Irgendwas fehlt

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Valentino hatte da zum Glück bessere Karten als ich. Ganz unverfänglich hatte ich ihm zuerst eine Nachricht mit Glückwünschen zum Podium geschickt und ihn in einer zweiten Nachricht gefragt, ob mit Luca alles in Ordnung war.

Jein, aber wie kommst du drauf?

Fabio hat da was angedeutet und ich wollte einfach nur wissen, ob alles in Ordnung ist.

Meine Ausrede klang armselig, das wusste ich selbst. Doch Vale sagte nichts dazu. Stattdessen schrieb er:

Luca hat wieder Probleme mit der Schulter. Ist wohl ein paar Mal zu heftig abgeflogen auf der Ranch. Aber er lässt es auch nicht bleiben, also kann es nicht so schlimm sein. Ich bin langsam mit meinem Latein am Ende. Wenn er nicht hören will, muss ihn halt am Ende der Doc einbremsen.

Meine Bemerkung von wegen Vale wäre doch selbst „The Doctor" verkniff ich mir lieber. Die Nachricht klang nicht gerade gut gelaunt.

Erwartungsgemäß beschäftigten mich die Tage in Misano und die Nachricht von Valentino selbst dann noch, als ich schon eine ganze Weile wieder zurück in Gelsenkirchen war.
An manchen Tagen war ich kurz davor, Luca selbst zu schreiben und zu fragen, wie es ihm ging. Doch ich traute mich nicht. Vielleicht war das ein wenig feige, aber ich wollte ihn damit nicht aus dem Konzept und seiner Saison bringen. Den Gedanken, dass das eine absolut fadenscheinige Ausrede war, verbot ich mir selbst konsequent.
Wie ich meine Klausuren geschrieben hatte, wusste ich im Nachhinein nicht mehr. Schon bei der Abgabe konnte ich mich nicht mehr an die Fragen erinnern.

Weißt du, du bist keinen Deut besser als Luca. Ihr beide seid solche Sturköpfe.", es war der Abend, bevor Fabio nach Austin fliegen musste. Aus irgendeinem Grund wollte er heute lieber mit mir videotelefonieren, als den Abend mit Aurelie zu verbringen. „Wo ist eigentlich deine Freundin?", versuchte ich eher halbherzig, das Thema zu wechseln. Doch Fabio durchschaute mich: „Aurelie ist unterwegs. Irgendeine Freundin hat Geburtstag. Versuch nicht, das Thema zu wechseln! Wieso kann nicht einfach einer von euch mal über seinen Schatten springen und sich beim anderen melden. Kann doch nicht so schwer sein."
Weil es nie einfach ist.", seufzte ich und fühlte mich sofort wieder in Lucas Motorhome versetzt. Genau denselben Satz hatte ich auch schon zu ihm gesagt. Damals ging es darum, warum wir nicht einfach näher zusammen wohnen konnten. Vielleicht hätte es dann mit uns funktioniert. „Da!", rief er aus und deutete auf seinen Bildschirm, „Genau den Blick hat Luca auch immer drauf, wenn ich mit ihm darüber spreche." Gequält ließ ich meinen Kopf auf den Schreibtisch vor meinem Laptop fallen. „Du sprichst mit ihm?", nuschelte ich. „Klar.", Fabio zuckte mit den Schultern, „Man läuft sich ja doch zwangsläufig mal über den Weg in so einem Fahrerlager." Ich seufzte tief. Da konnte ich nichts dagegen sagen. Und nach Lucas anfänglicher Skepsis verstanden die beiden sich ja auch ganz wunderbar. Ich konnte es wohl weder dem einen noch dem anderen verübeln, wenn sie sich unterhielten. Trotzdem war es mir unangenehm, zu wissen, dass Fabio auch Luca zuhörte, wenn der sich über mich beschwerte. „Und ich sage dir, wenn ihr beide nicht so dermaßen stur wärt, hättet ihr die Sache längst geklärt..." „Und würden glücklich und zufrieden bis an unser Lebensende zusammen leben. Das Leben ist aber kein Märchen, Fabio.", unterbrach ich ihn vielleicht ein wenig zu barsch. Doch Fabio blinzelte nicht mal. „Das Leben ist von sich aus kein Märchen, aber jeder kann sich selbst sein Märchen erschaffen.", wann war er denn so schnulzig geworden? „Woher kommt das denn auf einmal?" „Keine Ahnung. Aurelie hat letztens so was in der Art gesagt. Ich fand das ganz passend gerade." Mir wurde einiges klar. Von allein wäre Fabio wohl kaum auf Märchen-Metaphern gekommen. „Aber ich finde, sie hat gar nicht so unrecht. Denk mal drüber nach.", fügte er hinzu.


Es wurde ein astreines Frustfressen-Wochenende. Ich wusste am Ende nicht mehr, was ich während der Übertragungen aus Austin alles in mich hinein gestopft hatte. Den Kontakt zur Außenwelt hatte ich in dieser Zeit fast komplett abgebrochen. Genau zwei Nachrichten pro Tag verließen mein Handy und die gingen an Vale und Fabio.
So gut wie möglich beobachtete ich Luca, wenn er mal im Bild gezeigt wurde. Ich wollte sehen, ob man eine Veränderung erkennen konnte. Dass das lächerlich war, wusste ich selbst. Über den Bildschirm war wohl kaum zu sehen, ob er Schmerzen hatte. Allerdings sprachen seine Ergebnisse in den ersten beiden Freien Trainings mit Platz 27 und Platz 20 nicht unbedingt für eine einwandfreie körperliche Verfassung. Da sah es bei Fabio mit Platz 21 und Platz 8 zumindest ein bisschen besser aus. Für Valentino lief es in der MotoGP sogar noch ein Stück besser. Er wurde Achter und Vierter.
Wenn die Übertragungen vorbei waren, schaltete ich Musik ein und rührte mich trotzdem nicht. Am Montag sollten die Vorlesungen wieder beginnen, doch jetzt gerade wusste ich nicht, wie ich die Motivation dafür aufbringen sollte.
Das sah auch nach den Ergebnissen am Samstag noch nicht besser aus. Zwar hatte sich Luca in FP3 auf Platz 12 verbessert, aber im Qualifying wurde es wieder nur der 23. Platz. Fabio stand mit Platz 7 im Training auch besser da als mit Platz 16 im Qualifying. Für Vale liefen FP3 und FP4 nicht gerade rosig. Da kamen nur die Plätze 15 und 11 raus. Dafür ging es im Qualifying wieder richtig vorwärts und er konnte von Platz 3 starten.
Der restliche Samstag verlief ähnlich unspektakulär wie schon der Freitag. Ich ging sogar noch früher ins Bett. Dazu trug natürlich auch die Zeitverschiebung bei, denn die Rennen wurden quasi mitten in der Nacht übertragen.
Im WarmUp war es wieder Vale, der gegenüber den anderen beiden deutlich besser aussah. Er war der Viertschnellste und Fabio und Luca landeten nur auf den Plätzen 21 und 22.
Nach einem wie immer spektakulären Moto3-Rennen konnte ich den Start der Moto2 kaum noch abwarten. Auch wenn ich das Fabio nie sagen würde, mein Fokus lag den größten Teil des Rennens über auf Luca. Und das nicht unbegründet, denn schon in der Anfangsphase des Rennens überholte er einige Fahrer. Als er sich langsam den Punkten und schließlich sogar der Top Ten näherte, wurden die Kämpfe härter. Schließlich war bei Platz 10 Schluss, während Fabio es als Zwölfter auch noch in die Punkte schaffte.
Auch Vales Rennen wurde richtig spannend. Der Sieger der ersten beiden Saisonrennen Vinales stürzte schon in der zweiten Runde. Zu dieser Zeit lagen Pedrosa, Marquez und Rossi auf den Top 3-Rängen. Doch dahinter war Zarco jetzt ein ernsthafter Verfolger und rutschte Vale sogar richtig auf die Pelle. In der dritten Kurve stach der Franzose aggressiv innen hinein. Vale konnte eine Kollision nur durch das Ausweichen über die asphaltierte Auslaufzone verhindern. Dafür bekam er jedoch eine Zeitstrafe von 0,3 Sekunden aufgebrummt. Was für ein Blödsinn!
Aber das schien Vale jetzt erst so richtig anzustacheln. Drei Runden vor Schluss überholte er den auf Platz 2 liegenden Pedrosa und fuhr sogar noch einen Vorsprung von zwei Sekunden heraus. Damit kam er zwar nicht mehr an Marquez vor ihm heran, aber er übernahm die WM-Führung. Ich zückte mein Handy und schickte ihm eine Glückwunsch-Nachricht.
Marec hatte sich seit unserem letzten Telefonat am Donnerstagabend nicht mehr gemeldet. Doch was mich noch mehr frustrierte, war die Tatsache, dass es mich nicht überraschte. Er hatte kein gutes Gespür für emotionale Belange und bemerkte eher selten, wenn es mir nicht gut ging.
Trotzdem hatte ich gehofft, dass er sich wenigstens jetzt, wo er sich doch als mein Freund bezeichnete, ein wenig mehr bemühen würde. Luca hätte das getan. Ihm wäre sofort aufgefallen, dass ich in der letzten Zeit komisch war. Und er hätte eher nicht abgewartet, dass ich mich wieder melde, sondern einfach selbst nachgefragt. Auf diese Idee kam Marec wahrscheinlich nicht einmal.
Interessanterweise hatte ich nicht das Bedürfnis, ihm jetzt zuerst zu schreiben. Entweder er kam selbst auf diese Idee oder er musste eben noch auf eine Nachricht warten. Ich legte mein Handy wieder weg und ließ mich in die Kissen auf meinem Bett fallen.
Mit Luca war das alles viel intensiver gewesen, irgendwie auch emotionaler. Marec konnte seine Gefühle nicht wirklich zeigen. Oder wollte er das nicht? Das konnte ich nicht einschätzen, aber er machte es mir schwer, mich mit meinen Gefühlen auseinanderzusetzen. Bei Luca war das einfacher gewesen. Gut, der Anfang war auch uns beiden schwergefallen, aber immerhin waren wir uns direkt einig gewesen. Keiner von uns war auf die Idee gekommen, den anderen erst mal abweisen zu müssen, weil die eigenen Gefühle nicht klar waren. Die hatten wir uns klar gemacht, bevor wir miteinander gesprochen hatten. Doch mit Marec war ja selbst ein Gespräch nicht so einfach. Er hatte oft einfach keine Lust, über so was „belangloses" wie Gefühle zu reden.
Ich schnaubte. Es hätte alles von Anfang ganz leicht sein können. Aber das war irgendwie nicht Marecs Ding. Da gab es nicht einfach Blickkontakt und alles war klar. Sogar bis zu unserem ersten Gespräch brauchte es mehrere Tage.
Marec war ein Idiot.
Aber ich hatte ihm noch nie widerstehen können.
Und das machte alles noch komplizierter. Ich hatte wirklich gedacht, dass ich über dieses Kribbeln im Bauch, diese Verknalltheit hinweg war. Spätestens als ich Luca kennenlernte, dachte ich wirklich, dass das ein Neuanfang sein könnte. Ich wusste nicht, an welchem Punkt ich dieses Gefühl verloren hatte. An welchem Punkt die Zweifel kamen. Hätte ich dem Ganzen eine Chance geben müssen?
Ich wollte mit meinen wirren Gedanken nicht länger allein sein und ich wusste nur eine Person, die vielleicht etwas Ordnung in meinen Kopf bringen konnte.
„Na, wie war dein Wochenende?", begrüßte mich Lilia am anderen Ende der Leitung. „Unspektakulär.", antwortete ich wahrheitsgemäß.
„Was verschafft mir die Ehre?", wollte sie wissen und ich setzte an: „Ich... ähm...". Wie sollte ich anfangen? Lilia wurde skeptisch: „Was ist los?" „Na ja, Marec hat sich das ganze Wochenende über nicht gemeldet und..." „Wundert es dich?", unterbrach sie mich. Mein Seufzen war ihr Antwort genug: „Du wusstest doch, wie er ist, bevor du dich auf ihn eingelassen hast." „Ja, aber er hat sich echt Mühe gegeben." Eine Zeit lang, fügte ich in Gedanken hinzu.
„Du weißt, dass ich nicht wirklich sein größter Fan bin." „Ja.", seufzte ich und sie fuhr fort: „Und er war schon immer so, wie er es jetzt auch ist." Ich wusste nicht, worauf sie hinaus wollte. Sie wartete kurz, doch als ich nicht antwortete, übernahm sie das: „Aber dir fällt es erst jetzt auf, oder es stört dich erst jetzt." Sie wartete wieder, aber ich hatte noch immer keine Antwort auf ihre kryptischen Aussagen.
Doch als sie das nächste Mal etwas sagte, war es plötzlich ganz klar: „Ist das vielleicht so, weil du jetzt weißt, wie es anders geht? Weil es mit Luca anders war? Vielleicht weil er dir fehlt?" „Das hier hat überhaupt nichts mit Luca zu tun!", fuhr ich sie an. Wahrscheinlich hatte ich wieder zu heftig reagiert, als dass sie mir glauben würde. Doch Lilia nahm es mir nicht übel. „Du standest ja bei solchen Dingen schon immer etwas auf dem Schlauch.", seufzte sie und wechselte dann das Thema, „Erzähl mal, wie läuft eigentlich dein Studium?" Dankbar für die neue Richtung des Gesprächs begann ich von den Klausuren zu erzählen.

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