Jede Sekunde mit dir

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Luca streckte mir seine Hand entgegen. Darin lagen die Reste eines scheinbar uralten Lederarmbandes. Und Reste war keinesfalls übertrieben. Die geflochtenen Riemen waren teilweise gerissen, andere lösten sich in ihre Einzelteile auf.
Das...", begann er mit zitternder Stimme zu erklären, „hat mir mein Bruder zu meinem allerersten Rennen geschenkt."
Oh, verdammt. Das tut mir leid.", flüsterte ich sanft und legte eine Hand an seine Wange. Luca wirkte echt niedergeschlagen, als er jammerte: „Es war klar, dass es nicht mehr lange hält. Aber warum muss es ausgerechnet jetzt kaputtgehen?" Luca legte das Gesicht in seine Hände.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Also strich ich mit den Fingerspitzen meiner rechten Hand sanft über seinen Nacken und hoffte, ihn so ein wenig beruhigen zu können. Tatsächlich entfuhr ihm ein wohliges Seufzen. Ich konnte die Gänsehaut, die sich über seinen Körper ausbreitete, sehen.
Doch dann hob er den Kopf und drehte sich zu mir um. In seinen Augen lag ein ängstlicher Glanz. Fast tonlos hauchte er: „Das Rennen wird sowas von schiefgehen."
Er nahm meine Hand aus seinem Nacken und klammerte sich regelrecht daran. Mit Worten war Luca nicht zu beruhigen.
Also fasste ich einen Entschluss. Mit meiner freien Hand fummelte ich in meinem Nacken herum und schaffte es schließlich, den Verschluss meiner Kette zu lösen. „Luca, ich habe was für dich.", sagte ich dann leise. Nachdenklich zog er die Augenbrauen zusammen und legte den Kopf verständnislos schief. „Wenn du meine Hand loslässt, kann ich es dir auch geben."
Zögerlich ließ er zu, dass ich ihm meine Hand entzog. „Schau nach vorn.", wies ich ihn an und er folgte widerspruchslos.
Mit zitternden Fingern legte ich ihm das schmale, schwarze Lederband um den Hals und hakte in seinem Nacken den Verschluss ein. Dann ließ ich die Kette los und der kleine, silberne Engelsflügelanhänger landete auf Lucas Brust.
Er senkte den Blick und begutachtete die Kette und den Anhänger ganz genau. Ich strich ihm durch die Haare und meinte sanft: „Nimm sie als Ersatz. Heute bringt sie dir Glück."
Plötzlich sprang er auf und umarmte mich stürmisch. Dabei fielen wir fast mit meinem Stuhl um. „Grazie, grazie, grazie!", ich dachte schon, er würde gar nicht mehr aufhören, sich zu bedanken. Mit einem Lächeln auf den Lippen strich ich ihm einfach nur über den Rücken. Worte waren nicht nötig.
Luca!", Marios scharfe Stimme zerschnitt diesen Moment wie ein Messer. Mein kleiner Italiener zuckte merklich zusammen und löste sich von mir. Fast schon schuldbewusst drehte er sich zu Mario um.
Der keifte ihn sofort an: „Was wird das hier? Du musst gleich raus! Konzentrier dich gefälligst! Ich dachte, du hättest aus dem Warm-Up-Debakel heute Morgen gelernt!" Luca zog den Kopf ein und erwiderte mit leiser Stimme etwas auf Italienisch. Im nächsten Moment durchbohrte mich Marios aufgebrachter Blick. Mist, was hatte Luca denn jetzt gesagt?
Automatisch zog ich den Kopf ein und versuchte in meiner Ecke zu verschwinden.
So bemerkte ich im ersten Moment gar nicht, dass plötzlich Lorri neben mir stand und mich offen anlächelte. „Gleich geht's los!", stellte er dann eher beiläufig fest, doch mich erschreckte er damit fast zu Tode.
Oh Gott! Du kannst dich doch nicht einfach so an mich anschleichen!", keuchte ich und presste eine Hand auf mein rasendes Herz. Lorri begann zügellos zu lachen und japste zwischendurch: „Ich stehe hier schon seit fünf Minuten." Okay, das war jetzt peinlich.
Mit hochrotem Kopf wandte ich den Blick wieder von ihm ab. Luca war verschwunden. Ich konnte ihn in der ganzen Box nicht entdecken.
Doch noch bevor ich verwirrt die Stirn in Falten ziehen konnte, ging die Hintertür auf und Luca kam wieder herein. Er trug jetzt seine Kombi. Seufzend strich er sich durch die Haare. Er wirkte blass und irgendwie kränklich.
Lorri bemerkte wohl meinen besorgten Blick, denn er legte mir eine Hand auf die Schulter und seufzte: „Mach dir keinen Kopf. Er ist vor den Rennen immer ziemlich nervös. Da sieht er aus wie der Tod persönlich." Diese Beschreibung passte ziemlich gut.„Los, geh ihm viel Glück wünschen.", forderte Lorri mich plötzlich auf. Zögerlich warf ich einen Blick auf Mario, der gerade noch an den beiden Motorrädern herumwerkelte. „Mach schon. Da kann er nichts dagegen haben. Ich kümmere mich um ihn.", damit ließ Lorri mich sitzen und verwickelte Mario in ein Gespräch.
Ich stand langsam auf und bewegte mich zögernd auf Luca zu. Dessen Gesichtszüge hellten sich deutlich auf, als er meine Absicht bemerkte. Sogar ein kleines Lächeln schlich sich auf seine Lippen.
Doch ein Crewmitglied machte mir einen Strich durch die Rechnung. Mit einem ziemlich unsanften Ruck wurde Luca zur Seite gezogen.
Ich zog die Augenbrauen zusammen und musterte den Übeltäter, der jetzt intensiv auf Luca einredete. Es war derselbe, der vorhin nach meiner Vorstellung schon Mario in eine Diskussion verwickelt hatte. Und auch jetzt hatte ich das Gefühl, dass es um mich ging.
Mit einem Stöhnen ließ ich mich zurück auf meinen Stuhl fallen und schloss frustriert die Augen. Konnten die Luca nicht mit dem Thema in Frieden lassen? Zumindest bis nach dem Rennen. Er hatte jetzt sicher andere Sorgen.
Sanft legten sich zwei schwere Hände auf meine Schultern. Ich zuckte erschrocken zusammen und hob den Blick.
Mein Herzschlag beschleunigte sich noch mehr. Wenn das überhaupt möglich war. Blaues Feuer sprühte Funken, die ein unbekanntes Brennen in meinem Inneren entfachten. Wie ein Sturm fegten diese Augen meinen Kopf leer. Mein Atem stockte unter seinem intensiven Blick.
Dann senkte Luca verlegen den Kopf und meinte: „Ich...muss gleich auf die Piste. Du kannst hierbleiben und auf den Monitoren schauen. An der Boxenmauer wird es wohl ziemlich eng. Ich weiß nicht, ob da Platz ist. Und hier ist es auch wärmer." Ich legte eine meiner Hände auf seine, die immer noch auf meiner Schulter lag und sagte ernst: „Ich denke, ich werde auf dem Dach schauen."
Ich sah, dass Luca widersprechen wollte, doch irgendwas in meinen Augen hielt ihn wohl davon ab. Stattdessen stimmte er seufzend zu: „Okay, aber nimm lieber noch die zweite Jacke mit. Und..." Für einen Moment herrschte absolute Stille zwischen uns. Seine Stimme wurde immer leiser, als er mich schließlich leise fragte: „Kannst du hier sein, nach dem Rennen? Ich glaube, ich würde dich dann gern zuerst sehen." Am Ende flüsterte er fast.
Ich nickte nur und murmelte: „Versprochen."
Das Team startete die Motoren der beiden Bikes, die inzwischen vor der Box standen. Luca sah auf und strich sich durch die Haare. Dann löste er langsam seine Hände von meinen Schultern und wollte zum Helmregal gehen.
Ich sprang auf und sagte etwas lauter als beabsichtigt: „Luca, warte!" Verwirrt wandte er sich zu mir um und im nächsten Moment schlang ich schon meine Arme um seinen schlanken Körper.
Nach einem kurzen Moment der Verwirrung spürte ich Lucas Arme, die sich vorsichtig um meinen Körper legten. Die schwere Lederkombi, an die ich gepresst wurde, war ziemlich unangenehm. Sie war nicht nur kalt, sondern auch unnachgiebig und hart. Andererseits war das wohl gut so. Schließlich sollte sie Luca schützen. Ich spürte seinen abgehackten Atem auf meiner Haut, als Luca sein Gesicht in meiner Halsbeuge vergrub.
Er war immer noch verdammt nervös und suchte scheinbar Halt. Zögerlich hob ich eine Hand und streichelte vorsichtig durch die kurzen Haare in seinem Nacken.
Auf meinem Rücken spürte ich den durchdringenden Blick seines Chefmechanikers. Ich seufzte leise und Luca hob fast zeitgleich den Kopf. Meine Hand landete fast schon automatisch an seiner Wange und ich flüsterte sanft: „Viel Glück für dein Rennen."
Luca bedankte sich und löste sich dann widerwillig von mir, um sich endlich seinen Helm zu holen. Doch bevor er den aufsetzte, drückte er mir völlig unerwartet einen Kuss auf die Wange.
Das wird das Rennen meines Lebens.", grinste er mich dann an und zog den Helm über seinen Kopf. Dann folgten die Handschuhe und schließlich ging es für ihn los. Er beugte sich noch einmal nach vorn und berührte mit seinen Händen die Stiefel. Und schon saß er auf dem Bike und rollte in die Boxengasse.
Oh ja, das wurde spannend. Ich zog Lucas Jacke fester um meinen Körper und begab mich zum Ausgang der Box.
Doch Mario hielt mich auf. Seine Augen schienen nur noch kleine Schlitze zu sein, als er mich durchdringend musterte. Die Lippen hatte er zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Er sah aus, als hätte er vor, jemanden umzubringen. Und dieser jemand war ich.
Fast schon automatisch zog ich die Schultern etwas hoch. Doch ich rief mich selbst zur Ordnung. Ich hatte mir immerhin nichts vorzuwerfen.
Wo denkst du, dass du hingehst?", fauchte er mich plötzlich an. Okay, das Spiel konnten zwei spielen. Ich zog die Schultern zurück und stellte mich ihm entgegen: „Ich sehe mir das Rennen an, was sonst?" „Wir haben keinen Platz für dich an der Boxenmauer.", das hatte mir ja Luca schon angekündigt.
Teilnahmslos zuckte ich nur mit den Schultern und erwiderte: „Da wollte ich auch nicht hin." „Was willst du überhaupt hier?", mit dieser Frage überraschte er mich völlig.
Einen Augenblick lang konnte ich ihn nur anstarren, bis sich mein Kopf wieder einschaltete und ich antwortete: „Luca hat mich eingeladen und ich habe die Einladung angenommen." „Ich glaube nicht, dass ich ihm das öfter erlauben kann, wenn er dann immer so unkonzentriert ist.", Marios Stimme war so kalt wie Eis.
Ich lachte auf. Marios Blick wurde noch ärgerlicher. „Darum wirst du dir wohl keine Sorgen machen müssen.", ich legte ihm eine Hand auf die Schulter und meinte in völlig entspanntem Tonfall, „Ich kann gar nicht öfter dabei sein."
Damit ließ ich ihn stehen und ging nach oben auf das Dach, zu derselben Stelle, wo ich vorhin mit Luca gestanden hatte.
Verträumt lehnte ich mich nach vorn über das Geländer und suchte die Startaufstellung nach Luca ab. Zuerst fand ich Lorri, der stand auf Platz 7 in der dritten Reihe. Zwei Reihen hinter ihm auf dem 15. Platz konnte ich schließlich Luca erkennen.
Um sein Motorrad standen gefühlt zehn Leute herum. Manche kontrollierten Einstellungen oder was auch immer. Einer sprach mit Luca, ein zweiter hielt ihm einen Zettel vor die Nase. Neben seinem Motorrad stand eine großgewachsene, junge Blondine in einem wirklich knappen, engen Kleid und hielt seinen Schirm.
Damit konnte ich nicht mithalten. Ich war nicht groß und auch nicht extrem schlank. Deswegen werde ich wahrscheinlich nie die Möglichkeit dazu haben, bei einem WM-Rennen im Grid zu stehen.
Mit zusammengezogenen Augenbrauen seufzte ich und warf einen Blick auf die Uhr. Mit Luca an meiner Seite war die Zeit vorhin viel schneller vergangen.
Plötzlich tauchte jemand neben mir auf. Eindeutig die schmale Gestalt eines Fahrers. Die waren ja alle so dünn, dass sie sich hinter Birken verstecken konnten. Die hellblaue Jacke strahlte mich förmlich an, als ich mich zu ihm umdrehte.
Seine braunen Augen leuchteten mich an und seine Mundwinkel hoben sich zu einem freundlichen Lächeln. „Hi, ich bin Fabio.", begrüßte er mich überschwänglich und hielt mir seine Hand hin. In seiner Stimme schwang unverkennbar ein französischer Akzent mit. Überrascht brauchte ich einen Moment, bis ich seine Hand ergriff und erwiderte: „Hi, Fabio. Ich bin Vanessa."
Seine Hand war warm und leicht rau. Ich nahm mir Zeit, ihn mir ganz genau anzusehen. Er hatte ein hübsches Gesicht und seine Augen strahlten immer noch ein warmes Leuchten aus. Sein ganzes Gesicht schien zu strahlen, wenn er lächelte. Dabei sah er kaum älter aus als 17. In seiner Hand hielt er eine blaue Cap des Leopard Racing Teams und auch die Jacke stammte von diesem Team. Während ich überlegte, welche Fahrer zu diesem Team gehörten, sah ich mir seine Haare an. An den Seiten hatte er die dunkelblonden Strähnen kurz geschoren, doch auf dem Kopf waren sie länger.
Fabio ließ meine Musterung über sich ergehen, bevor sein Cap aufsetzte und mich neugierig fragte: „Ich habe dich bis jetzt nie gesehen. Was machst du hier?" Ich musste unwillkürlich lachen.
Mein Bruder ist gestern in einer der Nachwuchsklassen gefahren und da hat mich Luca Marini angesprochen und für heute eingeladen.", erklärte ich in der Kurzfassung. Fabio schien aus dem Grinsen gar nicht mehr herauszukommen, denn als er antwortete, waren seine Mundwinkel immer noch nach oben gezogen: „Der Luca? Wow, damit hätte ich nicht gerechnet. Der ist doch immer so schüchtern. Ich habe schon überlegt, ob der vielleicht einfach... nicht auf Frauen steht, verstehst du?"
Ähm... okay...", ich war ein wenig überrascht über die Wendung des Gesprächs, „Da kann ich dir leider nicht weiterhelfen. Wie gesagt, ich habe ihn gestern kennengelernt."
Sein Blick wurde weich und er sagte beruhigend: „Ja, ich verstehe. Vielleicht stimmt das auch gar nicht. Habe ihn einfach noch nie mit einer Frau gesehen, aber das muss ja nichts heißen."
Da hatte er recht. Zustimmend nickte ich, aber Fabio ließ mir keine Chance zu antworten: „Ich mag ihn. Also, freundschaftlich." „Ja, er..." „Auf ihn ist eigentlich immer Verlass, also schnapp ihn dir!"
Ich brach in Gelächter aus. Kurz sah mich Fabio verwirrt an, dann stimmte er ein.
Als wir uns wieder beruhigt hatten, fragte er mich leise: „Das war zu direkt, oder?" „Ein bisschen.", gab ich schmunzelnd zu. „Sorry...", murmelte er, „Ich weiß manchmal nicht, wann ich lieber still sein sollte." Er sah richtig schuldbewusst aus.
Hey, das passt schon. Manchmal ist es besser, so direkt zu sein.", warf ich ein.
Lächelnd sah ich ihn an. Fabio lächelte zurück und meinte schließlich: „Ich mag dich. Also... freundschaftlich. Du... bist echt sympathisch." Etwas perplex sah ich ihn an. Doch nach einem kurzen Moment lachte ich und erwiderte: „Du bist auch ziemlich sympathisch."
In diesem Moment ging die Einführungsrunde los und ich lenkte meine gesamte Konzentration auf die Strecke. „Dann drücken wir mal dem Luca die Daumen.", schmunzelte Fabio noch, doch dann war er still.
Lucas Start war nicht schlecht. Der Regen hatte zwischen den beiden Rennen der Moto3 und der Moto2 wieder eingesetzt und die Strecke war jetzt wieder richtig nass. Ich betete nur, dass Luca diesmal besser mit den Bedingungen zurechtkam, als heute Morgen.
Doch nach den ersten Runden sah es nicht schlecht aus. Luca hatte schon drei Plätze gut machen können. So wie es im Moment aussah, ging es noch weiter nach vorn für ihn. Einige Zweikämpfe, die er sich mit seinen Kollegen lieferte, waren ziemlich eng und intensiv. Sogar Fabio stieß manchmal einen erschrockenen Laut neben mir aus. Immer wenn ich dann zusammenzuckte, sah er mich entschuldigend an und murmelte: „Zusehen ist schlimmer als fahren."
Schließlich gewann der Weltmeister des letzten Jahres, der Franzose Johann Zarco vor dem Deutschen Jonas Folger. Folger hatte noch auf der Ziellinie versucht, Zarco einzuholen, doch am Ende fehlten ihm 6 Hundertstelsekunden.
Lorri hatte zwei Plätze gut machen können und direkt hinter ihm rauschte Luca über die Linie. Er war also noch bis auf Platz 6 nach vorn gekommen. Ich war richtig stolz auf ihn.
Doch dann erinnerte ich mich an mein Versprechen und ich schreckte auf. Schnell musste ich nach unten in die Boxengasse. Fabio starrte mir verwirrt hinterher, als ich wie von der Tarantel gestochen die Treppe nach unten stürmte. Schließlich folgte er mir sogar.
Als ich vor der Box stehen blieb, hielt auch er neben mir an und grinste: „Hey, lass mir wenigstens die Möglichkeit, mich von dir zu verabschieden." Damit schloss er mich in seine Arme. Ich erwiderte die kurze Umarmung und sagte: „Na klar, Fabio. Vielleicht sehen wir uns ja irgendwann mal wieder." „Das hoffe ich doch!", rief er aus und löste die Umarmung. Dann ging er, doch er drehte sich nochmal um und winkte mir zu.
Ich schüttelte innerlich noch immer den Kopf über den kleinen, überdrehten Fabio, als Luca an die Box zurückkehrte.
Meine Gedanken waren sofort wieder bei ihm. Lächelnd stand ich etwas abseits von seinem Team und erwartete eigentlich, dass er zuerst mit ihnen sprechen würde.
Doch er gab sein Motorrad ab und kam dann auf direktem Weg zu mir. Er schloss mich in eine enge Umarmung und presste mich an seine nicht mehr nur kalte, sondern jetzt auch noch nasse Lederkombi. Trotzdem erwiderte ich die Umarmung nur zu gern, auch wenn er mir mit seinem Helm eine Kopfnuss verpasste.
Den setzte er ab, sobald wir uns voneinander gelöst hatten. Er ließ mir keine Chance, ihm zu seinem Rennen zu gratulieren. Er sagte sofort: „Ich zieh mich schnell um und dann bin ich sofort wieder bei dir." Damit verschwand er.

Nur wenige Minuten später stand er tatsächlich wieder neben mir. Er trug jetzt eine dunkle Jeans und eine orangene Jacke, so wie ich sie noch anhatte.
Los, lass uns wieder hochgehen und uns die MotoGP anschauen.", meinte er und legte mir sanft eine Hand auf den Rücken. Ich nickte nur und folgte ihm aus der Box. Natürlich folgten uns misstrauische Blicke aus jeder Ecke. Doch Luca ignorierte sie vollkommen.
Das Wetter konnte sich heute wirklich nicht entscheiden. Erst sah es so aus, als wollte es endlich besser werden. Aber als die MotoGP-Fahrer ihre Boxen in Richtung Startaufstellung verließen, begann es wieder zu regnen. Nur wenig später hörte es allerdings wieder auf und es schafften sogar ein paar Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke.
Das Rennen wurde trotzdem als Wet Race gestartet. So nannte man ein Rennen, das auf nasser Strecke gefahren wurde. Dann war es den Fahrern erlaubt, während des Rennens das Motorrad und somit die Reifen und das Setup zu wechseln.
Nach dem Start lief es gut für Valentino. In den ersten Runden konnten er und sein Landsmann Andrea Dovizioso sich an die Spitze des Feldes setzen und dort einen kleinen Vorsprung herausfahren.
Doch die Strecke trocknete ab. Ein weiterer Italiener, Andrea Iannone, erkannte das und wechselte als erster das Motorrad. In den nächsten Runden wechselten nach und nach alle Fahrer ihre Bikes. Nur Vale schien davon nichts wissen zu wollen.
Marquez hatte inzwischen die Führung übernommen und raste unaufhaltsam auf seinen nächsten Sieg zu. Valentinos Rundenzeiten nahmen dagegen stetig ab, die Strecke war viel zu trocken für seine Regenreifen.
Neben mir verzweifelte Luca fast. Ich glaube, er beschimpfte Rossi sogar auf Italienisch und raufte sich regelmäßig die Haare. Mir ging es ganz ähnlich, vor allem, weil Rossi ganz offensichtlich die Anweisungen seiner Boxencrew ignorierte.
Schließlich kam er doch noch in die Box und beendete das Rennen auf seinem zweiten Motorrad. Doch er war zu spät dran gewesen. Es reichte nur noch für einen enttäuschenden 8. Platz. Das war nicht gerade hilfreich in seinem WM-Kampf mit dem siegreichen Marquez.
Nach dem Rennen begleitete ich Luca wieder zurück zu seiner Box. Er lächelte mich die ganze Zeit an, doch um seine Augen hatte er einen leicht traurigen Zug.
An der Box wurde Luca sofort in ein Gespräch verwickelt. Einer seiner Teammitglieder redete auf Italienisch auf ihn ein. Luca antwortete meist nur mit einem Nicken oder einem zustimmenden Brummen. Dabei hielt er mich jedoch die ganze Zeit fest, so als hätte er Angst, ich könnte davonlaufen. Was mir niemals in den Sinn gekommen wäre.
Als wir wieder allein waren, seufzte er schließlich und erklärte: „Ich muss zur Aufarbeitung vom Rennen. Ich weiß nicht, wie lange das dauert."
Das Bedauern in seiner Stimme konnte ich deutlich heraushören. „Okay.", meinte ich sanft, „Ich muss dann auch bald los. Ich habe noch eine ziemlich lange Strecke vor mir und muss morgen wieder arbeiten." Das Bedauern breitete sich über sein ganzes Gesicht aus. Doch er nickte knapp.
Vielleicht sollten wir uns dann verabschieden.", es klang nicht so, als wollte er das wirklich. Ich musste mich zu einem Nicken zwingen. „Ja, das wäre wohl am besten." „Okay, also...", stotterte er, „Dann...bis bald. Hoffe ich." „Ja, ich auch.", hauchte ich dann, „Bis bald."
Luca nahm mich in den Arm. Die Umarmung dauerte länger, als es vielleicht unter flüchtigen Bekannten normalerweise der Fall war.
Doch dann löste er sich wieder. Ich wollte mich schon umdrehen und gehen, aber er hielt mich zurück, indem er mein Handgelenk festhielt. „Hier.", sagte er leise und löste meine Kette von seinem Hals. Ich nahm sie entgegen. Er lächelte mich offen an und bedankte sich: „Du hast mir echt das Leben gerettet. Deine Kette hat mir wohl Flügel verliehen."
Immer wieder gern.", lächelte ich. Im nächsten Moment küsste er mich sanft auf die Wange, doch dann wurde er aus dem Inneren der Box gerufen. Er warf einen Blick hinter sich, bevor er sich noch einmal zu mir umdrehte und flüsterte: „Ich habe heute jede Sekunde mit dir genossen, bellezza."
Ich sah ihm noch einige Sekunden hinterher, bevor ich mich auf den Weg zurück ins Fahrerlager des Junior Cups machte. 

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