Heimrennen

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Hey, Vanessa hier.", meldete ich mich am Telefon, als mein Gesprächspartner endlich ran ging, „Der Freitag wird nichts. Das schaffe ich nicht." „Also der Flug am Samstag?", fragte es am anderen Ende der Leitung und ich bestätigte: „Ja, genau. Danke, dass du dich darum kümmerst."
Ich balancierte mein Handy zwischen Ohr und Schulter. Gleichzeitig hantierte ich mit Maßband und Zollstock, um mein zukünftiges Zimmer auszumessen. „Ich schicke dir die Flugtickets, sobald ich sie habe.", er überging meinen Dank und sprach weiter, „Ich kann auch nach einem Flug am Freitagabend suchen."
Das wäre für alle wahrscheinlich das Einfachste, doch ich musste am Freitag bis in die Nacht arbeiten, da ich heute freibekommen hatte. „Geht leider nicht.", seufzte ich, „Dafür, dass ich mir heute meine Wohnung anschauen darf, muss ich am Freitag bis Mitternacht arbeiten." „In Ordnung. Dann bleibt es bei Samstagmorgen." „Ja.", ich seufzte wieder. Der Flug würde schon um 6 Uhr gehen, also war an Schlaf eigentlich fast nicht zu denken.
Er verabschiedete sich schließlich und ich schrieb mir weiter alle Maße auf den Zettel vor mir. Es war ein helles Zimmer mit zwei recht großen Fenstern. Das eine ging Richtung Süden und das andere nach Osten. So hatte ich zwar die Mittagssonne im Zimmer, konnte aber abends bedenkenlos die Fenster aufreißen.
Ich war froh, ein Zimmer im Wohnheim bekommen zu haben. Ich hatte gehört, dass die Warteliste ziemlich lang war. Von meinen zukünftigen Mitbewohnern schien keiner zuhause zu sein.
Nach ein paar Stunden fuhr ich zurück nach Osnabrück und holte mir zuallererst etwas zu essen in der Innenstadt. Wenn ich den Rest des Tages aushalten wollte, ohne jemandem die Augen auszukratzen, dann sollte ich lieber nicht hungrig sein.
„Gott sei dank bist du da!", begrüßte mich Diana. Sie sah schon wieder aus, als hätte sie drei Tage durchgearbeitet. Stress ließ ihre sowieso schon helle Haut noch blasser erscheinen. Ich stellte meine Tasche auf dem Schreibtisch ab und fragte: „Was gibt's zu tun?" „Genug.", kam aus der Ecke der Moderatorin. Sie war über ihre Unterlagen gebeugt und sofort wieder völlig vertieft.
Diana gab mir einen Stapel Papier und erklärte: „Das sind die Leute, die für heute noch ein Interview zugesagt haben. Problem an der ganzen Sache ist, in der Zeit, in der die angerufen werden wollen, hab ich zeitgleich auch andere Interviews." „Ich kümmere mich drum. Ich nehm einfach das Telefon im zweiten Studio.", meinte ich und legte den Stapel auf meinem Schreibtisch ab.
„Dann...", fuhr Diana fort, „...brauchen wir immer noch drei Interviewpartner für das „Thema des Tages" nächste Woche. Da habe ich zwar schon ein paar Telefonate geführt, aber noch niemanden für nächste Woche erreichen können. Die Termine stehen im Kalender." „Ich spreche gleich mal mit Bernd.", Bernd war der Marketingleiter und wenn wir keine Interviewpartner fanden, hatte er eigentlich immer jemanden an der Hand.
„Noch was?", fragte ich und Diana nickte. „Ich darf ja keine Beiträge mehr einsprechen.", stellte sie mit bitterem Unterton fest, „Also musst du nachher noch drei Beiträge sprechen und zwei Kollegengespräche. Die kannst du aber auch morgen live machen, wenn du das nicht mehr schaffst, hat Maria gesagt." „Gut, dann an die Arbeit.", meinte ich und besah mir den Stapel Papier.
Ich fühlte mich, als hätte ich die Arbeit eines ganzen Tages allein gemacht. Innerhalb von vier Stunden. Ich war völlig hinüber und echt froh, als mein Kopf das Kissen berührte.
Eine Weile hatte ich wohl schon geschlafen, als mein Handy mich noch mal weckte. Lucas Nummer erschien auf dem Display. „Hey, Luca.", meldete ich mich. „Hallo, pulcino.", erwiderte er meinen Gruß, „Du klingst müde." „Ich habe auch schon geschlafen. War ein langer Tag heute." „Erzähl mir davon!", forderte er mich auf und so berichtete ich ihm lang und breit von meinem Tag. Anschließend hörte ich ihm geduldig zu, während er mir vom Training auf der Ranch berichtete.
Irgendwann sagte er: „Es ist wirklich schade, dass du am Wochenende nicht dabei sein kannst." Mit diesem Satz zauberte er mir ein Lächeln auf die Lippen und ich musste mich echt zusammenreißen, damit ich nichts verriet.
Du hast recht. Das ist wirklich sehr schade.", erwiderte ich schlicht und grinste vor mich hin. Oh Luca, wenn du wüsstest!
Ich hätte dir gern Misano gezeigt.", meinte er, „Und die Strecke ist auch nur zwanzig Minuten von Tavullia weg. Dann hätten wir bei mir zuhause mal reinschauen können." „Mach mir bitte kein schlechtes Gewissen.", bat ich ihn, da ich es kaum noch aushielt. Wenn er so weitermachte, verriet ich meinen Plan noch. „Sorry.", nuschelte er, „Es wäre einfach eine gute Gelegenheit gewesen." Ich versuchte, ihn zu besänftigen: „Die kommt auch wieder. Ich komme dich auf jeden Fall in Italien besuchen. Aus der Nummer kommst du nicht mehr raus." „Will ich ja gar nicht.", entgegnete er.
Ein paar Minuten später verabschiedeten wir uns und verabredeten das nächste Gespräch für den morgigen Abend. So ging es inzwischen eine ganze Weile. Ich freute mich immer schon den ganzen Tag darauf, abends seine Stimme zu hören.

Zwei Tage später am Frühstückstisch brachte meine Hotelmami mir einen Brief an den Tisch. „Der war gestern im Briefkasten.", sagte sie und reichte mir den Umschlag. Ich bedankte mich höflich und schaute mir den Umschlag an.
Die Handschrift war ziemlich unleserlich. Dass der Postbote überhaupt die Adresse hatte lesen können, wunderte mich. Ich konnte den Absender nicht entziffern.
Also öffnete ich den Brief und zog ein Flugticket nach Rimini heraus. Daneben lag noch eine kleine, handschriftliche Notiz auf Italienisch. Danke, Valentino. Du weißt doch genau, dass ich kein Italienisch kann.
Später als ich in der Stadt unterwegs war, kündigte mein Handy eine neue Nachricht an.

- Ist das Ticket angekommen? -


- Ja, ist es. Auch wenn ich nicht weiß, was das hier heißen soll.-,


schrieb ich zurück und schickte ein Foto der Notiz hinterher. Noch bevor die Nachricht Valentino erreichte, kam von ihm ein Foto von Luca, der sich offensichtlich gerade auf Vales Ranch mit Balda im Dreck herumwälzte. Darunter stand:

- Manchmal glaube ich, er ist doch erst 10.-

Keine Minute später kam auch die Antwort auf meine Nachricht.

- Das heißt: Ich freue mich auf dich. Ich dachte, das könntest du vielleicht irgendwann mal gebrauchen. -

Das ließ ich einfach mal so stehen. Beides.

Da heute Freitag war, hatte ich vormittags Zeit, um ein wenig in der Stadt zu bummeln. Ich musste erst 15.00 Uhr im Studio sein und essen wollte ich in dem Restaurant direkt vor der Studiotür.
Ich fand einen kleinen Park und suchte mir dort im Schatten einer Buche eine Bank. Aus meiner Tasche fischte ich das Buch, das ich mir extra eingepackt hatte. Doch ich hatte keine Lust zu lesen. Stattdessen tippte ich auf dem Handy herum, scrollte mich durch Facebook und Instagram.
Die Langeweile ergriff recht schnell Besitz von mir. Vielleicht hatte Lilia Zeit zum Telefonieren. Von ihr hatte ich eine ganze Weile nichts gehört. Und tatsächlich hatte sie Spätschicht und musste erst gegen 13.00 Uhr los zu ihrem Dienst.
„Erzähl mal. Hast du was von Luca gehört?", wollte sie wissen. Geduldig beantwortete ich ihre Fragen: „Wir telefonieren jeden Abend und schreiben eigentlich immer noch durchgehend." „Dann hat er wohl doch mehr Interesse an dir." „Och Lilia, hör auf damit.", maulte ich, „Ich will davon nichts mehr hören. Ich weiß nicht, ob er Interesse hat und ehrlich gesagt glaube ich es auch nicht."
„Ich würde dir wirklich gern widersprechen, aber na gut.", oh wow, sie gab ja heute richtig schnell nach. Das verleitete mich zu einer unbedachten Äußerung: „Ich fliege morgen nach Italien und er weiß nichts davon."
„Halt! Stop!", fuhr sie dazwischen, „Das musst du mir erklären." „Ich überrasche ihn bei seinem Heimrennen.", meinte ich.
Lilia brach in Gelächter aus. Es dauerte eine ganze Ecke, bis sie sich wieder beruhigt hatte und ich saß die ganze Zeit auf meiner Bank, ohne zu wissen, warum sie lachte. Sie schnappte noch ein paar Mal nach Luft, dann japste sie: „Hör auf mir zu erzählen, dass du nicht auf ihn stehst!" „Ich mag ihn. Ich mag ihn wirklich gern.", erwiderte ich, „Dabei würde ich es für den Moment gerne belassen."
Komischerweise war das auch für sie in Ordnung. Wir sprachen noch eine Weile über Gott und die Welt, bevor sie schließlich losmusste. Auch ich machte mich auf den Weg, um noch etwas zu essen.

Meine Aufgaben für diesen Abend lagen schon schön gestapelt auf meinem Schreibtisch, als ich in die Redaktion kam. Die anderen waren schon fast im Feierabendmodus, während ich den Haufen Zettel vor mir sortierte.
An diesem Abend produzierte ich zwei ganze Tage an Sendungen vor, tüftelte an Wettervorhersagen und Baustellenmeldungen und sprach und schnitt gefühlt zwanzig Beiträge. Okay, es waren nur elf. Aber am Ende war ich trotzdem erledigt und freute mich mehr als alles andere darauf, ein paar Tage Ruhe zu haben. Die nächste Woche war schon meine letzte hier in der Redaktion. Danach begann das Studium.
Ein wenig wehmütig sah ich aus den großen, bodentiefen Fenstern hinaus auf die nächtliche Fußgängerzone. In diesem Moment war ich mir nicht sicher, ob Osnabrück mir fehlen würde. Die letzte Zeit war doch sehr stressig geworden und irgendwie konnte ich mir gut vorstellen, ohne meinen Chef zu leben. Diana würde mir auf jeden Fall fehlen. Doch wir konnten ja in Kontakt bleiben.
Schließlich riss ich mich vom Anblick der dunklen Straße los und fuhr zurück ins Hotel. Dort stellte ich meine Tasche direkt neben die Tür und legte mich schlafen. Der Wecker klingelte eh schon früh genug.

Ich hatte ein schlechtes Gewissen, als ich am Flughafen saß, darauf wartete, dass das Boarding begann und die Ergebnisse vom gestrigen Tag im Internet suchte. Luca hatte das erste Freie Training als 22. abgeschlossen und war beim zweiten 21. gewesen. Dann suchte ich Vales Ergebnisse, Schnellster im ersten und Sechster im zweiten Training, und zum Schluss auch noch Fabios. Der war im ersten Training Sechster und im zweiten 25. geworden.
Schließlich wurde mein Flug aufgerufen und ich stellte mich in der Schlange an. Es dauerte nicht lang, bis ich an der Reihe war und das Flugzeug besteigen konnte. Mein Platz lag am Fenster. Die beiden Plätze neben mir waren ebenfalls belegt.
Während wir flogen, beobachtete ich die aufgehende Sonne. Ab und zu schnappte ich einzelne Gesprächsfetzen der umliegenden Sitze auf. Einige von ihnen waren ebenfalls auf dem Weg nach Misano.
Ich versteckte meine müden Augen die ganze Zeit hinter einer Sonnenbrille. Immerhin wollte ich keinen Zombiealarm auslösen. Mein direkter Sitznachbar beschwerte sich allerdings bei seinem Nachbarn darüber und bat schließlich sogar die Stewardess, mich zur Ordnung zu rufen. Die widersprach allerdings: „Junger Mann, es tut mir sehr leid, aber wenn sie möchte, darf sie gern die Sonnenbrille aufgesetzt lassen." Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen.
„Das findest du lustig, was?", zischte mein Nachbar mir plötzlich ins Ohr, „Warte nur, bis wir gelandet sind, kleine Ziege. Dann wird dir das Lachen vergehen." „Ich weiß nicht, was ihr Problem ist. Meins ist, dass ich die halbe Nacht durchgearbeitet habe und ich auch dementsprechend aussehe. Also wäre ich ihnen sehr verbunden, wenn sie mich einfach in Ruhe lassen würden.", ich zwang mich zu einer höflichen Antwort und wandte mich dann wieder meinem Fenster zu. Meine Güte und so was zum frühen Morgen!
Trotzdem ging ich nach der Landung auf Nummer sicher und behielt diesen gruseligen Typen im Auge. Alles, was ich für das Wochenende brauchte, hatte ins Handgepäck gepasst, also musste ich nicht an der Gepäckausgabe warten. Er allerdings auch nicht. Er lief parallel von mir mit einigen Metern Abstand auf den Ausgang zu. Ich betete innerlich, dass er einfach verschwand und mich nicht sah.
Doch gerade als wir vor den Flughafen traten, drehte er sich in meine Richtung. Etwas zuckte in seinem Gesicht und er kam schnurstracks auf mich zu.
In diesem Moment entdeckte mich Vale. Er war schneller bei mir, als ich gucken konnte und riss mich in einer stürmischen Umarmung vom Boden hoch. Lachend schnipste ich gegen seine Schirmmütze und forderte: „Lass mich runter!"
Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er mich persönlich abholen würde. Hinter seinem Rücken konnte ich sehen, wie der gruselige Typ abdrehte und auf ein Taxi zusteuerte. Erleichtert atmete ich auf.
Dann hatte ich wieder festen Boden unter den Füßen. „Schön, dass du da bist. Komm, lass uns zur Strecke fahren.", Vale ließ mir kaum einen Moment, um Luft zu holen. Er zog mich hinter sich her zu seinem Auto. Ich saß noch nicht mal richtig, da fuhr er schon los. „Ich bin so gespannt, wie Luca reagiert.", grinste er, während er sich in den Verkehr einfädelte und der Straße nach Misano folgte. Da konnte ich ihm nur zustimmen: „Ich auch." Nervös begann mein Magen zu kribbeln.
Valentino stellte das Radio an und lauschte gespannt der Stimme des Sprechers. Ich konnte nur erahnen, worum es ging.
Mit seinem Auto rollte er bis ans Tor zum Fahrerlager und wurde selbst da einfach durchgewunken. Dieser Promistatus musste toll sein. Vor seinem Motorhome parkte Vale das Auto.
Als ich ausstieg, stand ich plötzlich Emanuele gegenüber. „Hallo.", begrüßte ich ihn und bekam ein freundliches Nicken zurück. Er nahm mir sofort meine Tasche ab. Valentino musste jetzt schnell zu seiner Box, da er bald fahren musste. Emanuele brachte meine Tasche schnell in Lucas Motorhome und brachte mich dann zur Forward-Box.
In der Zwischenzeit waren Fabio und Valentino schon gefahren und Luca ging gerade auf die Strecke, als wir an der Box ankamen. Ich zog mich zurück, denn ich wollte weder dem Team im Weg stehen, noch gleich gesehen werden. Emanuele ließ mich allein und stieß zum restlichen Team.
Von meiner Ecke aus bekam ich nicht so viel vom Training mit, doch ich bemerkte trotzdem, dass Luca offenbar keine herausragenden Zeiten fuhr. Als er zum Reifenwechsel in die Box kam, strahlte er die pure Unzufriedenheit aus.
Ein paar Minuten diskutierte er mit dem Team, während die Mechaniker hier und da an seinem Bike herumwerkelten. Ganz bewusst blieb ich außerhalb seines Blickfeldes. Ich wollte ja nicht die Überraschung verderben. Ob mich vom Team jemand bemerkt hatte, wusste ich nicht.
Nachdem die Trainingszeit abgelaufen war, rollte Luca zurück in die Box. Ich ließ ihm noch Zeit, sich mit seinem Team zu besprechen und wartete so lange in meiner Ecke ab. Obwohl es mir immer schwerer fiel, noch hierzubleiben.
Doch dann wandte Luca sich vom Team ab und steuerte den hinteren Ausgang der Box an. Mist! Wenn Luca jetzt verschwand, hatte ich keine Ahnung, wann er wieder auftauchten würde und ich hatte keine Lust, mich die ganze Zeit vor der Box zu verstecken. Emanuele, der ja als einziger von meiner Anwesenheit wusste, winkte mich in die Box und rief im selben Atemzug Luca etwas hinterher.
Ich konnte quasi spüren, wie Luca die Augen verdrehte, als er sich noch mal zu Emanuele umdrehte. Doch der genervte Ausdruck auf seinem Gesicht verschwand ganz schnell, als er mich am Eingang der Box erkannte.
Eine Sekunde lang starrte er mich nur ungläubig an. Dann breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus und seine Augen begannen zu leuchten, wie die eines kleinen Kindes an Weihnachten. Ich konnte gar nicht so schnell gucken, wie ich in seinen Armen landete. Zum wiederholten Mal an diesem Tag verlor ich den Boden unter den Füßen.
Eine italienische Schimpftirade im Inneren der Box nahm uns allerdings ganz schnell den Wind wieder aus den Segeln. Mario hatte ganz offensichtlich ein Problem mit meinem Auftauchen.
Wenn ich mir die tiefe Rotfärbung seines Gesichts so ansah, war ich ganz froh, kein Wort Italienisch zu können. Luca dagegen wurde neben mir immer kleiner. Die ganze Freude von eben wich aus seinem Körper. Stattdessen kehrte die Anspannung zurück, begleitet von derselben Frustration wie im Training.
Ich nutzte die Gelegenheit, als Mario mal Luft holen musste und ging dazwischen: „Fahr mal wieder runter. Ich wollte eh nur eben ‚Hallo' sagen. In einer Minute bin ich schon wieder verschwunden und ihr habt ihn wieder ganz für euch allein."
Lucas Augen wurden riesig. „Du gehst aber nicht gleich wieder, oder?" „Natürlich nicht.", beruhigte ich ihn, „Ich geh nur eben zu Fabio und suche mir dann einen Platz, wo ich mir die Qualis anschauen kann. Heute Abend bin ich dann wieder ganz für dich da." „Okay, ciccina. Dann sehen wir uns wohl später.", Marios Ausbruch musste echt heftig gewesen sein, wenn Luca mich so schnell gehen ließ.
So verließ ich die Box schneller wieder, als ich erwartet hatte. Draußen in der Boxengasse fiel ein gefühlt tonnenschweres Gewicht von meinen Schultern ab, doch gleichzeitig legte sich ein Mantel aus Bedauern um meine Schulter und drückte meine Stimmung. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich Luca keine fünf Minuten sehen konnte.
Fabio schaffte es aber tatsächlich, meine Stimmung wieder zu heben. Er zeigte mir eine kleine Tribüne in der Boxengasse. Von da aus konnte ich die Qualifikationsläufe ganz entspannt verfolgen.
Der kleine Franzose war als erster dran und zeigte eine ganz passable Leistung. Er fuhr ähnliche Zeiten wie am Vortag, nur reichten die heute nur für Platz 19. Nach diesem Qualifying kam erst noch das vierte Freie Training der MotoGP. Noch bevor Vale überhaupt die Box verließ, war die ganze Strecke in gelben Rauch gehüllt. Als er das Training als Schnellster beendete, konnte man für einige Minuten gar nichts mehr sehen.
Doch pünktlich zum Qualifying 1 hatte sich der gelbe Nebel verzogen. Hier schafften der Ducati-Testfahrer Michele Pirro und Hector Barbera den Sprung ins Q2.
Valentino legte ein wahnsinnig gutes Qualifying hin und das, obwohl er das nie als seine Stärke bezeichnet hatte. Am Ende musste er sich nur seinem Teamkollegen Jorge Lorenzo geschlagen geben. Nur drei Zehntel war er schneller gewesen. Trotzdem feierten die Tifosi, als hätte Rossi schon gewonnen.
Jetzt fehlte nur noch das Quali der Moto2. Bei 28 Grad Luft- und 39 Grad Asphalttemperatur ging die mittlere Klasse auf Zeitenjagd. Mittendrin auch Luca. An seinem Fahrverhalten konnte man sehen, dass ihm das Gefühl fürs Vorderrad doch sehr fehlte. Am Ende fehlten ihm auf Platz 21 fast 1,5 Sekunden zur Spitze. Doch er hatte einen Schritt in die richtige Richtung gemacht.
Das bestätigte er mir auch, als wir uns etwas später trafen und gemeinsam ins Fahrerlager schlenderten. „Ich bin eigentlich ziemlich optimistisch, was Punkte morgen angeht.", meinte er und ich fügte hinzu: „Das wäre wichtig. Noch hast du Chancen ‚Rookie of the Year' zu werden."
Den ‚Rookie of the Year'-Award bekam der schnellste Neueinsteiger des jeweiligen Jahres. Also der, der am Ende der Saison von allen Neueinsteigern die meisten Punkte gesammelt hatte. Luca war da gut dabei.
Wir brauchten deutlich länger als gedacht zu seinem Motorhome. Die italienischen Fans jagten Lucas Autogramme wie kleine Trophäen. Sie freuten sich diebisch über ein Foto mit ihm. Das war schon irgendwie süß. Doch es wurde auch schnell anstrengend. Wenn man einmal auf der Stelle stand, gab es kein Durchkommen mehr. Die Menschen strömten aus jeder Richtung herbei und versuchten sich nach vorn zu drängeln.
Und dann löste sich die Menschenansammlung genauso schnell wieder in Luft auf, wie sie gekommen war. „Daran werde ich mich wohl nie gewöhnen.", murmelte Luca und rückte sein Cap zurecht. Er zog sie sich jetzt deutlich tiefer ins Gesicht, so als hoffte er, dadurch nicht mehr erkannt zu werden.
Vor mich hin lächelnd lief ich neben ihm her. Das musste auch lustig aussehen, wie wir so nebeneinander liefen. Immer mit genug Sicherheitsabstand und beide die Hände in den Taschen.
Wir kamen von der hinteren Seite an Lucas Motorhome heran. Hier lauerten keine Fans auf ihn und wir konnten unbeobachtet die Treppe erklimmen.

Nachdem wir ganz entspannt zusammen gekocht und gegessen hatten, lagen Luca und ich jetzt auf der Couch. Er hatte seine langen, schlanken Beine ausgestreckt und einen Arm um meine Schulter gelegt. Mit der anderen Hand malte er federleichte Kreise auf meinen Arm. Mein Kopf lehnte an seiner Schulter, während ich einfach seine Nähe genoss.
Im Hintergrund lief leise der Fernseher, doch wir achteten nicht darauf. Stattdessen sprachen wir mal wieder über Gott und die Welt. Es war so leicht, ein Gesprächsthema mit ihm zu finden.
Wolltest du dieses Wochenende nicht eigentlich umziehen?", fragte er mich irgendwann. Er konnte es immer noch nicht so richtig glauben, dass ich einfach so hier aufgetaucht war. „Nein.", erklärte ich, „Das ist erst nächste Woche." „In Silverstone hast du aber was anderes gesagt.", Luca zog eine Schmolllippe.
Damit brachte er mich allerdings nur zum Lachen. Deshalb ließ er das ganz schnell wieder. Ich beruhigte mich und erzählte ihm von meinem Plan: „Das war Absicht. Ich wollte dich hier überraschen. Vale hat mir geholfen."
Deswegen war er so komisch.", überlegte Luca, „Aber die Überraschung ist dir echt gelungen. Ich habe zu keiner Sekunde irgendwas geahnt. Dafür habe ich mich umso mehr gefreut." Ich lächelte: „Das hatte ich gehofft." Luca zog mich noch näher zu sich und legte vorsichtig sein Kinn auf meinem Kopf ab. Tief atmete ich durch und war in diesem Moment völlig entspannt.
Danke, dass du gekommen bist.", flüsterte Luca.

Seit einigen Minuten senkte und hob sich Lucas Brust in gleichmäßigen Atemzügen. Es war dunkel. Der Fernseher hatte sich gerade ausgeschaltet.
Ich wusste nicht, wie spät es war. Eine Uhr konnte ich nicht entdecken. Aber das war jetzt auch nicht wichtig. Lieber kuschelte ich mich an Luca. Doch vorher angelte ich noch eine der Wolldecken und breitete sie über uns aus. Dann rutschte ich mich an seiner Seite zurecht und schmiegte mich an ihn.
Müde schloss ich die Augen und lauschte Lucas Atem. Ich spürte, wie ich langsam wegdämmerte.

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