Atmen nicht vergessen

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Die Nacht war mehr als kurz gewesen. Zum Glück hatte ich im Auto schon etwas schlafen können, sonst wäre nicht viel mit mir anzufangen gewesen.
Meinen Eltern ging es da ganz ähnlich und trotzdem standen beide pünktlich auf. Als ich schließlich die Tür des Wohnwagens öffnete, war das Zelt schon fertig aufgebaut und das Motorrad stand schon glänzend auf seinem Platz. Meine Mutter war gerade dabei einen gemeinsamen Frühstückstisch mit Marecs Familie zu decken.
Meinen Bruder und Marec konnte ich nicht entdecken. Die waren vermutlich irgendwo im Fahrerlager unterwegs. Oder sie waren heute mal vorbildlich und machten tatsächlich Frühsport.
So unwahrscheinlich mir diese Möglichkeit auch erschien, nur fünf Minuten später joggten die beiden auf unser Zelt zu. Mit hochroten Köpfen und sichtlich platt ließen sie sich auf die Stühle links und rechts neben dem fallen, den ich mir ausgesucht hatte.
Marec schnappte sich eine Erdbeere vom Obstteller, stopfte sie sich ganz in den Mund und fragte dann: „Flo und ich wollen uns nachher die Trainings anschauen. Will wer mit?" „Klar!", rief ich sofort.
„Dich...", Marec nahm sich langsam noch eine Erdbeere, „habe ich eigentlich gar nicht gefragt."
Ich setzte schon zum Protestieren an, doch Marec grinste mich schief an und meinte: „Ich bin jetzt einfach mal davon ausgegangen, dass du mitkommst." Besänftigt nahm ich mir eine Erdbeere und lehnte mich in meinem Stuhl zurück.
Schließlich setzten sich unsere Mütter zu uns und wir bedienten uns von dem vollen Tisch. Es war schön zu sehen, wie meine Eltern mit Marecs Eltern scherzten, auch wenn ich ihnen meistens nicht zuhörte.
Marec erzählte mir leise, dass er in den letzten Wochen gemeinsam mit einem Kumpel, den ich im letzten Jahr kennengelernt hatte, angefangen hatte Parkour zu laufen. Noch hatte er das seiner Mutter nicht verraten. Sie war manchmal etwas überfürsorglich.

Nach dem Essen sprangen Flo und Marec sofort auf und wollten gleich los an die Strecke. „Wollt ihr nicht wenigstens ein bisschen beim Abräumen helfen?", rief mein Vater den beiden hinterher.
Ihre Blicke sprachen Bände. Von wollen konnte da definitiv keine Rede sein. Trotzdem schnappten sich beide wenigstens ihren Teller und brachten diese zu unseren Müttern. Die waren gerade dabei, das dreckige Geschirr in eine große Schüssel zu stapeln, die zum Abwaschen diente.
Dann wollten sie los, bis Flo feststellte, dass ich immer noch, mit Wurst- und Käsepackungen beladen, hin und her lief und den Tisch abräumte. Erst als wirklich alles wieder im entsprechenden Wohnwagen verstaut war, gesellte ich mich zu den beiden Jungs und wir verließen gemeinsam das Fahrerlager.
Marec wusste anscheinend ganz genau wo er hinwollte. Flo und ich konnten ihm nur hinterherlaufen und hoffen, dass wir ihn in den Menschenmassen nicht aus den Augen verloren.
Punkt 9 Uhr, die Boxengasse wurde gerade geöffnet und die ersten Moto3- Bikes gingen auf die Strecke, standen wir auf einem Hügel in einer schnellen Kurve. Auch wenn wir von der Strecke nicht so viel sahen, wir hatten eine Leinwand quasi direkt vor der Nase. Ganz in der Nähe standen auch Lautsprecher, die die Stimme des Streckensprechers rund um den Kurs hörbar machten.
Eine Gänsehaut kroch über meine Arme, als langsam die ersten Motorengeräusche immer näherkamen und als schließlich die ersten Bikes an uns vorbeischossen, kribbelte mein ganzer Körper.
Marec und Flo fachsimpelten hinter mir über den perfekten Fahrstil und wie man diese Kurve am besten anfahren musste, um möglichst als erster wieder auf die nächste Gerade zu kommen. Davon verstand ich eh nur die Hälfte, also sah ich mir lieber an, welche Linie die Fahrer wählten, die gerade auf der Strecke waren.
Nach ein paar Runden fielen mir drei Motorräder auf, die eine babyblaue Lackierung hatten. Diese Farbe erinnerte mich an etwas... oder jemanden?
Während ich noch überlegte, drang die Stimme des Streckensprechers bruchstückhaft zu mir durch: „... Bestzeit... von Fabio... Team Leopard... hellblaues Motorrad..."
Fabio...? Fabio! Meine Streckenbekanntschaft von Lucas Rennen am Sachsenring! War er das womöglich?
Ich verfolgte noch weiter das hellblaue Motorrad mit der roten 20 vorn drauf, bis es nach ungefähr der Hälfte der Zeit von seinem Fahrer in die Boxengasse gelenkt wurde.
Jetzt lenkte ich meine Aufmerksamkeit auf die Leinwand, damit ich vielleicht einen Blick auf den Fahrer erhaschen konnte. Und ich wurde nicht enttäuscht.
Die Kamera blieb auf dem Fahrer, bis sich dieser in seine Box zurückzog, den Helm absetzte, nochmal kurz winkte und sich dann zu seinen Mechanikern gesellte.
Das jugendliche Gesicht kam mir doch tatsächlich bekannt vor. Doch es waren die großen, dunkelbraunen Augen, wegen denen ich mir dann doch ganz sicher war, dass es sich um meinen Gesprächspartner von Lucas Rennen handelte.
Am Ende des Trainings hatte er die drittschnellste Zeit geschafft, hinter seinem Teamkollegen Joan Mir und dem Fahrer, der in diesem Jahr unschlagbar schien: Brad Binder.
Nach dem ersten Freien Training der Moto3 waren die MotoGP-Fahrer mit ihrem ersten Training dran. Das hieß auch, dass jetzt gleich Valentino Rossi auf der Strecke sein würde.
Schon als auf der Leinwand die ersten Bilder der Yamaha mit der gelben 46 zu sehen waren, brodelte es in mir vor Aufregung. Wie gern würde ich dieses Motorrad mal aus greifbarer Nähe betrachten. Am besten mit Fahrer, versteht sich.
Marec und Flo diskutierten inzwischen, wer der beste MotoGP-Fahrer war. Mein Bruder tendierte Richtung Rossi, war aber eigentlich ein Fan von Andrea Dovizioso. Der Italiener fuhr für Ducati, zusammen mit Andrea Iannone. Marec dagegen war für Marc Marquez.
Sie konnten sich nicht einigen, also tippten mir beide auf meine Schultern und verlangten nach meiner Meinung. „Dass ihr das noch fragen müsst...", meinte ich nur und drehte mich wieder zur Strecke um, wo gerade zwei Yamahas im Synchronflug vorbeirauschten.
Triumphierend lachte mein Bruder, allerdings nur bis sein Handy klingelte und unser Vater ihn zurück zum Zelt beorderte.
Jetzt war ich mit Marec allein. Ich spürte seine Anwesenheit hinter mir, auch wenn ich ihm den Rücken zugedreht hatte. Er verursachte ein nervöses Kribbeln in meinem Nacken und ließ mich unruhig werden.
Und wieder drängten sich Lilias Worte aus meinem Hinterkopf in den Vordergrund. Auch wenn ich immer noch der Meinung war, dass sie völligen Quatsch redete, es kostete mich eine Menge Anstrengung, diese Gedanken zu verdrängen.
„Was meinst du, wer am Sonntag gewinnt?", Marecs Stimme dicht neben meinem Ohr ließ mich zusammenzucken. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er sich so dicht hinter mich gestellt hatte und auch seine Hand auf meinem Rücken wurde mir erst jetzt bewusst.
„Nun ja...", ich brauchte einen Moment, um meinen Kopf in Gang zu bringen, „Ich denke, die Yamahas werden es hier nicht so leicht haben. Die Strecke liegt dem Motorrad nicht. Das ist mehr eine Strecke für die Hondas oder die Ducatis. Es kommt hier nicht so sehr darauf an, wie sich das Motorrad in engen Kurven beherrschen lässt, sondern mehr auf den Top-Speed. Und der ist eben bei Yamaha deutlich schlechter als bei Ducati und Honda. Also werden die es wohl unter sich ausmachen. Da ich aber Marquez nicht mag, ihm also auch den Sieg nicht gönne und es für Pedrosa eher nicht so gut aussieht, hoffe ich, dass Iannone oder Dovizioso gewinnt."
„Also ich denke ja, Marquez holt sich den Sieg. Genauso wie am Sachsenring." „Was, durch ein Reifen-Gambling?", hakte ich amüsiert nach, „Es ist wunderbares Wetter angesagt, also glaube ich kaum, dass er Regenreifen brauchen wird."
Marec verdrehte die Augen: „Ich meinte eigentlich souverän." „Naja, so wirklich souverän war das am Sachsenring auch nicht.", warf ich ein, doch Marec konterte: „Er sah deutlich besser aus, als Rossi."
„Tja, auch ein alter Mann macht mal Fehler.", schmunzelte ich und verfolgte das Training weiter.
Zu meiner Überraschung war es der Spanier Maverick Vinales auf einer Suzuki, der die schnellste Zeit fuhr. Danach folgten die beiden Ducatis Dovizioso und Iannone und auf Platz vier befand sich Rossi. Marquez war nur die sechstschnellste Zeit gefahren.
„Lass uns gehen.", Marec stieß mich scherzhaft mit seiner Schulter an. Nur war er eben leider um einiges größer als ich und so stolperte ich nach vorn.
Der Zaun war es schließlich, der mich vor einem Sturz bewahrte.
Marec sah völlig geschockt aus und brachte keinen Ton heraus. „Keine Sorge, es geht mir gut.", lachte ich. Erleichtert seufzte Marec auf, dann brach er in schallendes Gelächter aus und versuchte zwischendurch immer wieder, sich zu entschuldigen. Nur irgendwie brachte er keine zusammenhängenden Worte raus, die dann einen Satz hätten bilden können.
In der Ferne waren die ersten Moto2-Bikes zu hören. Marec verstummte sofort und warf einen Blick auf die Leinwand.
Dann schnappte er sich meine Hand und wollte mich hinter sich herziehen. „Los, komm. Wir gehen zurück ins Fahrerlager." „Wieso denn?", ich stemmte mich gegen ihn, „Ich will mir die Moto2 noch anschauen."
Ich sah Marec ganz genau an, dass er gerade nach einer Ausrede suchte. Er wollte mir nicht verraten, warum er jetzt zurückwollte.
„Naja... ich... ich wollte...", stotterte er zusammen, „ich wollte mich noch mit Felix treffen. Wir drehen doch immer noch eine Runde, bevor das Training losgeht." „Felix kann doch auch mit hierherkommen.", meinte ich.
Nervös fuhr er sich durch die Haare: „Ich glaube, er wollte sich die Trainings im Fernsehen anschauen." Bemerkte er, dass er sich gerade selbst widersprach?
„Marec, wenn du mir nicht gleich einen vernünftigen Grund nennen kannst, warum wir zurückmüssen, dann bleibe ich definitiv hier." Schließlich wollte ich Luca fahren sehen! Es bestand ja immer noch die Möglichkeit, dass ich, auch wenn ich hier war, an diesem Wochenende nicht näher an ihn herankam.
Dann bogen die ersten Motorräder um die Kurve und rauschten lautstark an uns vorbei. Ich drehte mich wieder um und versuchte, Luca in der Menge auszumachen. Erst in der dritten Gruppe konnte ich ihn schließlich entdecken.
Mein bester Freund zögerte noch einen Moment, aber dann gab er nach und wir blieben.
Wenn Luca an uns vorbeifuhr, konnte ich den Blick nicht von ihm wenden und wenn er gerade nicht in dieser Kurve war, suchte ich ununterbrochen auf der Leinwand nach ihm. So richtig gut lief es für ihn noch nicht. Seine Zeiten verbesserten sich nur langsam und er kam nie über Platz 20 hinaus.
Am Ende der Session lag er nur auf dem 23. Platz. Die Kamera folgte ihm in die Boxengasse und er sah mehr als bedient aus, als er sein Bike den Mechanikern überließ.
In diesem Moment wäre ich gern bei ihm. Einfach nur damit ihm jemand gut zureden konnte und ihn vielleicht auf andere Gedanken brachte. Denn irgendwie zweifelte ich daran, dass sein Team das konnte.
„Komm.", meinte ich und nahm Marec am Arm, um ihn hinter mir herzuziehen, „Lass uns eben Felix holen. Bis zum zweiten Training haben wir noch etwas Zeit." „Okay.", antwortete er schlicht und dirigierte mich zurück ins Fahrerlager. Sonst hätte ich mich wohl auf dem Weg verlaufen.
Wir fanden Felix auf einer Liege vor seinem Wohnwagen in der Sonne. Sein halbes Gesicht wurde von der riesigen Sonnenbrille auf seiner Nase verdeckt.
Als er uns sah, setzte er sich auf und breitete grinsend seine Arme aus. „Der Pole und sein schönes Grid Girl! Was verschafft mir die Ehre?", rief er uns entgegen. Ich musste unwillkürlich lächeln.
„Wir sind hier, um dich zu entführen.", erwiderte Marec und schlug mit ihm ein. Felix erhob sich von seiner Liege, nahm mich in den Arm und fragte dann: „Wohin geht's?" „Das darfst du eigentlich gar nicht wissen, wenn wir dich entführen, oder?", warf ich ein.
Felix wiegte seinen Kopf nachdenklich hin und her, bevor er mit den Schultern zuckte und sagte: „Okay, ich komme mit. Egal, wohin." „Wir wollen uns nachher nur die Freien Trainings anschauen.", erklärte Marec und verdrehte die Augen. „Oh, da bin ich auf jeden Fall dabei!", Felix war richtig begeistert und ich warf Marec einen vielsagenden Blick zu. Den ignorierte mein bester Freund aber vollkommen.
Nach dem Mittagessen machten wir uns also zu dritt auf den Weg zurück zu derselben Stelle, an der wir vorhin schon gestanden hatten. Felix schwärmte die ganze Zeit von seiner Yamaha R6. Irgendwann hörte ich gar nicht mehr hin.
Stattdessen beobachtete ich die Menschenmassen um uns herum. Auffällig viele Leute trugen Fanshirts von Valentino Rossi. Allein diese Tatsache ließ mich schon wieder grinsen. Es gab eben niemanden, der die MotoGP besser verkörperte.
Wir erreichten unseren Platz pünktlich zum Start des zweiten Freien Trainings der Moto3. Fabio war wieder gut dabei. Er rutschte eigentlich nie aus den Top Ten heraus.
Als er am Ende der Sessions auf Platz 3 lag, stieß Felix anerkennend die Luft aus und meinte: „Ich hätte nach seinen Anfängen letztes Jahr echt nicht gedacht, dass der kleine Franzose mal so gut wird." „Das hält er im Qualifying und im Rennen doch eh nicht.", entgegnete Marec nur mit einem Schulterzucken.
„Er ist verdammt schnell.", sprach Felix unbeirrt weiter, „Ihm fehlt halt nur die Konstanz." „Ein bisschen wie bei Kilian.", schmunzelte ich. „Ganz genau wie bei Kilian.", bestätigte Felix. Marec schnaubte.
„Was denkst du, was Rossi dieses Wochenende reißen kann?", fragte Felix, als schließlich auch das zweite Freie Training der MotoGP begann.
„Hm, schwierig. Ich denke, es wird nicht leicht, aber das Podium ist drin.", meinte ich und Felix nickte zustimmend. Marec sagte schon seit ein paar Minuten gar nichts mehr. Was auch immer seine Laune dermaßen verdorben hatte.
Die vier schnellsten unterschieden sich nach dem Training nicht von der ersten Session, nur die Reihenfolge war ein wenig anders. Marquez allerdings war diesmal nur auf Platz 10.
„Ich hau ab.", knurrte Marec, als gerade die Moto2-Fahrer ihre Motorräder aus der Boxengasse bewegten.
Felix sah ihn genauso verwirrt an wie ich. „Wieso das denn?", wollte er wissen. „Falls du dich erinnerst,", maulte Marec genervt, „wir haben nachher unser Qualifying und ich habe nicht vor, das zu verpassen." „Wir haben schon noch Zeit, uns die Moto2 anzusehen.", entgegnete Felix unbeeindruckt und drehte sich wieder um.
Ich beobachtete, wie Marec sich verzog und schon nach wenigen Schritten in der Menschenmasse unterging. „Wow, war das komisch.", stellte Felix fest. Ich seufzte: „Er war vorhin schon mal so komisch. Keine Ahnung, welche Laus dem über die Leber gelaufen ist."
Luca schnitt auch im zweiten Training nicht besser ab. Im Gegenteil, er rutschte sogar noch einen Platz nach unten auf die 24. Felix bemerkte schnell, dass ich eigentlich nur ihn beobachtet hatte.
„Er war ganz schön steif unterwegs.", meinte er, als wir uns auf dem Rückweg ins Fahrerlager befanden, „Er sah nicht wirklich sicher aus. Ein bisschen, als würde die Abstimmung noch nicht passen." „Hoffen wir mal, dass es nur das war.", sagte ich leise und konnte die leichte Besorgnis in meiner Stimme nicht unterdrücken.
Nachdenklich musterte Felix mich, bevor er nachhakte: „Warum der kleine Italiener?" „Ich habe mich am Sachsenring eine ganze Weile gut mit ihm unterhalten.", erklärte ich.
Den Rest ließ ich bewusst aus. Es musste ja nicht jeder wissen, dass ich zu blöd war, um Luca Marini meine Telefonnummer zu geben.
Im Fahrerlager trennten sich unsere Wege. Er musste sich auf sein Qualifying vorbereiten und ich sollte wohl mal bei meinen Eltern vorbeischauen.
Die hatten allerdings auch nicht wirklich Zeit für mich, denn mein Bruder war ziemlich nervös. Er war diese Strecke noch nie gefahren und er hatte Angst davor, nicht schnell genug zu sein.
Man musste eine gewisse Zeit schaffen, um überhaupt zum Rennen zugelassen zu werden. Die hing allerdings von der schnellsten Zeit im Qualifying ab. So sollte verhindert werden, dass zu langsame Fahrer im Rennen die anderen gefährdeten.
Ich setzte mich zu Flo und versuchte ihm gut zuzureden, während mein Vater das Motorrad fertigmachte und meine Mum seine Motorradklamotten rauslegte.
Schließlich stand er entschlossen von seinem Platz auf, zog sich die Kombi, die Stiefel und alle Protektoren an und setzte sich auf das Motorrad.
Ich reichte ihm seinen Helm, den er in einer einzigen Bewegung aufsetzte und zumachte. Anschließend half ich ihm mit seinen Handschuhen. Dann stellte ich mich vor ihn, packte seinen Helm mit beiden Händen und sah ihm in die Augen. Er starrte fokussiert geradeaus, als ich ihm viel Glück wünschte und nickte nur knapp.
Mit einem liebevollen Klaps auf seinen Helm schickte ich ihn los. Er drehte den Schlüssel und die KTM sprang an.
Die Spannung in der Luft war greifbar und ging auf mich über. Jetzt ging es um alles. Auch wenn er zwei Chancen hatte, ich wusste, dass mein Bruder immer etwas länger brauchte, um sich auf eine neue Strecke einzustellen.
Hier hatte er dafür aber keine Zeit. Er musste hier auf den Punkt liefern. Das war ihm auch klar. Deshalb war er ja so nervös.
Gemeinsam mit meinen Eltern folgte ich den Jungs in die Boxengasse. Schon auf den ersten Metern ließ ich meinen Blick an den Boxen entlang wandern. Doch sie waren alle geschlossen.
Die Ampel am Ende der Gasse stand schon auf grün und die KTMs begaben sich auf die Strecke. Mein Bruder war unter den ersten, die hinter der ersten Kurve verschwanden.
Wenn er so früh raus fuhr, wollte er sich die Chance sichern, von schnelleren überholt zu werden und sich von denen etwas abzuschauen. Das half ihm, die Kurven besser zu fahren und so seine Zeiten zu verbessern.
Flo schlug sich gar nicht so schlecht. Er beendete das Qualifying auf dem 26. Platz und hatte die nötige Zeit, um das Rennen fahren zu dürfen, um mehr als eine Sekunde unterboten. Marec lag auf Platz 16. Allerdings war er überhaupt nicht zufrieden.
Aber als Flo in die Boxengasse zurückkam, beschwerte auch er sich über die Abstimmung des Motorrades. „Wir müssen unbedingt die Übersetzung wechseln!", schimpfte er und knallte den Helm auf den Tank. Papa nickte nur und schickte ihn zurück ins Fahrerlager.
Es blieb nicht viel Zeit, um die Bikes zu modifizieren. Schon eine halbe Stunde nach der Ankunft im Fahrerlager mussten die Jungs sich wieder bereit machen. Mein Dad hatte es geradeso geschafft, meinem Bruder ein fertig zusammen gebautes Motorrad hinzustellen.
Auf das schwang sich Flo schon deutlich enthusiastischer als vor der ersten Session. Er hatte jetzt gesehen, dass die Zeit machbar war und er war motiviert, noch weiter nach vorn zu kommen.
„Ich mag die Strecke nicht.", meinte er plötzlich zu mir, als ich ihm mit den Handschuhen half. Ich war verwirrt: „Wieso?" „Naja... Es geht ziemlich viel bergauf und bergab und irgendwie sind dazwischen ein paar Kurven hingeklatscht. Ich mag die Strecke nicht.", beharrte er. „Tja.", seufzte ich, „Es interessiert nur leider niemanden, ob du die Strecke magst. Du musst sie trotzdem fahren und du musst trotzdem schnell sein." Er verdrehte die Augen: „Das weiß ich. Das mach ich auch. Ich mag die Strecke trotzdem nicht."
Ich schüttelte vor mich hin lächelnd den Kopf und folgte meinen Eltern in die Boxengasse. Flo fuhr offenbar ganz gemütlich vor uns her, doch wenn man ihn ein bisschen kannte, war die Anspannung ihm deutlich anzusehen.
Mein Vater redete ihm nochmal gut zu, bevor die Session begann. Meine Mutter hielt sich meistens im Hintergrund. Sie war der Meinung, dass sie Flo eh keine große Hilfe war und wahrscheinlich nur ihre Angst auf ihn übertragen würde.
Jetzt herrschte in der Boxengasse deutlich mehr Betrieb als noch beim ersten Qualifying. Es waren nicht nur Fahrer und Betreuer aus dem Junior Cup hier, sondern auch aus einigen anderen Klassen. Darunter waren auch drei MotoGP-Teams, nur leider nicht Yamaha.
Am Ende der Boxengasse konnte ich drei hellblaue Bikes erkennen. Sie waren zu klein für die MotoGP und zu schmal für die Moto2. Also konnten es eigentlich nur Moto3-Bikes sein.
Ein paar Boxen waren offen. Manche davon nur einen Spalt breit, andere ganz. Allerdings waren das größtenteils Moto2-Teams.
Flo kam in der zweiten Gruppe wieder an der Boxenmauer vorbei. Gleich hinter ihm folgte Marec.
Ich suchte mir einen Platz in der Nähe eines Monitors, damit ich die Zeiten meines Bruders und meines besten Freundes verfolgen konnte. Nach nur einer Runde hatte Marec Flo überholt. Er war ja auch noch deutlich schneller.
Doch Flo konnte dran bleiben. Er verlor nur wenig Zeit auf Marec und drückte so seine Zeiten immer mehr. Dadurch machte er ein paar Plätze gut. Vier oder fünf Runden lang folgte Flo direkt nachdem Marec vorbeigefahren war.
Und dann fehlte Marec plötzlich. Flo kam, aber auch nach zwei Runden fehlte von Marec immer noch jede Spur. Hoffentlich hatte er sich nicht verletzt.
Die Session lief noch. Es hatte keine rote Flagge gegeben, also konnte es nicht so schlimm sein, oder?
Noch zwei Minuten auf der Uhr und immer noch keine Spur von Marec. Sein Vater lief auch schon nervös in der Boxengasse hin und her. Doch machen konnte er auch nichts. Wir konnten hier nur abwarten, bis Marec von einem Streckensicherungsfahrzeug eingesammelt und wieder hierher gebracht wurde.
Trotzdem hatte ich immer noch die Hoffnung, dass er sich wieder aufrappelte und das Motorrad funktionierte. Deshalb wich ich nicht von meinem Platz. Auch nach Ende der Session nicht. Ich sah nur einmal auf den Monitor, um zu sehen, dass mein Bruder auf Platz 22 gelandet war.
„Komm schon, Marec, wo bist du?", nuschelte ich so unverständlich, dass mich jeder um mich herum für verrückt halten musste.
Plötzlich tippte mir jemand auf die Schulter. Für einen Moment blieb mein Herz stehen vor Schreck. Ich fuhr herum und... mein Herz machte noch einen Satz.
Luca lehnte sich breit grinsend zu mir und sagte dicht neben meinem Ohr: „Vergiss nicht, zu atmen."
Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich die Luft angehalten hatte.

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