Vergessen

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Verdammt! Das konnte doch nicht wahr sein!
„Wie jetzt, ihr habt keine Nummern getauscht?!?", die Stimme meiner besten Freundin schnellte deutlich einige Oktaven nach oben. Ich musste das Handy von meinem Ohr weghalten, sonst hätte ich meinem armen Trommelfell für nichts garantieren können.
Aber sie hatte leider recht. Luca und ich hatten keine Nummern getauscht. Auch keine Email-Adresse oder sonst irgendwas in der Richtung.
Ich hatte also auch nichts handfestes in der Hand, um mir selbst zu beweisen, dass all das wirklich passiert war. Es kam mir viel eher wie ein verrückter Traum vor, der einfach ziemlich real gewirkt hatte.
Allerdings konnte ich mich nicht daran erinnern, wie und wo ich sonst die Rennen geschaut hatte. Vielleicht war ich ja also doch in Lucas Box gewesen?
Aber dann wäre ich ja wohl auf die Idee gekommen, ihm meine Nummer zu geben!
Ich seufzte resigniert: „Nein, Lilia, haben wir nicht." „Oh man!", ich glaube, sie hatte gerade Lust, mir den Hals umzudrehen, „Wie kann man sowas nur vergessen!?! Ich dachte, du willst studieren?"
Hä? Was hatte das denn jetzt damit zu tun? „Ähm, ja will ich...", erwiderte ich nur vorsichtig. Lilia unterbrach mich sofort wieder: „Da kannst du aber nicht immer so auf dem Schlauch stehen!"
Ich hörte ein Seufzen am anderen Ende der Leitung. „Okay.", meinte sie schließlich, „Jetzt können wir das nicht mehr ändern. Hast du denn eine Möglichkeit, ihn wiederzusehen?"
Da hatte ich auch schon drüber nachgedacht und ehrlich gesagt, es sah ganz schön mau aus. Karten mit Zugang zur Boxengasse oder gar zum Fahrerlager konnte ich mir nicht leisten und mit einer normalen Tribünenkarte kam ich nicht an ihn heran. Und außerdem waren alle Rennen dieses Jahr nur noch im Ausland, zum größten Teil sogar Übersee.
„Wahrscheinlich frühestens am Sachsenring nächstes Jahr.", stöhnte ich genervt auf und ließ mich rückwärts auf das Bett in meinem Hotelzimmer fallen. Mit einer Hand fuhr ich mir übers Gesicht. Wie hatte ich das nur vergessen können?
Ich konnte schon fast durchs Telefon hören, wie es in Lilias Hirn ratterte. „Okay...", meinte sie schließlich, „Das behalten wir mal im Hinterkopf. Aber das war doch nicht das letzte Rennen in dieser Saison, oder?"
Nein, das war es nicht. Also erklärte ich ihr, wo das Problem lag. Jetzt war es an Lilia zu stöhnen.
Frustriert befahl sie: „Schick mir eine Liste mit allen Rennen, die sie dieses Jahr noch fahren. Am besten gleich mit Ticketpreisen und sag mir auch, wo die Strecken sind. Ich kenn mich da nicht aus. Aber ich schau mir das an und finde eine Möglichkeit, wie ich dich ihm wieder vor die Nase setze." Fast hätte ich mich schon bei ihr bedankt, aber dann fiel mir doch noch ein passenderer Satz ein: „Du bist so unbezahlbar, wirklich." „Deswegen bin ich auch deine beste Freundin.", ich hörte, dass sie schmunzelte, „Halt den Kopf oben. Der Luca ist ja wirklich schnuckelig, da helf ich dir gern."
„Du hast doch nicht..." „Natürlich habe ich ihn gegoogelt. Was erwartest du denn? Du kannst mir hier nicht einfach von einem Typen vorschwärmen und dann von mir verlangen, dass ich ihn mir nicht mal anschaue.", sie klang ein bisschen wie meine Mutter, wenn ich Mist gebaut hatte.
Lilia redete schon weiter, bevor ich auch nur über eine Antwort nachgedacht hatte: „Du hättest mir ruhig mal verraten können, dass Motorradfahrer so sexy sind. Dann hätte ich mich viel mehr für den Sport interessiert!"
„So wie für Fußball?", platzte ich heraus. Lilia lachte in den Hörer. Manchmal schauten wir uns gemeinsam ein Fußballspiel an. Hauptsächlich wegen der Spieler, aber ich selbst interessierte mich sogar tatsächlich ein wenig für Fußball. Und im Gegensatz zu ihr verstand sogar ein bisschen was davon.
„Tja, nur schade, dass man unter den Lederkombis und Helmen noch weniger von den Fahrern sieht, als von den Fußballern in ihren Trikots.", stichelte ich.
Doch sie konterte: „Dafür würde ich es ganz sicher nicht vergessen, dem Hummels meine Nummer zu geben, sollte ich den mal treffen." „Ist ja gut, ich hab's kapiert.", ich verdrehte die Augen. Mir war doch selbst klar, dass es ziemlich dumm von mir gewesen war, ohne Lucas Nummer in der Tasche abzuhauen.
„In Ordnung.", sagte sie dann, „Such mir die Rennen raus und schick mir alles, was ich brauche. Und hör auf, dir Gedanken zu machen. Wir kriegen das schon hin. Wofür sind wir denn #unbezahlbar? Viel Spaß dir in Osnabrück und melde dich mal." „Mach ich und danke.", sie hatte es doch tatsächlich geschafft, mich wieder zum Lächeln zu bringen. Wir verabschiedeten uns und legten dann auf.
Mein Kopf landete in dem weichen Kissen. Meine Gedanken wanderten unweigerlich zum letzten Wochenende zurück.

~

Nachdem ich mich von Luca verabschiedet hatte und zurück im Fahrerlager war, hatte ich mich auf die Suche nach Marec gemacht. Eigentlich wollte ich mit ihm reden. Doch das Fahrerlager war größtenteils schon leer und auch Marecs Wohnwagen war nicht mehr aufzufinden.
Das traf mich härter als erwartet. Wann waren wir das letzte Mal auseinander gegangen, ohne uns zu verabschieden? Das musste schon Jahre her sein. So gefiel es mir auch nicht wirklich.
Meine Eltern waren gerade dabei, die letzten Sachen einzuräumen, also half ich noch ein wenig. Dann verabschiedeten wir uns von denen, die noch da waren und machten uns selbst auf den Heimweg.
Ich schlief im Auto, denn ich hatte noch eine lange Fahrt vor mir, bevor ich mich wieder ins Bett kuscheln konnte.
Deshalb stieg ich am Ziel auch nur aus dem einen Auto aus und in das andere ein, um sofort weiterzufahren.
Es war schon stockdunkel, als ich schließlich in Osnabrück ankam. Ich packte möglichst viele Taschen mit einem Mal und schleppte sie die Treppe nach oben. Alles was jetzt noch im Auto war, würde ich morgen ausräumen. Ich hatte wieder das Auto meiner Mutter, da ich noch kein eigenes besaß.
Erst als ich schließlich fertig im Bett lag und Ruhe fand, schaltete ich mein Handy wieder ein. Sofort blinkten mir mehrere Nachrichten von Marec entgegen. Er beschwerte sich mehrfach, dass ich nicht ranging und schließlich schrieb er mir in einer ziemlich knappen Nachricht, dass sie sich auf den Heimweg machten und er mir noch viel Spaß mit Luca wünschte. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass die letzten Nachrichten ziemlich eingeschnappt klangen.
Also versuchte ich seufzend, ihn zurückzurufen. Doch er ging nicht ran. Ich beließ es zunächst dabei. Morgen konnte ich ihm genauso noch auf den Zeiger gehen.
Mein Handy schob ich auf den Nachttisch und drehte mich dann um. Die Müdigkeit hatte mich schon fast besiegt, als mir plötzlich ein Gedanke in den Kopf schoss.
Ich hatte Lucas Nummer nicht und er auch nicht meine.
Damit war es vorbei mit der Ruhe. Stattdessen kroch mir Verzweiflung in die Glieder und ich wurde schon fast panisch. Wo sollte ich jetzt die Nummer herkriegen?!?
Eigentlich war mir da schon im Hinterkopf klar gewesen, dass ich es nicht mehr ändern konnte. Ich hätte es trotzdem gern getan.
Aber in diesem Moment wollte ich einfach nur Rat und eine beruhigende Stimme. Also rief ich noch weitere fünf Male bei Marec an. Ich wollte schon aufgeben, denn er wollte es mir offensichtlich heimzahlen, dass ich nicht rangegangen war.
Doch dann meldete er sich doch tatsächlich mit verschlafener Stimme: „Meine Güte, kannst du nerven." „Ich habe dich auch lieb, Marec.", erwiderte ich nur. „Ich weiß.", ein kalter Schauer lief meinen Rücken hinab, als er das sagte, „Was gibt es? Wie war dein Tag mit dem Italiener?"
Ein verträumtes Lächeln schlich sich auf meine Lippen, also berichtete ich ihm erstmal ausführlich, was ich alles erlebt hatte. Doch dann kam ich zum eigentlichen Problem.
Marec spürte, dass etwas nicht stimmte, also hakte er nach: „Was ist los? Warum so traurig? Ihr habt doch ganz sicher Nummern getauscht, dann hast du ihn jetzt wohl für immer und ewig an der Backe."
„Nein.", hauchte ich ins Telefon. Im Nachhinein war es ein Wunder, dass er das überhaupt verstanden hatte. „Wie nein?" „Wir haben keine Nummern getauscht.", erklärte ich mit brüchiger Stimme.
Nach einem ziemlich unfreundlich klingenden Schwall Polnisch diskutierten wir ewig, wie es dazu hatte kommen können, dass wir das vergessen hatten. Es gab einige Möglichkeiten.
Schließlich konnte es ja auch sein, dass er meine Nummer gar nicht gewollt hatte. Was sollte er auch damit? Er war ja schließlich schon so gut wie berühmt. Doch Marec konnte sich das partout nicht vorstellen. Deshalb verwarfen wir diese Möglichkeit wieder.
Im Endeffekt waren wir uns einig, dass wir es wohl im Eifer des Gefechts ganz einfach vergessen hatten.
Auch Marec suchte sofort nach einer Lösung, doch er war ziemlich müde. Deshalb ließ ich ihn schlafen und legte auf. Seitdem hatte ich allerdings noch nichts wieder von ihm gehört. Das war ziemlich ungewöhnlich.


~

Inzwischen war es schon wieder Freitag und ich wusste noch nicht so richtig, was ich am Wochenende machen sollte. Ich würde das Wochenende wohl im Hotel verbringen und ohne Ende lesen.
Oh, und Lilia musste ich noch die Termine schicken. Schließlich nahm ich das sofort in Angriff und war schon fast enttäuscht, wie viele Rennen noch auf europäischem Boden stattfinden würden und die ich trotzdem nicht sehen würde.

Schon am Samstag hielt ich es nicht mehr auf meinem Hotelzimmer aus. Die ganze Zeit herumzusitzen ließ mir viel zu viel Zeit zum Nachdenken und ich stellte plötzlich das ganze letzte Wochenende in Frage. Es kam mir immer noch so vor, als wäre das gar nicht wirklich passiert.
Doch sobald ich die Augen schloss, dann war es, als würde ich Luca direkt vor mir stehen. Ich sah diese klaren, blauen Augen vor mir und das ansteckende Lächeln.
Dann lag ich vor mich hin grinsend im Bett. Allerdings brachte mich das bei meinem Handynummerproblem auch nicht wirklich weiter.
Und schon verschwand das Lächeln wieder. Es wich einer frustriert in Falten gelegten Stirn. Die Wände des Zimmers schienen näher zu kommen. Auf meiner Brust lag ein seltsames, drückendes Gefühl. So, wie wenn man die Luft anhielt und dann nach und nach der Sauerstoff fehlte. Und so viel ich auch atmete, das Gefühl verschwand nicht. Ruckartig sprang ich aus dem Bett.
Eine Jacke hing über der Stuhllehne und in meine Turnschuhe konnte ich schon fast im Laufen schlüpfen. Innerhalb weniger Minuten stand ich draußen auf der Straße vor dem Hotel.
Das Wetter war schön, also beschloss ich in die Stadt zu gehen. Einfach um mich ein bisschen abzulenken. Da konnte ein Stadtbummel nicht schaden. Ich wusste, wo der nächste Buchladen war und das würde wohl mein Ziel sein.
Doch weit kam ich nicht, denn mein Handy meldete sich lautstark in meiner Hosentasche.
Ich ging ran, ohne auf das Display zu sehen: „Hallo?" „Hey, Kleine. Hat sich schon was wegen der Nummer ergeben?", Marecs warme Stimme begrüßte mich und ließ mich unwillkürlich lächeln. Seufzend schüttelte ich den Kopf, bis mir einfiel, dass er das ja gar nicht sehen konnte. „Nein.", sagte ich schnell, „Lilia hat sich auch schon selbst darauf angesetzt." Rau drang sein Lachen an mein Ohr und beruhigte mich automatisch. „Vielleicht kann ich dir da auch helfen.", ich konnte das Grinsen an seiner Stimme hören.
Mir war aber gar nicht mehr nach grinsen zumute. Ich zog die Augenbrauen zusammen und rieb mir über die Nasenwurzel. „Wie willst du das anstellen?", fragte ich schließlich. Meine Stimme klang ziemlich zweifelnd.
„Na ja...", er machte es absichtlich spannend, „Mein nächstes Rennen ist in weniger als vier Wochen am Red Bull Ring. Das ist das Wochenende vom 14. August." Dieses Datum kam mir bekannt vor.
„Okay, und wie hilft mir das bei dem Handynummerproblem?", wollte ich wissen und verfluchte im Stillen Marecs gute Laune, die mir gerade irgendwie ziemlich auf den Keks ging. Ich hatte das Gefühl, dass er gar nicht verstand, wie mies es mir deswegen ging.
Als er weitersprach, redete er mit mir als wäre ich schwer von Begriff: „Dreimal darfst du raten, wer an dem Wochenende auch da fährt."
Ein kleiner Funke Hoffnung glomm in mir auf, aber ich wollte ihn nicht zu groß werden lassen. Also meinte ich nur: „Ähm... Darf ich Onkel Google fragen?" Marec stöhnte genervt in den Hörer. „Nein, ich verrat's dir.", gab er schließlich nach, „Wir starten wieder im Rahmen der MotoGP und da ist dein Luca auch da."
Ich quietschte auf. Daher kannte ich also das Datum!
Doch meine erste Euphorie wurde schnell wieder gedämpft. „Marec.", jammerte ich, „Wie soll ich denn dahin kommen?" „Fährt dein Bruder nicht mit?" „Ich weiß zumindest noch nichts davon.", seufzte ich niedergeschlagen. Mein bester Freund sagte einen Moment lang nichts und ich konnte ihn vor meinem inneren Auge sehen, wie er sich durch die Haare fuhr und die Augen zusammenkniff, wie immer, wenn er angestrengt überlegte.
„Dann kommst du eben bei uns mit. Da kannst du auch wieder meinen Schirm halten.", ich musste schmunzeln, äußerte aber trotzdem Bedenken: „Marec, ich muss doch arbeiten." „Aber doch nicht am Wochenende.", warf er ein. „Nein,", bestätigte ich, „aber am Freitag."
Er seufzte: „Kannst du dir nicht irgendwie frei nehmen? Du hast doch noch fast vier Wochen um das hinzubiegen."
„Ich kann's versuchen.", gab ich nach und Marec freute sich: „Oh, das wäre so super cool!" Er hatte ja recht.
Zuerst würde ich aber bei meinen Eltern nachfragen, ob mein Bruder auch in Österreich antreten sollte. Danach konnte ich immer noch entscheiden, ob ich mich wirklich Marecs Familie aufdrängen wollte oder lieber nicht.
Und Lilia musste ich Bescheid sagen. Nicht, dass sie in ein paar Tagen mit völlig überteuerten Karten vor meiner Tür stand. Ich traute ihr alles zu.

Das Wochenende ging am Ende doch noch ziemlich schnell vorbei. Mein Bruder würde auch am Red Bull Ring fahren, aber nach einem Tag Urlaub musste ich meinen Chef doch fragen. Auch meine Eltern wollten schon am Donnerstag nach Österreich fahren, denn am Freitag standen schon die ersten Trainingssessions an.
Andererseits sollte mir das nur recht sein. Die Fahrer des Junior Cups sollten nämlich Karten für das MotoGP-Fahrerlager bekommen. Zwar nur eine Karte für drei Fahrer, aber die konnte man ja untereinander austauschen. Marec hatte mir seine schon versprochen und Flo würde seine sicher auch mal abtreten.
Vielleicht würde es also gar nicht mehr bis nächstes Jahr dauern, bis ich Luca wiedersehen konnte.
Allerdings blieb da immer noch die Frage, ob Luca mich überhaupt wiedersehen wollte. Ich war ja jetzt wirklich kein Model und außerdem war die Entfernung zwischen Italien und Deutschland nicht ganz unwesentlich.
Er hätte mich ja auch nach meiner Nummer fragen können, oder sah ich das falsch?
Was bedeutete es also, dass er es nicht getan hatte? War ich ihm doch eher auf die Nerven gegangen, oder konnte er mich doch nicht so gut leiden?
Eigentlich hatte das gar nicht so gewirkt. Vielleicht machte ich mir auch einfach nur viel zu viele Sorgen.
Nur leider konnte ich meinen Kopf nicht einfach abschalten. Ich sollte schon seit mindestens zwei Stunden friedlich schlafen. Morgen musste ich wieder arbeiten. Aber meine Gedanken ließen mir einfach keine Ruhe.
Immer wieder wälzte ich mich von einer Seite auf die andere. Zum ersten Mal seit zwei Monaten störte mich das Licht, das von der Straße hereinfiel.
Frustriert stöhnte ich auf und zog mir die Decke über den Kopf. Das wurde aber schnell zu warm. Verdammt.
Am Ende stand ich nochmal auf und ging zum Fenster. Draußen auf der Straße war nicht viel los. Nur ab und zu fuhr ein Auto vorbei und kaum ein Fußgänger war noch unterwegs.
Nach ein paar Minuten fröstelte ich und zog die Vorhänge zu. Dann kuschelte ich mich wieder ins Bett und schaffte es tatsächlich einzuschlafen.

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