Wucht gegen etwas, oder besser gesagt jemanden.
Ich keuchte auf. Doch bevor ich rückwärts gegen den Wohnwagen knallen konnte, hielten mich starke Arme fest. Sie zogen mich regelrecht an den von Muskeln gestählten Körper vor mir.
Ein bekannter Duft stieg mir in die Nase und drang von dort langsam in mein Hirn vor, vernebelte meine Gedanken und brachte mich nur noch mehr aus dem Konzept. Meine Hand landete automatisch auf der Brust vor mir.
Nur langsam hob ich den Blick und sah in seine Augen. Marec sah mit weichem Blick auf mich hinunter. So hatte er mich noch nie angesehen. Ein warmes Leuchten lag in seinen Augen, die mich heute so intensiv wie noch nie durchbohrten. So wie er mich ansah wirkte das fast schon zärtlich.
Ohne mich aus den Augen zu lassen, hob er eine Hand von meiner Hüfte und strich mit den Fingerspitzen hauchzart über mein Schlüsselbein und meinen Hals entlang. Schließlich legte sich seine Hand an meine Wange und hob mein Gesicht vorsichtig noch ein klein wenig an. Ein siegessicheres Lächeln trat auf sein Gesicht.
Der Nebel aus meinem Hirn verschwand. Schlagartig wurde mir klar, worauf das gerade hinauslief. Ich löste seine Hand von meiner Wange und trat einen Schritt zurück. Soweit mir das eben möglich war, denn Marec hielt meine Taille noch immer mit einem Arm umschlungen.
Marec senkte den Blick etwas und räusperte sich. Dann ließ er mich los und fragte zögerlich: „Alles okay bei dir?" Ich nickte nur.
Nervös fuhr er sich durch die Haare und sah mich verstohlen von der Seite an: „Hast du schon was gefrühstückt?" „Ne, bin gerade erst aufgestanden.", erwiderte ich fröstelnd. Es war ziemlich kalt und vor allem nass hier. Es hatte die ganze zweite Hälfte der Nacht geregnet.
Ein Schmunzeln schlich sich auf Marecs Lippen. „Magst du mit zu uns rüberkommen? Mama hat schon Frühstück gemacht. Da kann ich dir auch einen Pulli von mir geben.", meinte er mit einem Zwinkern. Mir schoss die Röte ins Gesicht. War es wirklich so offensichtlich, dass mir kalt war? „Ja, gern.", seufzte ich, denn ich konnte echt etwas zu Essen vertragen und was Warmes zum Anziehen wäre auch nicht schlecht. Wer sagte schon nein, wenn man ein eigentlich viel zu großes Sweatshirt zum Einkuscheln bekommen konnte.
Nach einem entspannten Frühstück mit Marecs Eltern machten wir uns auf den Weg an die Strecke. Die Warm Ups begannen schon ziemlich früh.
Pünktlich um 8.40 Uhr standen wir an derselben Stelle wie gestern und warteten auf die ersten Fahrer der Moto3-Klasse. Aber eigentlich konnte ich es kaum abwarten, bis endlich Luca auf die Strecke ging. Ich wollte ihn fahren sehen. Motorradfahrer waren eben einfach schon aus Prinzip heißer als alle anderen.
Auch bei Marec blieb meine Nervosität nicht unbemerkt. Irgendwann im Laufe des Turns legte er mir beruhigend einen Arm um die Schultern und zog mich zu sich heran. Tatsächlich löste seine Berührung die Anspannung in meinem Körper.
Bis die Session der Moto3 vorbei war. Die Pause von 5 Minuten verbrachte ich noch an ihn gelehnt. Nur meine Finger krallten sich in den Stoff des schwarzen Pullis, den ich von ihm bekommen hatte. Mit verschränkten Armen beobachtete ich, wie die letzten Fahrer in die Boxengasse zurückkehrten.
Mit meinen Blicken suchte ich die Boxengasse ab. Mein Blick fiel auf zwei großgewachsene Fahrer, die gemeinsam durch die Box schlenderten. Einer von ihnen trug eine blaue Lederkombi mit einem neon-gelben Bein. Er gestikulierte wild, während er dem zweiten Fahrer in einer weiß-orangenen Kombi wohl irgendetwas erklärte. Auch Marec beobachtete die beiden ganz genau und mit zusammengekniffenen Augen. „Ich hätte auch gern einen persönlichen Mentor, so wie dein Luca.", grinste er mich plötzlich an. „Er ist nicht mein Luca.", protestierte ich schwach.
Es handelte sich wirklich um Luca, der gerade neben Valentino Rossi vor seiner Box zum Stehen gekommen war und dort seinen Helm von einem der Mechaniker entgegennahm. Mit einer geschickten Bewegung setzte er ihn auf und rückte ihn auf seinem Kopf zurecht.
Dann sprang er schon fast auf die inzwischen bereitgestellte Kalex und nahm letzte Anweisungen seines Teams entgegen. Vale klopfte ihm auf den Rücken, dann wurde das Bike gestartet. Luca gesellte sich zu den anderen Moto2- Fahrern, die jetzt auf die 3.671 Meter lange Strecke gingen. Die Ampel am Ausgang der Boxengasse war gerade auf Grün gesprungen.
Die Fahrer waren alle auf Regenreifen unterwegs. Die Strecke war nass und das Wetter konnte sich nicht so richtig zwischen Regen oder kein Regen entscheiden. Eine nasse Strecke machte es den Fahrern aber nicht unbedingt leichter.
Als Luca das erste Mal wieder über die Gerade schoss, riss ich mich schließlich von Marec los und trat ganz nah an den Zaun heran. Lucas Reifen zogen auf dem nass glänzenden Asphalt eine deutliche Spur hinter sich her. Das musste sich doch anfühlen wie schwimmen.
So sah es allerdings auch aus. Luca schienen die Bedingungen überhaupt nicht zu liegen.
Auf der Geraden konnte man einen ziemlich großen Geschwindigkeitsunterschied zwischen ihm und dem schnellsten Fahrer Xavier Simeon sehen. Und der zog sich über die gesamte Strecke.
Ich betete, dass er einen guten Rhythmus fand und dann angreifen konnte. Aber am Ende reichte seine Zeit nur für Platz 25. Ich hoffte, dass sich das Wetter bis zu seinem Rennen verbesserte oder er dann ein wenig besser mit den Reifen und dem Motorrad zurechtkam.
Nachdem er abgewunken worden war, kehrte Luca zurück an seine Box. Drei Mechaniker übernahmen sofort das Bike und schoben es ins Innere der Box. Ein viertes Teammitglied schnappte sich Luca und zog ihn kompromisslos hinter sich her. Der ließ wiederum sichtlich die Schultern hängen und wirkte ziemlich geknickt.
Vom MotoGP-Warm-Up sahen wir uns nur die Hälfte an, denn ich war viel zu aufgeregt, um mich überhaupt auf das Geschehen auf der Strecke zu konzentrieren. Marec merkte das und beschloss schließlich, mich zurück zu bringen.
„Wie oft willst du dich noch umziehen?", Marec saß schon fast neben dem Bett vor Lachen. Er amüsierte sich hier köstlich, während ich einfach nur verzweifelte. Ich hatte keine Ahnung, was ich anziehen sollte!
„Marec!", maulte ich, „Ich habe keine Ahnung, was ich anziehen soll!" „Wie wäre es denn mit Unterwäsche, einer Jeans und einem T-Shirt?", der machte sich doch über mich lustig. „Marec!", zischte ich ihn an und zerrte die fünfte Jeans aus dem Schrank.
Plötzlich stand mein bester Freund hinter mir und legte seine Hände auf meine.
Sanft löste er den Stoff der Jeans aus meinem Griff und legte sie beiseite. Dann drehte er mich zu sich um und sah mir intensiv in die Augen.
Leise sprach er auf mich ein: „Hey. Ganz ruhig. Du bist wunderschön, ganz egal, was du anhast. Und wenn Luca das nicht sieht, dann ist er wohl ziemlich blind."
Jetzt musste ich sogar ein bisschen lächeln. Marec ließ mich los und lehnte sich zu dem riesigen Klamottenstapel neben ihm. Von dort reichte er mir wieder meine dunkelblaue Lieblingsjeans und ein schlichtes weißes Top. Während ich die Sachen anzog, suchte Marec nach meinen Sneakern der Marke British Knights in hellgrau und lila und einem Sweatshirt von Nike, das zufällig den gleichen Lilaton hatte, wie die Schuhe.
„Danke.", seufzte ich leise, als ich fertig war. Marec nahm mich in den Arm und flüsterte: „Kein Problem. Hab viel Spaß mit dem Italiener." Er zwinkerte mir zu und ließ mich dann allein.
Nach dem Ende aller Warm Ups wartete ich am Eingang des Fahrerlagers auf meine Eskorte. Wie ich meinen Abholer überhaupt erkennen sollte, war mir noch nicht so ganz klar. Schließlich kannte ich niemandem aus dem Team und ich bezweifelte stark, dass Luca selbst kam.
Doch schon nach wenigen Minuten fiel mir jemand auf einem Roller in denselben Farben wie Lucas Kalex auf. Er trug die gleiche Jacke wie Luca gestern. Der musste also zum Team gehören. Meine Finger klammerten sich automatisch fester um die schneeweißen Sneaker in meiner Hand.
Als der Roller vor mir zum Stehen kam, rutschte mir das Herz endgültig in die Hose. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Es war Mario.
„Hallo. Du bist Vanessa, oder?", seine Stimme klang rau und ziemlich streng. Ich nickte nur und nahm die Hand, die er mir entgegenstreckte. Seine Mundwinkel zuckten ein wenig, als er sich vorstellte: „Ich bin Mario. Lucas und Lorris Chefmechaniker." Ich quetschte mir mühsam ein „Hallo." heraus und verfluchte mich innerlich selbst dafür, dass ich einfach kein vernünftiges Wort herausbekam.
Marios Blick wurde ein wenig freundlicher, als er auf den Sozius seines Rollers klopfte und mich aufforderte: „Los, steig auf. Luca wartet schon. Den kriegen wir schon seit heute Morgen nicht mehr ruhig." Als er Luca erwähnte, begann mein Magen Purzelbäume zu schlagen.
Seufzend stieg ich hinter Mario auf und platzierte vorsichtig meine Hände auf seinen Hüften. Grinsend drehte er sich zu mir um und meinte: „Gut festhalten. Ich will dich nicht auf dem Weg da rüber verlieren. Und häng dir vielleicht das hier um."
Umständlich fummelte er eine kleine Plastikkarte aus seiner Jackentasche. Ich nahm sie verwirrt entgegen und hängte sie mir schnell um den Hals. Denn kaum, dass er die Karte aus der Hand gegeben hatte, gab Mario auch schon Gas.
Ich war beeindruckt. Ohne auch nur einmal die Bremse zu benutzen schlängelte sich Mario durch die Menschenmassen. Mehr als einmal hatte ich einen Zusammenstoß kommen sehen, doch es passierte nichts.
Absolut unbeschadet stieg ich vor der Box des Forward Racing Teams von dem Roller ab und wurde sofort zum wiederholten Mal an diesem Tag fast umgerannt.
Irgendetwas, oder besser irgendjemand zog mich in eine stürmische Umarmung und quietschte neben meinem Ohr: „Ehi, ci sei!" Mein Gesicht wurde an den schmalen, durchtrainierten Körper vor mir gepresst. Vor meinen Augen war alles orange. Zwei starke Arme hatten sich um meine Taille geschlungen und hielten mich so in dieser Umklammerung gefangen.
Endlich wurde mir wieder etwas Luft gelassen und ich konnte den Blick heben, um Luca anzusehen. „Was?", fragte ich einfach nur. Lucas Augenbrauen zogen sich zusammen. Dann hakte er verwirrt nach: „Was was?"
„Du hast gerade Italienisch mit mir gesprochen. Das kann ich leider nicht.", erklärte ich schmunzelnd.
Ein breites Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er verstand. „Das müssen wir dringend ändern.", grinste er. Ich winkte ab und fragte nochmal: „Was hast du gesagt?" „Ich habe mich nur gefreut, dass du da bist.", meinte er verlegen und strich sich mit einer Hand durch die Haare. Die andere hielt mich immer noch fest.
„Hey!", rief plötzlich eine Stimme neben uns, „Nimm sie nicht nur alleine in Beschlag! Wir wollen sie alle kennenlernen!" Luca zuckte zusammen und löste schließlich die Berührung zu mir. Bedauernd warf ich ihm einen Blick zu, doch er fuhr sich schon wieder mit leicht geröteten Wangen durch seine Haare.
Schließlich wandte er sich an sein Team, das sich inzwischen vor der Box versammelt hatte: „Leute, das ist Vanessa. Ich schau mir heute die Rennen mit ihr an und wenn ich fahre, wird sie hier bei euch sein. Also seid lieb zu ihr und passt auf sie auf."
Die Reaktionen des Teams waren ziemlich unterschiedlich. Manche zogen die Augenbrauen zusammen und musterten mich prüfend. Andere nickten nur knapp und wandten sich wieder ihrer Arbeit zu. Ein paar kamen sofort begeistert zu mir und begrüßten mich teilweise auch auf Italienisch. Luca stand brav neben mir und übersetzte mir alles, was ich nicht verstand.
Einer aus dem Team schien aber überhaupt nicht begeistert von mir. Ablehnend hatte er von Anfang an die Arme vor der Brust verschränkt und beäugte mich argwöhnisch. Und als Luca mich vorgestellt hatte, rauschte er sofort herum und schnappte sich Mario. Den hatte er jetzt in eine intensive Diskussion verwickelt. Ich konnte sie hören, nur leider sprachen sie Italienisch. Ich wusste trotzdem, dass es um mich ging. Die verstohlenen Blicke auf mir verrieten mir das.
Als Lorri in mein Blickfeld trat, verdrängte ich die Gedanken an die beiden. Stattdessen erwiderte ich die kurze Umarmung von Lucas Teamkollege und lächelte ihn aufrichtig an. Er lächelte zurück.
Luca rückte keinen Millimeter von mir. „Na endlich bist du da.", lachte Lorri schließlich, „Luca war kaum auszuhalten, wirklich. Der rennt hier schon den ganzen Morgen herum wie ein Flummi." Ich stimmte in sein Lachen ein, während Lucas Wangen eine deutliche Rotfärbung annahmen.
Er stammelte eine Erklärung: „Ich... habe mich eben... gefreut." „Ich mich doch auch.", erwiderte ich beruhigend, „Es ist trotzdem eine lustige Vorstellung." „Oh, es war lustig! Du hättest ihn echt sehen müssen. Er hat es keine fünf Minuten auf einer Stelle ausgehalten. Ich glaube, Mario ist fast wahnsinnig geworden!", ich glaube, in diesem Moment hatte Luca echt das Bedürfnis, Lorri einen sanften Stoß gegen den Hinterkopf zu verpassen. Oder schlimmeres.
Ein Blick auf Luca bestätigte diese Vermutung eher, als sie für falsch zu erklären. Doch anstatt sich dazu hinreißen zu lassen, schüttelte Luca nur einmal kurz den Kopf und sah auf die Uhr.
Lorenzo dagegen erzählte mir davon, wie Luca noch vor dem Moto3-Warm Up mit ihm auf der Strecke gewesen war, um sich die Verhältnisse anzuschauen und dabei über einen Kieselstein gestolpert war. Ich versuchte zwanghaft nicht zu lachen. Lucas „böser Blick", der gar nicht so böse aussah, sondern eher etwas von einem getretenen Hundewelpen hatte, war da nicht wirklich hilfreich.
Nach einer Weile erbarmte ich mich aber und drückte ihm seine Schuhe in die Hand. „Danke noch mal.", meinte ich sanft und lächelte ihn aufrichtig an. Lorri musste schon wieder schmunzeln. Luca brachte die Air Max schnell in die Box.
„Das Rennen fängt bald an. Wollen wir uns das oben auf dem Dach anschauen?", fragte er, als er wieder zu uns kam. Ich nickte begeistert. „Na dann, viel Spaß euch beiden.", Lorri bedachte uns mit einem Lächeln. Doch der Ausdruck in seinen Augen blieb für mich unergründlich. Dann wandte er sich ab und ging in die Box.
Luca seufzte erleichtert auf: „Ich dachte schon, den haben wir jetzt die ganze Zeit an der Backe." „Er ist doch ganz nett.", meinte ich eher beiläufig, während Luca mich zu den Treppen führte. Schließlich musste auch Luca lachen. „Ja, er ist nett. Ich arbeite gerne mit ihm im Team. Aber er weiß manchmal nicht, wann es peinlich wird."
„Wann es für ihn peinlich wird, weiß er bestimmt.", neckte ich den Italiener neben mir. Der schüttelte den Kopf und sagte nur: „Meistens."
Unten in der Boxengasse herrschte jetzt reges Treiben, aber hier oben auf dem Dach standen wir unter einem der Schirme und konnten alles in Ruhe beobachten. Ich war beeindruckt davon, wie viele Mechaniker nötig waren, um ein Bike vorzubereiten.
„Okay, das ist die Moto3.", erklärte Luca plötzlich, „Kleine Motorräder, 250 ccm. Dementsprechend eher was für kleine Fahrer. Also nicht für mich." Dabei grinste er mich an.
Ich musste ihm recht geben. Er war deutlich größer als ich, während viele Fahrer der Moto3 kaum größer als ich waren. Luca musste ungefähr so groß wie Marec sein.
„Ich weiß, was die Moto3 ist.", erwiderte ich und lehnte mich an das Geländer. Luca tat es mir gleich und forderte mich heraus: „Ja, aber weißt du auch, wer von den Jungs vor jedem Rennen mindestens eine Stunde meditiert?" Woher sollte ich das bitte wissen?
Also fragte ich nach: „Wer?" „Keiner.", lachte Luca schließlich. Ich piekte ihn mit dem Finger in die Seite und schimpfte gespielt: „Hey, ärgere mich nicht!"
Theatralisch stöhnte Luca auf und krümmte sich, als hätte ich ihn mit meinem Finger ernsthaft verletzt.
Doch er hatte sich schnell wieder gefangen und rutschte noch etwas näher zu mir. Dann meinte er: „Tut mir leid. Willst du ein paar Fahrerlagergeschichten hören?" Oh, das klang verdammt gut. Ich nickte eifrig.
So vertrieben wir uns die restliche Zeit bis zum Start mit den lustigsten Geschichten aus dem Fahrerlager.
Als die Motorräder ihren Weg in die Einführungsrunde antraten, wurden wir aber still. Die Strecke war noch immer nass, denn der Regen hatte nicht aufgehört. Man konnte also auf jeden Fall ein spannendes Rennen erwarten.
Die Fahrer hatten sich wieder auf ihren Positionen einsortiert und die Startampel ging an. „Los, Jungs.", flüsterte Luca. Wen er damit meinte, wusste ich nicht. In einem bunten Mix aus Motorrädern verschwand das Fahrerfeld aus unserem Sichtfeld und kam erst an der Sachsenkurve wieder hinein. Dort allerdings auch nur für wenige Meter.
Überraschenderweise konnte sich von Anfang an der Malaye Pawi durchsetzen und fuhr dem ganzen restlichen Feld davon. Dahinter konnte sich Andrea Locatelli gegen Enea Bastianini durchsetzen. Die beiden Italiener lieferten sich einen harten Kampf mit einigen anderen Fahrern.
Manchmal fluchte Luca neben mir auf Italienisch. Ich erkannte an der Tonlage, dass es nichts Nettes war, was er sagte. Am Ende war er aber doch ganz zufrieden mit dem Ergebnis. Immerhin waren zwei Italiener auf dem Podium.
Valentino Rossis Nachwuchsteam hatte aber eher schlecht abgeschnitten. Romano Fenati war nur auf Platz 18 angekommen und Nicoló Bulega und Andrea Migno stürzten auf der nassen Strecke. „Das wird Vale nicht gefallen.", seufzte Luca, als wir zu seiner Box zurückkehrten.
Er hatte jetzt nicht mehr viel Zeit bis zu seinem Rennen. Seine Anspannung wuchs, das spürte sogar ich und das obwohl ich ihn kaum kannte. Luca aber versuchte, dass zu überspielen.
Aufmerksam musterte er mich und bemerkte deshalb auch, wie ich mir über die Arme rubbelte. „Ist dir kalt?", fragte er mich sofort. Ich nickte zögerlich. Luca legte einen Arm um mich und zog mich zu sich heran. Das brachte allerdings nicht viel außer einer ordentlichen Menge Herzklopfen.
Zögerlich stand ich am Boxeneingang, doch Luca wollte mich nicht da stehen lassen. „Komm schon mit.", seufzte er, „Es beißt dich schon keiner." „Ich will nicht im Weg stehen.", warf ich ein und runzelte die Stirn. Luca schüttelte den Kopf und versuchte weiter, mich zu überzeugen: „Du stehst nicht im Weg, solange du bei mir bleibst und machst, was ich sage. Also los. Komm jetzt." Schließlich gab ich seufzend nach.
Luca führte mich in den hinteren Teil der Box und dirigierte mich dort zu einem Campingstuhl. „Warte hier.", wies er mich an und verschwand dann zu einer Tür im hinteren Bereich hinaus.
Ich konnte die prüfenden Blicke des ganzen Teams auf mir spüren, doch ich kümmerte mich nicht darum. Nicht im Moment. Später, wenn Luca sein Rennen fuhr, dann hatte ich noch genug Zeit, um mir Gedanken zu machen.
Es dauerte nicht lang, bis Luca wieder vor mir stand und mir eine weiß- und orangefarbene Jacke entgegenstreckte. Verwirrt blinzelte ich ihn an. „Damit du nicht frierst.", erklärte Luca und ich nahm die Jacke dankbar an.
Jetzt so kurz vor dem Rennen hatte Luca nicht mehr viel Zeit für mich. Abwechselnd wuselte er wild durch die Box oder saß ruhig und mit Kopfhörern auf in einer Ecke.
Plötzlich stand er wieder vor mir und grinste mich an. „Nach dem Rennen zeige ich dir das Fahrerlager.", verkündete er seinen neuesten Einfall. Ich lachte und warf dann ein: „Ich würde mir gern auch das MotoGP- Rennen anschauen." „Ich doch auch.", meinte er noch und wirbelte schon wieder weiter.
Ich schüttelte gerade noch verträumt vor mich hin lächelnd den Kopf über den Wirbelwind, als Mario neben mir auftauchte. „Du störst seine Konzentration.", stellte er einfach nur völlig emotionslos fest. „Wie bitte?", hakte ich verwirrt nach.
„Luca kann sich nicht richtig konzentrieren, wenn du ihn ständig ansprichst.", warf er mir vor. Doch ich unterbrach ihn: „Ich spreche ihn nicht an. Ich habe selbst aktive Motorradfahrer in der Familie und ich weiß, wie wichtig die Konzentrationsphase ist. Wenn er zu mir kommt, dann von sich aus." „Es gefällt mir trotzdem nicht. Auch nicht, dass du hier bist.", knurrte Mario und ließ mich sitzen.
Ich kam gar nicht dazu, mich über diese Aktion zu ärgern. Luca fluchte plötzlich laut vor sich hin und zog die Aufmerksamkeit der ganzen Box auf sich. Alle redeten auf Italienisch auf ihn ein. Ich hielt mich bewusst im Hintergrund, um nicht noch mehr den Zorn des Mario auf mich zu ziehen.
Doch Luca kam erneut von sich aus zu mir. Er ließ seine gesamte Boxencrew stehen und sank vor dem Stuhl, auf dem ich saß auf den Boden. Dann lehnte er seinen Kopf an meine Beine.
In Gedanken versunken streichelte ich durch seine weichen Haare und fragte fast flüsternd: „Was ist los?" Mit leiser, vor Verzweiflung fast schon weinerlicher Stimme antwortete er: „Mein... Glücksbringer ist gerade kaputtgegangen."
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Italian Dream
Hayran KurguFür sie ändert sich an einem Wochenende das ganze Leben. Für ihn auch, nur weiß sie das nicht und wird es so schnell auch nicht erfahren. Oder doch? Luca Marini ist ein junger, ambitionierter Motorradrennfahrer, gerade frisch in die Weltmeisterschaf...