Aufgeben

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Ich wusste, dass es unvernünftig war. Am Montagmorgen um 8 Uhr musste ich zurück in Gelsenkirchen sein und meine Prüfung in Politik schreiben. Lilias Stimme klang noch immer in meinen Ohren nach: „Du bist völlig verrückt!"
Aber das war ja nichts Neues. Immerhin hatte ich in den letzten Wochen schon Unmengen an Arbeit in diese Klausur gesteckt, also konnte ich mir diesen Ausflug erlauben. Das redete ich mir zumindest ein.
Mein Auto stellte ich wieder auf einem außerhalb gelegenen Parkplatz ab. Am Sachsenring musste ich von diesem weiter laufen als in Assen zum Beispiel. Aber das war egal. Ich hatte noch genug Zeit, denn der Einlass ins Fahrerlager ging heute am Donnerstag bis zum Abend.
Meine Familie war schon vor Ort und hatte den Platz im Junior-Cup-Fahrerlager bereits bezogen. Der Platz war beenget hier am Sachsenring, deshalb mussten die Zelte alle sehr eng zusammen stehen. Aber das war eben so als Teil des Rahmenprogramms. Die Organisatoren aber vor allem auch die Fahrer waren dankbar, überhaupt ein Teil dieser MotoGP-Veranstaltung sein zu dürfen. Die Zelte neben unserem gehörten zu Gina und Felix. Damit konnte ich leben.
Unser Fahrerlager war immer noch in Bewegung, als mein Handy am frühen Abend klingelte. Wenn ich das richtig im Kopf hatte, müsste die Donnerstag-Pressekonferenz der drei MotoGP-Klassen gerade vorbei sein.
Ich suchte mir schnell eine ruhige Ecke, um rangehen zu können. Die Stimmen im Hintergrund am anderen Ende der Leitung waren so laut, dass ich erst einmal gar nichts verstand. Doch als sich Fabio schließlich an mich wandte, konnte ich ihn gut hören: „Entschuldige, jetzt bin ich für dich da."
Gut zu wissen, nur hast du mich angerufen.", feixte ich. Im Hintergrund war der startende Motor eines Rollers zu hören. Nach und nach verstummten die Hintergrundgeräusche.
Oui.", er klang etwas abgelenkt, nahm das Handy zwischendurch auch definitiv nochmal vom Ohr, um mit jemandem zu sprechen. Ich konnte nur warten, bis er wieder bei mir war: „Sag mir, wo ich hinmuss, damit ich dich sehen kann." Das kam unerwartet.
Ich brauchte einen Moment, dann gab ich zurück: „Wo bist du?" „Wir waren in dieser Halle mit Bühne.", erklärt er, „Jetzt steh ich kurz nach diesem grünen Tor und weiß nicht, ob ich nach links oder rechts muss."
Wahrscheinlich rechts. Geht es da bergauf? Siehst du von dort das x-lite-Logo?", ich war in meinem Leben schon so oft am Sachsenring gewesen, dass ich erahnen konnte, wo er gerade war. Er bestätigte meine Vermutungen und ich wies ihn an: „Gut, dann folge da einfach der Straße, bis du an die nächste Kreuzung kommst. Dann wieder rechts. Da solltest du dann am Eingang zu eurem Fahrerlager vorbeikommen. Kurz danach geht es links um eine Kurve und noch ein ganzes Stück geradeaus. Wir treffen uns dort gegenüber vom Eingang zur Boxengasse an einem grünen Müllcontainer. Ich weiß nicht, ob du mit deinem Ticket bei uns ins Fahrerlager kommst."
Fabio antwortete mir nochmal, doch durch das Aufheulen des Rollermotors konnte ich ihn nicht verstehen. Dann hatte er aufgelegt. Ich steckte mein Handy zurück in meine Hosentasche und ging zurück in unser Zelt.
Dort traf ich meine Mutter an. „Mama, kannst du mir mal dein Ticket geben?", immerhin musste ich ja Fabio irgendwie hier rein kriegen. Skeptisch sah sie mich an: „Wieso?" „Wir bekommen Besuch.", ich wollte noch nicht verraten, dass Fabio kam. Den kannten meine Eltern nämlich noch nicht.
Doch Mama gab sich mit meiner Antwort noch nicht so ganz zufrieden: „Wer kommt denn?" „Du bist zu neugierig.", grinste ich und Mama verdrehte die Augen: „Weiß ich. Na gut, hier."
Mit meinem Ticket an einem Schlüsselband um den Hals hängend und dem zweiten in der Hand machte ich mich auf den Weg. Ich hatte es nicht weit, aber ich ging davon aus, dass Fabio mit dem Roller kam. Wenn er nur ansatzweise so herum heizte wie Luca, dann war er in zehn Minuten hier.
Und ich sollte recht behalten. Allein am Fahrstil erkannte ich schon von Weitem, dass Fabio auf seinem Roller um die Kurve kam. Für alle anderen war er wahrscheinlich nicht so leicht zu erkennen. Seine weiße Team-Jacke, die mit den Sponsorenlogos bedruckt war, hatte er bis ganz oben zugezogen und den Kragen aufgestellt, sodass dieser einen Teil seines Gesichts verdeckte. Den Schirm seines Caps hatte er tief nach unten gezogen und der Rest seines Gesichts wurde durch die überdimensionale Pilotensonnenbrille auf seiner Nase versteckt.
Können wir bitte ganz schnell irgendwohin, wo ich nicht so schnell erkannt werde?", fragte er sofort, als er vor mir abbremste. Er rutschte auf seinem Sitz nach vor, so dass ich hinter ihm aufsteigen konnte.
Ich zögerte. Aber für die zehn Meter bis zu unserem Zelt sollte das gehen. „Da rüber durch das Tor.", wies ich ihn auf die andere Straßenseite und fummelte ihm sein Ticket um den Hals. Er lenkte den Roller vorsichtig quer über die Straße und ließ ihn dann langsam bis zu dem entsprechenden Tor rollen.
Der Sicherheitsmann davor ließ uns rein, ohne uns wirklich zu beachten. Ich gab Fabio Anweisungen und lotste ihn so bis genau vor unser Zelt. Er ließ mich absteigen und stellte den Roller dann etwas versteckt zwischen Zelt und Transporter ab.
Erst als ich ihn mit ins Zelt genommen hatte, entspannte er sichtlich. Er öffnete den Reißverschluss der Jacke und setzte die Sonnenbrille ab. Die legte er zusammen mit seiner Cap auf dem Tisch ab und fuhr sich dann erstmal mit beiden Händen durch seine Haare. „Du hast dir nicht ernsthaft die Spitzen blond gefärbt.", grinste ich ihn an. Er hielt in seiner Bewegung inne und meinte: „Doch, wieso?"
Sieht ganz toll aus.", ich bekam das Grinsen nicht wieder aus dem Gesicht. Fabio stieg darauf ein: „Find ich auch!" Dann fingen wir beide an zu lachen.
Komm erstmal her!", forderte er schließlich und zog mich in eine stürmische Umarmung, „Wir haben uns viel zu lange nicht mehr gesehen!" „Stimmt.", gab ich wehmütig zu. „Du musst das mit Luca ganz schnell wieder hinkriegen, damit ich dich öfter sehen kann.", nuschelte er in seinen nicht vorhandenen Bart. Ich gab ein langgezogenes Seufzen von mir. Darüber wollte ich jetzt nicht reden.
Als ich mich aus seiner unnachgiebigen Umklammerung befreit hatte, hängte ich die vordere Zeltwand ein. So konnte man von draußen nicht mehr ins Zelt schauen und die Gefahr, dass Fabio gleich für das ganze Fahrerlager Autogramme schreiben musste, verringerte sich deutlich. Ich hatte keine Ahnung, wo meine Familie steckte, aber durch die Tür in der Zeltwand konnten sie problemlos rein kommen.
Willst du was trinken?", fragte ich meinen Lieblingsfranzosen, der sich auf einen der Stühle gepflanzt hatte. „Wasser wäre großartig.", ich wusste, dass er lieber etwas anderes wollte. Aber ich wusste auch, dass sein Ernährungsplan in dieser Saison strenger geworden war. Also stellte ich ihm ein Glas Wasser vor die Nase und nahm mir aus Solidarität auch eins.
Wir saßen uns eine Weile einfach nur gegenüber und tauschten Neuigkeiten aus. Er war übrigens auch der Meinung, dass es völlig verrückt von mir war, zum Sachsenring gekommen zu sein. Aber er war nicht überrascht darüber.
Vor der Zeltwand näherten sich Stimmen. Ich konnte sie nicht sofort einordnen, also bedeutete ich Fabio hektisch, still zu sein. Seine braunen Augen fixierten mich wie ein verschrecktes Reh. Er sah aus, als würde er schon nach einem Fluchtweg suchen.
Doch ich entspannte mich schnell wieder. Die Stimme, die ich gehört hatte, konnte ich schnell meinem Bruder zuordnen.
Nur einen Moment später riss mein Bruder die Zeltplane zur Seite und rief: „Warum hast du das Zelt zugemacht?" Hinter ihm folgten meine Eltern. Flo war so damit beschäftigt, seinen Helm aus dem Helmregal zu fummeln, dass er gar nicht bemerkte, dass ich nicht allein war.
Fabio aber war sofort aus seinem Stuhl aufgesprungen und meine Eltern hatten ihn auch schon beim Reinkommen erspäht. Er wirkte auf einen Schlag richtig schüchtern. So kannte ich ihn gar nicht. Ich musste ein Schmunzeln unterdrücken.
Trotzdem ging er zielstrebig auf meinen Dad zu und hielt ihm seine Hand hin. Als Papa den Händedruck erwiderte, stellte er sich vor: „Hi, ich bin Fabio." „Freut mich. Fillip.", antwortete mein Papa. Dann wandte Fabio sich an meine Mum und stellt sich auch ihr vor.
Flo tauchte an meiner Seite auf und flüsterte mir zu: „Ist das Fabio Quartararo?" Ich nickte. „Wo hast du den denn aufgegabelt?" „Wir haben uns letztes Jahr hier am Sachsenring kennengelernt.", erklärte ich, „Seitdem haben wir regelmäßig Kontakt." „Dein Glück möchte ich mal haben.", schnaubte Flo kopfschüttelnd, dann nahm Fabio seine Aufmerksamkeit in Beschlag.
Du bist Flo, oder?", fragte Fabio, als er vor uns auftauchte. Mein Brüderchen nickte und wirkte ein wenig überfordert, als er stammelte: „Woher weißt du das?" „Deine Schwester hat mir schon ziemlich viel von dir erzählt.", Fabio legte mir grinsend einen Arm um die Schultern und zwinkerte Flo zu.
Ich nahm seinen Arm und hob ihn von mir. Dann schubste ich Fabio ein bisschen weg und stichelte: „Du fragst ja auch ständig nach ihm." „Ich interessiere mich für dein Leben.", konterte Fabio, „Das machen Freunde so." „Ja ja.", grinste ich.
„Ja ja heißt ‚Leck mich am Arsch'.", murmelte Flo, als er an uns vorbei ging und sich an den Tisch setzte. „Was?", Fabio sah ihm verwirrt hinterher und dann mit dem gleichen Blick zu mir. Ich schüttelte den Kopf: „Das übersetze ich dir ganz sicher nicht!"
Papa schickte uns an die Seite, denn er wollte jetzt Flos KTM für seine Sessions morgen vorbereiten. Plötzlich war ich absolut uninteressant. Fabio klebte sich an Papas Hintern und fragte ihn über die KTM aus. Papa beantwortete geduldig seine Fragen und spannte ihn nach und nach immer mehr ins Schrauben ein. Am Ende bauten die beiden zusammen die Räder aus, damit Flo diese zum Reifenwechsel bringen konnte. Dann bekam Fabio die Aufgabe, die Kette zu putzen, während Papa die Gabelholme kontrollierte. Als Flo die Räder wieder zurückgebracht hatte, überprüften die beiden auch noch die Bremsen und wechselten die Beläge. Anschließend bauten sie die Räder wieder ein.
Ich habe seit Ewigkeiten nicht mehr so richtig geschraubt.", Fabios Augen leuchteten, als wir alle zusammen am Tisch saßen. „Danke, dass ich dir helfen durfte.", bedankte er sich aufrichtig bei meinem Vater.
Flo hatte den Streckenplan vor sich liegen und lenkte damit Fabios Aufmerksamkeit auf sich. Der schnappte sich seinen Stuhl und schob diesen auf den freien Platz neben Flo. Dann verstrickte er meinen Bruder in eine Diskussion über Ideallinien, Gänge und Bremspunkte.
Es machte mich glücklich zu sehen, wie gut Fabio sich in meine Familie einfügte. Gleichzeitig erinnerte es mich an Luca, bei dem das ja ganz ähnlich gewesen war. Ich seufzte schwermütig.
Sofort hob Fabio den Blick und sah mich an. Fragend legte er den Kopf schief, doch ich winkte ab. Es war alles gut. Nur in meinem Herzen zwickte es mal wieder.
Der Abend schritt weiter voran. Auf dem Tisch standen Nüsse, mit denen Fabio und Flo sich inzwischen gegenseitig bewarfen. Eigentlich hatten sie ganz ursprünglich mal versucht, mit der Nuss den Mund des jeweils anderen zu treffen. Aber das war ziemlich schnell ausgeartet.
Mama unterbrach die beiden schließlich: „Fabio, willst du etwas mit uns essen? Wir wollen gleich grillen." „Wenn du mich so fragst...", grinste er. Ich machte den Spielverderber: „Was sagt der Ernährungsplan?" Fabio sah mich an, als würde er mich gern aus meinem eigenen Zelt schmeißen. Doch er gab nach: „Habt ihr Hühnchen?" „Klar." „Dann sagt mein Ernährungsplan wohl Hühnchen.", grinste er mich an.
Nach dem Essen beteiligte Fabio sich eifrig am Aufräumen. Seine Hände waren gerade voll beladen, als sein Handy lautstark einen eingehenden Anruf ankündigte. „Vanessa, geh mal ran!", rief er mir zu und drehte sich so, dass ich sein Handy leicht aus seiner Hosentasche holen konnte.
Der Bildschirm zeigte den Namen seines Assistenten und Freundes Tom an. Da konnte ich wirklich bedenkenlos ran gehen.
Fabio, wo treibst du dich schon wieder rum?", begrüßte mich eine strenge Stimme. „Er ist noch bei mir. Hat er nichts verraten?" „Ah, hi Vanessa.", Tom hatte mich tatsächlich erkannt, „Doch hat er, aber ich hätte nicht gedacht, dass er es so lange aushält." Er lachte leise.
Ich versuche mal, das nicht so ernst zu nehmen.", grummelte ich. Tom hatte sofort ein schlechtes Gewissen: „So war das doch nicht gemeint. Er ist nur immer so hibbelig vor einem Rennwochenende." „Weiß ich doch. Du, er hat jetzt die Hände frei. Ich gebe dich mal weiter.", dann reichte das Handy weiter an Fabio.
Die beiden telefonierten auf Französisch, sodass weder ich noch sonst einer von uns etwas verstand. Ich konnte auch nichts aus Fabios Gesichtsausdruck lesen.
Doch als er das Handy wieder wegsteckte, seufzte er und meinte: „Ich muss dann wohl los. Das Bett ruft langsam." „Alles klar.", ich stand mit ihm auf, um ihn nach draußen zu begleiten. Bevor er allerdings das Zelt verließ, präparierte er sich wieder. Er setzte Sonnenbrille und Cap auf und zog den Reißverschluss seiner Jacke zu.
Dann rückte er alles zurecht. Dabei schob er auch seine Hände in die Jackentaschen. „Ah, das hätte ich fast vergessen!", rief er aus und zog ein kleines Plastikkärtchen aus seiner Tasche.
Hier.", er drückte es mir in die Hand, „Wir sehen uns morgen nach dem zweiten Freien Training in meiner Box. Wenn du von hier aus losläufst, wenn das Training vorbei ist, sollte ich mit allen Besprechungen fertig sein, wenn du ankommst.", legte er fest. Ich war ein wenig überrumpelt, also bekam ich nur heraus: „Okay."
Fabio nahm mich in den Arm und wünschte mir noch eine gute Nacht. Dann schob er seinen Roller so, dass er sich einfach nur noch draufschwingen und losfahren musste. „Gute Nacht!", rief ich ihm noch zu, „Bis morgen." „Bis morgen.", er winkte mir nochmal, dann ließ er den Roller einmal aufheulen und brauste davon.
Erst, als ich mich zum Gehen wandte, fiel mir Marec vor dem gegenüberliegenden Zelt auf. Er lehnte an einem Pfosten und sah mich an. Ich winkte ihm, doch ging dann wirklich auch selbst ins Bett.

„Wir treffen uns nachher in der Boxengasse.", versprach ich meinen Eltern, als ich mir noch eine Jacke nahm. Ich hängte mir das Boxengassenticket, das Fabio mir am Abend gegeben hatte, um und machte mich auf den Weg.
Die Freien Trainings waren vorbei. Zumindest für die WM-Klassen. Für das Rahmenprogramm ging es gerade erst los. Die Trainings meiner Lieblingsfahrer hatte ich mir zusammen mit einigen anderen aus dem Junior-Cup-Fahrerlager in der Hospitality des Cups angeschaut.
Heute Vormittag war die Strecke noch trocken gewesen. Inzwischen hatte es ein paar Mal geregnet. Für Vale hatte das allerdings nicht wirklich einen Unterschied gemacht. Im Trockenen war er 16. und auf nasser Strecke sprang nur Platz 15 für ihn heraus.
Bei Fabio sah es ähnlich übel aus. Er hatte nur Platz 19 und Platz 22 erreicht. Auch Luca hatte eindeutig mit den Bedingungen zu kämpfen. Oder war es seine Schulter, die ihn auf die Plätze 27 und 23 limitierte?
Dank Fabios Karte kam ich absolut problemlos ins Fahrerlager und schließlich auch in die Boxengasse. Allerdings war der Weg außen herum so weit gewesen, dass in fünf Minuten das erste Qualifying für Flo starten sollte.
Anstatt also den direkten Weg zu Fabios Box einzuschlagen, suchte ich mir einen guten Platz an der Boxenmauer und wartete auf meine Eltern.
Ich musste nicht lange warten. Papa war sogar ganz zufrieden mit dem Platz, den ich mir ausgesucht hatte. Wir hatten Glück. Die Strecke war inzwischen wieder abgetrocknet, also konnte Flo hoffentlich zeigen, was in ihm steckte.
Während ich so an der Boxenmauer stand und meinem Bruder bei seinen Runden zusah, beschlich mich zunehmend das Gefühl beobachtet zu werden. Doch als ich mich in der Boxengasse umsah, konnte ich niemanden erkennen, der mir besondere Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Flo beendete diesen Turn auf Platz 10. Damit waren wir fürs Erste durchaus zufrieden, allerdings kam später heute noch ein zweites Qualifying auf ihn zu.
Meine Eltern verabschiedeten sich und gingen zurück ins Fahrerlager. Ich dagegen wandte mich in die entgegen gesetzte Richtung um und rannte prompt in Jenny hinein. „Sorry.", murmelte ich eher beiläufig, denn ich hatte hinter ihr Fabio vor seiner Box ausgemacht.
Doch Jenny wollte mich so schnell nicht davon kommen lassen. „Kannst du nicht aufpassen?", fauchte sie, doch ich schenkte ihr immer noch keine wirkliche Beachtung. Ich versuchte nur, irgendwie an ihr vorbei zu kommen. „Ja ja, entschuldige. Ich muss los."
„Wo willst du denn hin, dass du es so eilig hast?", sie dachte gar nicht daran, mich gehen zu lassen. Allerdings hatte Fabio mich inzwischen entdeckt. Ich warf ihm einen hilfesuchenden Blick zu und hoffte, dass er mich verstand. Anscheinend tat er das, denn er setzte sich jetzt in unsere Richtung in Bewegung.
Ich startete einen weiteren Versuch, Jenny loszuwerden: „Das geht dich überhaupt nichts an, Jenny." „Willst du Marec hintergehen?", stichelte sie. Damit hatte sie plötzlich doch meine Aufmerksamkeit. „Wir sind getrennt.", antwortete ich schlicht, „Und selbst wenn wir es nicht wären, wäre das immer noch meine Sache."
Hey, hier bist du ja!", Fabio fiel mir stürmisch um den Hals. „Hey, Fabio!", lachte ich und erwiderte seine Umarmung. Als ich da so nah an seinem Ohr war, flüsterte ich leise: „Merci." Er nickte mir knapp zu, als wir uns wieder lösten. Dann griff er sich meine Hand und zog mich hinter sich her: „Los, komm! Wir sind schon spät dran!" Damit ließen wir Jenny hinter uns stehen.
Wer war das denn?", fragte Fabio, sobald wir außer Hörweite waren. Ich stöhnte gequält: „Die Schwester von einem unserer Fahrer aus dem Cup. Wir konnten uns noch nie leiden." „Frauen.", schmunzelte Fabio.
Wir beide setzten uns in zwei Stühle vor seiner Box und beobachteten das geschäftige Treiben. In einiger Entfernung konnte ich Vale erkennen. Ich winkte ihm. Er winkte zurück. Dann ging er wieder in seine Box.
Eigentlich hatte Fabio mich sofort in sein Motorhome schleifen wollen, doch ich hatte ihn darum gebeten, noch hierzubleiben, bis Flo sein zweites Qualifying hinter sich hatte. Nachdem die beiden sich gestern kennengelernt hatte, waren sie beide ganz begeistert voneinander.
Zum Glück blieb ein weiterer Regenschauer aus, sodass die Strecke bei Flos zweitem Quali komplett trocken war. Trotzdem kam er nicht besser zurecht. Irgendetwas passte ihm nicht. Wir hatten vor diesem Wochenende seinen Motor wechseln müssen und der neue hatte etwas an sich, mit dem Flo nicht klar kam. So wurde es für ihn auch nur der 14. Startplatz.

Endlich hatte Fabio sein Ziel erreicht. Ich saß in seinem Motorhome auf der Couch und konnte ihm nicht mehr ausweichen. Also war es jetzt wohl Zeit, über die unangenehmen Themen zu sprechen.
Hast du dir schon überlegt, wie es mit Luca und dir weitergehen soll?", fragte er, als er sich neben mich setzte und mir ein Glas Wasser reichte. Ich seufzte tief. Das tat ich oft in letzter Zeit. „Jein.", antwortete ich ehrlich, „Ich denke ständig über ihn nach, aber ich komme zu keinem Ergebnis."
So geht es ihm auch.", murmelte Fabio. Ich presste die Lippen aufeinander. Viel schlimmer, als dass ich mich selbst unglücklich gemacht hatte, war das Wissen, dass ich Luca verletzt hatte. Etwas, was ich niemals gewollt hatte.
Ich weiß nicht, was ich tun soll.", jammerte ich, „Luca wird mich doch niemals zurückwollen. Wieso sollte er auch? Ich habe ihm unnötig weh getan." Die Tränen stiegen in meine Augen.
Fabio rutschte näher zu mir und versuchte umständlich, mich irgendwie in den Arm zu nehmen. „Rede doch erstmal mit ihm.", schlug er vor, „Dann könnt ihr immer noch sehen, wo ihr steht." „Warum sollte er mir zuhören?", schniefte ich. Fabio wusste wieder eine Antwort: „Weil er dich definitiv geliebt hat. Und ehrlich gesagt bin ich tausendprozentig davon überzeugt, dass er das immer noch tut."
Es wäre naiv von mir, ihm so einfach zu glauben. Aber ich wünschte es mir so sehr. Ich wünschte mir so sehr, dass er recht hatte. Aber was sollte ich Luca sagen? Eine Entschuldigung würde das alles nicht einfach so wieder gut machen.
Ich weiß doch gar nicht, was ich ihm sagen soll." „Du versuchst nur, dich rauszureden.", warf er mir vor. Er hatte recht. Das wusste ich. „Ich habe Angst, Fabio.", gab ich zu, „Ich habe in den letzten fünf Monaten nichts richtig gemacht. Was, wenn ich jetzt noch mehr kaputt mache? Wenn ich Luca ganz verliere?"
Du weißt doch gar nicht, was passiert, wenn du mal mit ihm reden würdest.", versuchte er mir gut zuzureden, „Versuch doch einfach mal, ihm zu erklären, wie du dich gefühlt hast. Wie du dich jetzt fühlst. Denn, sorry, aber du siehst scheiße aus. Man sieht dir an, dass es dir nicht gut geht. Bei Luca ist es genauso. Aber er kann es immerhin noch auf seine Schulter schieben. Die Frage ist, wie lange noch. Wenn du nicht versuchst, mit ihm zu sprechen, kannst du ihn nicht zurückgewinnen. Dann komm aber nicht zu mir, wenn du keine zweite Chance bekommst."
Eine einzelne Träne löste sich aus meinem Augenwinkel und lief langsam meine Wange hinab. Fabio schlang seinen Arm enger um mich und zog mich zu ihm heran.
Entschuldige.", nuschelte er in meine Haare, „Ich wollte dich nicht zum Weinen bringen." „Ist schon okay.", ich setzte mich wieder auf und wischte mir die Tränen aus den Augen, „Ist ja nicht deine Schuld, dass ich so bescheuert bin." „Aber als Freund sollte ich dich eher trösten, als alles noch schlimmer zu machen.", zerknirscht biss er sich auf seine Unterlippe. „Du bist einfach nur ehrlich. Übrigens auch etwas, was einen guten Freund ausmacht.", es lag ja nicht an ihm, dass ich zu blöd war, mein Leben auf die Reihe zu kriegen.
Sein klingelndes Handy unterbrach unser Gespräch. „Wer stört denn jetzt?", maulte Fabio, als er aufstand und den Raum zum Telefonieren verließ. Hatte bestimmt etwas mit dem Motorradfahren zu tun. Oder es war Aurelie. Im Grund war es mir ja auch egal. Nur verschaffte mir diese Zwangspause unangenehm viel Zeit zum Nachdenken.
Doch bevor ich ordentlich denken konnte, musste ich das Chaos in meinem Kopf erstmal wieder ordnen. Etwas, was mir ja schon seit ein paar Wochen eher mit mäßigem Erfolg gelang.
Tust du mir einen Gefallen?", fragte Fabio aus heiterem Himmel. Ich hob meinen Blick. Er stand vor der Couch und zog gerade den Reißverschluss seiner Jacke zu. Meinen Blick deutete er wohl als Zustimmung, denn er fuhr fort: „Ich muss nochmal zu meinem Team. Kannst du das hier in den Ordner sortieren?"
Klar.", ich zuckte mit den Schultern und griff mir den Stapel Papiere, den er mir hinhielt. Der gelbe Ordner lag auf dem Tisch vor der Couch. Dankbar gab er mir einen Kuss auf die Wange und machte sich auf den Weg. „Danke dir. Ich bin gleich zurück."

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