Epilog

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*15.11.2037*

Manchmal war es schwer, die Gefühle für den Rennsport und gegenüber der Familie zu trennen. Besonders in solchen Momenten wie jetzt.

In der Startaufstellung des letzten Rennens des Jahres stand Giovanni Marini auf der Pole Position, direkt neben seinem wenige Monate älteren Cousin Andrea Marco Rossi auf Platz 2. Heute entschied sich die Moto2-Weltmeisterschaft in einem Rennen zwischen ihnen beiden. 20 Rennen lagen in dieser Saison schon hinter ihnen und trotzdem ging es nur um heute. Sie waren punktgleich. Wer heute vor dem anderen ins Ziel kam, wurde Weltmeister.
Gio war in dieser Saison der einzige Fahrer in der Moto2 für das noch junge Rennteam seines Vaters Luca Marini, der selbst Weltmeister geworden war. Im nächsten Jahr wollten sie gemeinsam den Schritt in die MotoGP, die Königsklasse, wagen.
Andrea fuhr ebenfalls im Team seines Vaters Valentino Rossi, allerdings hatte sich dieses schon lange etabliert. Auch er stieg im nächsten Jahr auf.
Während Andreas Vater vor dem Start noch auf ihn einredete und seine Mutter Francesca mit dem Schirm in der Hand neben ihm stand, hatte Gio seine Eltern gebeten, in der Boxengasse zu bleiben. Nur sein Chefmechaniker und seine Freundin standen heute bei ihm. Er brauchte die Ruhe vor dem Start.

Luca reichte seiner Frau ein Headset. Vanessa stand schon an der Boxenmauer und betrachtete nachdenklich ihren Sohn. Am liebsten hätte sie heute auf die Interviews verzichtet, doch als Pressesprecherin des Teams hatte sie keine Wahl. Brav lächelte sie, als die Reporterin irgendeines italienischen Sportsenders auf sie zukam.
Hallo, Marta.", sie kannten sich schon eine Weile. Hinter der Kamera war es fast ein freundschaftliches Verhältnis, jedoch immer mit genügend Distanz. Vor der Kamera wurde immer gesiezt. „Ciao, Vanessa. Hast du eine Minute?" „Klar.", nickte Vanessa und lächelte in die Kamera. Marta bekam ihr Zeichen und es ging los.
Frau Marini, so zwischen uns Frauen...", na das ging ja schon gut los, „Wie fühlt man sich, wenn der eigene Sohn im eigenen Team im letzten Rennen die Meisterschaft holen kann?"
Wow, das ist gar nicht so einfach zu beantworten.", ihr Italienisch war in all den Jahren, die sie inzwischen mit Luca verbracht hatte, richtig gut geworden, „Dass Gio es bis hierher geschafft hat... Ich würde sagen, es ist vor allem Stolz. Stolz, weil ich dieses Jahr beobachten konnte, wie er erwachsen geworden ist, aber auch stolz, dass wir als Team das gemeinsam geschafft haben. Selbst wenn Andrea heute vor ihm landet, was wir dieses Jahr hier gezeigt haben, ist Weltklasse." Und sie meinte jedes Wort genau so.
Doch so ganz zufrieden war Marta noch nicht: „Und jetzt nochmal die Antwort als Mutter?" Vanessa lachte. War ja klar, dass sie nicht so einfach davon kam. „Okay erwischt. Ich bin ganz fürchterlich aufgeregt und weiß noch nicht, wie ich das Rennen überstehen soll. Unsere ganze Familie ist da, aber Gio weiß davon nichts. Wir haben einfach versucht, allen Druck von ihm fernzuhalten in den letzten Tagen. Deswegen dürfen wir heute auch nicht in die Startaufstellung." Das war doch eine gute Antwort. Doch Marta war noch nicht fertig: „Und wie geht es ihrem Mann?" Vanessa warf einen Blick über ihre Schulter hin zu Luca. Der stand schon beim Rest des Teams am Kommandostand und studierte die Datenblätter. Was er jetzt dort noch finden wollte, war ihr nicht ganz klar. Sie konnten jetzt eh nichts mehr ändern. „Ich habe ihn selten so erlebt.", antwortete sie ruhig auf die Frage. Mit ihrem folgenden Lächeln machte sie deutlich, dass dazu nichts mehr kommen würde. Allzu privat mussten die Einblicke dann doch nicht werden. Marta bedankte sich brav, dann zog sie weiter.

Gio nuckelte an seinem Getränk. Er wusste, dass er sich besser auf das Rennen konzentrieren sollte, doch seine Gedanken machten sich mal wieder selbstständig. Wenn das passierte, hielt ihm sein Vater immer wieder vor, dass er zu sehr nach seiner Mutter käme. Er musste lächeln. Daran konnte er nichts Schlimmes entdecken. Seine Mutter war eine beeindruckende Frau. Sie wusste sich durchzusetzen und hatte seinen Vater voll im Griff. Auch wenn der das niemals zugeben würde.
Gio wandte seinen Blick Richtung Boxenmauer. Dabei streifte er automatisch die Startposition seines Cousins, der gerade noch fleißig Interviews gab. Das wäre ihm zu viel Trubel. Seine Taktik für das Rennen hatte er mit seinem Chefmechaniker abgesprochen, und zwar NUR mit ihm. Da seine Freundin Louisa selbst aufgeregt genug war, war sie jetzt in der Startaufstellung still und eher ein Ruhepol für Gio.
Hinter der Mauer konnte er seine Mutter ausmachen, die den Kameras wieder Rede und Antwort stehen musste. Er war ihr unglaublich dankbar, dass sie alle Interviewanfragen, die für die Startaufstellung kamen, sofort abgeblockt hatte. „Es gibt Momente, in denen kann Gio von mir aus seine heimlichen Sünden vor Ihnen auspacken. Aber sobald er auf diesem Motorrad sitzt und sich konzentrieren muss, wird er nicht mehr angesprochen.", bei dem Gedanken an das Telefonat heute Morgen musste er immer noch schmunzeln. Welche Sünden? Gio kannte kaum Jungen in seinem Alter, die so wenig Mist gebaut hatten wie er und sein Cousin Andrea. Sie beide hatten ihr ganzes junges Leben dem Motorsport verschrieben. Sie beide hätten diesen Titel verdient. Gewinnen konnte ihn nur einer von ihnen. Das wusste Gio genauso gut wie Andrea.
Gio seufzte schwer und ließ seinen Blick von der Boxenmauer zurück in Richtung Startampel wandern. Dabei streifte er den Blick seines Cousins. Ein schiefes Grinsen stahl sich auf seine Lippen. Andrea grinste zurück. Egal wie dieses Rennen heute ausgehen sollte, neben der Strecke blieben sie beide ein unschlagbares Team. Da war sich Gio sicher.

Luca blätterte nervös durch die Seiten. Es machte ihn verrückt, nicht einmal Gios Taktik für das Rennen zu kennen.
Papa, es ist egal, ob du weißt, was ich vorhabe, oder nicht. Sobald das Rennen läuft, habe nur noch ich Einfluss darauf. Bei allem vorher vertraue ich unserem Team. Du wirst genug mit dir selbst zu tun haben.", hatte sein Sohn ihm gesagt.
Er wusste gar nicht, wie Recht er damit hatte. Im Nachhinein war Luca froh, dass er selbst zusammen mit seiner Frau in einem Hotel in der Nähe übernachtete, während Gio vor Ort an der Rennstrecke im Motorhome schlief. Die letzten Tage waren geprägt von all der Nervosität.
Und es wurde nicht besser, als die Mechaniker und Grid Girls die Startaufstellung verließen. Als die Ampel die Jungs in die Aufwärmrunde entließ, begann Luca den Aufkleber mit Gios Logo von seiner Flasche zu knibbeln.
Plötzlich tauchte seine Frau neben ihm auf und legte ihre Hand auf seine Finger. „Er macht das schon.", sagte sie schlicht.
Luca lächelte sie an und gab zu: „Ich bin unglaublich stolz auf ihn." „Ich auch.", flüsterte sie. Auf den Zehenspitzen stehend streckte sie sich ihm entgegen, um ihm einen kleinen Kuss auf die Lippen zu drücken.
Er war so dankbar, diese Frau an seiner Seite zu haben. Die Frau, die schon an seiner Seite gewesen war, als er selbst sein erstes Weltmeisterschaftsrennen gewonnen hatte. Die da war, als er in die MotoGP aufstieg und als er seine Meistertitel gewann. Aber auch als ihn Verletzungen ausbremsten und er schließlich seine Karriere beenden musste. Die Frau, die mit ihm dieses Team aufgebaut hatte. Aber vor allem die Mutter seines Sohnes.
Doch nur einen Augenblick später wurde der vertraute Moment jäh unterbrochen. „Hey, ihr zwei Turteltauben!", rief ihnen eine wohlbekannte Stimme zu, „Wahnsinn, was ihr da mit meiner Hilfe zustande gebracht habt." „Ich glaube kaum, dass du bei Gios Zeugung dabei warst, Fabio.", wurde der Neuankömmling von seiner hübschen Begleitung gescholten. „Das wüsste ich.", brummte Luca, während seine Frau ihren besten Freund herzlich begrüßte.
Kurz darauf tauchte auch Louisa neben ihnen auf. „Hi, Mama. Hi, Papa.", grinste auch die hübsche Blondine das Pärchen an. Sie kam ganz nach ihrer Mutter.
Was sagt Gio?", fragte Luca, doch sie konnte nur mit den Schultern zucken: „Nicht viel, so wie immer."
Luca nickte nur und konzentrierte sich dann wieder auf die Strecke. Vanessa griff nach seiner Hand, als die Motorräder aus der Warm-Up-Lap zurückkamen.
Gio war einer der Letzten, die wieder auf ihrem Platz standen. So wie sein Vater es ihm beigebracht hatte. Wenn er nicht so lange auf die anderen wartete, wurden seine Reifen nicht erst wieder kalt und er konnte direkt angreifen.
Jetzt wird's ernst.", murmelte Fabio und legte seine Arme um seine Frau und seine Tochter.
Die Lichter der Startampel leuchteten rot auf. Gio riss sich noch ein Abreißvisier vom Helm und lehnte sich dann weit nach vorn über den Lenker.
Neben ihm tat Andrea das Gleiche. Nur Sekunden später gingen die Lichter aus. Das Fahrerfeld startete.

Zwei Fahrer kamen besonders gut weg. Zwei Fahrer fuhren nebeneinander auf die erste Kurve zu. Zwei Fahrer, die zusammen aufgewachsen waren. Zwei Fahrer, deren Familie für den Rennsport lebte.

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