Alles gelöscht

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Der wichtigste Moment des Tages rückte immer näher. Gleich mussten die Jungs und die drei Mädchen raus auf die Strecke und um ihre Startpositionen kämpfen. Der Junior Cup konnte an diese Wochenende nicht wirklich viel fahren, aber es war nicht nur deshalb für alle ein ganz besonderes Rennen.
Ich hängte mir meine Karte um, trat vor das Zelt und lauschte auf die startenden Motoren. Wie ein Wespennest surrten die Maschinen und erfüllten das ganze Fahrerlager mit diesem Klang, der mehr war als nur Musik in meinen Ohren. Der Sound der Motorräder drang tief in meine Knochen und ließ meinen ganzen Körper beben, machte mich süchtig. Nie würde ich zu viel davon bekommen können.
Schließlich rauschte Flo (mein Bruder) an mir vorbei zum Treffpunkt vor dem Tor. Dort sammelten sich alle Fahrer, bevor sie gemeinsam in die Boxengasse fuhren. Denn das Fahrerlager des Junior Cups war nicht direkt an die Boxengasse angeschlossen. Die Fahrer und ihre Betreuer mussten vorher eine Zufahrtsstraße überqueren, die während des Wochenendes von Menschenmassen nur so wimmelte, da sie quasi direkt hinter der Start- und Zielgeraden lag. Wenn die Youngster auf die Strecke fuhren, wurde extra für sie die Straße abgesperrt.
Langsam trafen auch alle anderen ein und neben ihnen sammelten sich ihre Betreuer. Ich trat an die Seite meines Bruders, spannte meinen Schirm auf, um ihn vor der Sonne zu schützen und reichte ihm seine Trinkflasche. Er nickte nur stumm, doch das war in Ordnung. Es war mir lieber, wenn er sich jetzt auf die Strecke konzentrierte.
Plötzlich knurrte ein weiteres Motorrad hinter mir und kam auf meiner anderen Seite zum Stehen. Marec hielt seinen Kopf unter meinen Schirm und grinste mich unter seinem Helm hervor an. Ich lächelte vorsichtig und rückte den Schirm etwas mehr in die Mitte.
Der Weg in die Boxengasse war nicht lang, aber zu Fuß brauchte man trotzdem 5 Minuten. Wir nahmen unsere Plätze ein und sortierten Boxentafeln und Nummern schon sorgfältig vor uns auf dem Boden, um unseren Fahrern schnell neue Zeichen zu geben.
Ich rückte so nah wie möglich an die Boxenmauer, denn das war der nächste Punkt an der Strecke. Näher dran konnte man an den Maschinen und ihren Fahrern nicht sein. Die rauschten manchmal kaum einen Meter entfernt an einem vorbei. So bekam man auch neben der Strecke ein kleines Gefühl für die berauschende Geschwindigkeit.
Die Boxengasse war scheinbar endlos lang. Auf der einen Seite stand ein langgezogenes Gebäude, in dem sich die Boxen befanden. Und die hatten jetzt die MotoGP-Teams bezogen. Leider waren gerade alle Tore geschlossen und es war keines der Motorräder zu sehen.
Hinter dem Gebäude lag sowas wie ein erstes Fahrerlager. Da standen noch einige Zelte, in denen vor allem die Teams aus den beiden unteren Klassen, der Moto2 und der Moto3, schraubten, da nicht genug Boxen vorhanden waren. Dort befanden sich auch die Trucks der großen Teams.
Die Fahrer schliefen aber in einem anderen Fahrerlager, das direkt neben dem Tower lag und sich über einen wirklich riesigen Platz erstreckte. Ich kannte den Platz in leerem Zustand.
Direkt an der Strecke befand sich die Boxenmauer. Darüber gab es ein Gitter, das dort war, um zu verhindern, dass Zuschauer bei einem Unfall von herumfliegenden Teilen getroffen wurden. Damit man Boxentafeln raus halten konnte, gab es direkt an der Mauer einen erhöhten Bereich.
Ungefähr nach der Hälfte des Qualifyings, das ich mit jeder Faser meines Körpers aufsog, erregte aber etwas auf der anderen Seite der Boxengasse meine Aufmerksamkeit.
Eines der riesigen Rolltore öffnete sich. Langsam und nur Zentimeter für Zentimeter schob sich das graue Tor nach oben. Dahinter kamen zwei knallige Hondas zum Vorschein, verziert mit der Nummer 93.
Resigniert wandte ich mich wieder ab. „Hey, Vanessa. Da drüben ist ein Tor offen!", meine Mutter war total aufgeregt. Ich lächelte sie müde an: „Ja, aber das falsche." „Wieso?", sie sah mich verständnislos an. Jetzt musste ich lachen. „Das ist die Box von Marc Marquez. Den mögen wir nicht."
„Stimmt.", seufzte meine Mutter schließlich und widmete sich wieder dem Qualifying. Ich musste allerdings immer wieder meinen Blick durch die Boxengasse schweifen lassen. Es hatte sich etwas verändert.
Plötzlich rannte die Begleitung von einem Fahrer an mir vorbei und schubste mich fast von der Mauer. „Hey, was ist denn los?", rief ich. Lisa drehte sich um und erklärte im Laufen: „Marquez ist in seiner Box!" „Oh, wie toll.", schnaubte ich sarkastisch und wollte mich wieder dem Geschehen auf der Strecke zuwenden.
Doch mein Blick blieb an einer Box ganz am Ende der Boxengasse hängen. Dort standen die Teams aus den kleineren Klassen, die es sich leisten konnten und kein Zelt beziehen mussten. Eine orange-, rot- und weißfarbene Kalex aus dem Forward Racing Team mit einigen schwarzen Akzenten stand vor der Box. Das Nummernfeld wurde von einer schwarzen 10 geprägt.
Einige Männer in Teamkleidung wuselten um das Motorrad herum und schraubten an den verschiedensten Stellen. Nur einer der Männer stach heraus.
Er hatte nichts in der Hand, keinen Schraubenschlüssel, keine Zange und auch sonst nichts. Stattdessen waren seine Arme vor seinem Brustkorb verschränkt und er beobachtete jeden Handgriff der anderen genau. Oder doch nicht?
Immer wieder sah er auf und ließ seinen Blick über die Boxenmauer schweifen. Ein bisschen so als würde er etwas suchen.
Interessiert beobachtete ich den Mann, der deutlich jünger war, als die anderen. Sein Gesicht wirkte fast noch jungenhaft weich.
Ohne es zu bemerken bewegte ich mich Stück für Stück auf der Boxenmauer entlang. Immer nur ein paar Schritte bevor ich wieder anhielt und ihn ganz genau musterte.
Irgendwann stand ich neben der Schwester eines anderen Fahrers, den ich auch noch vom Minibike kannte. Jenny, ich mochte sie nicht wirklich und sie mich auch nicht. Jetzt folgte sie meinem Blick und grinste mich wissend an: „Luca Marini, was? Vergiss es, der gibt keine Autogramme und macht auch keine Fotos." „Mit dir vielleicht nicht", murmelte ich vor mich hin, als sie sich zur Strecke wandte.
Das war also Luca Marini. Ohne Helm und Kombi hätte ich ihn aus dieser Entfernung niemals erkannt. Ich legte den Kopf schief und sah ihn mir genauer an. Seine schokobraunen Haare hatte er aufgestellt und auf eine Seite gegelt. In seinem hübschen Gesicht lag eine gewisse Anspannung. Trotzdem fesselten mich seine Gesichtszüge.
Ich rutschte noch ein paar Meter näher an ihn heran. Jetzt stand ich ihm genau gegenüber. Nur für einen Moment wandte ich den Blick auf die Strecke und den davor platzierten Bildschirm. Ich wollte nur wissen, wo mein Bruder und mein bester Freund standen.
Als ich den Kopf zurück drehte, blickte ich direkt in Luca Marinis Augen.
Es war, als würde ein Stromschlag durch meinen Körper rasen.
Für einen Moment bekam ich keine Luft. Meine Haut wurde von einem unerklärlichen Prickeln erfasst.
In seinem Gesicht veränderte sich etwas. Die Anspannung verschwand, an ihre Stelle trat so etwas wie Interesse. Er legte den Kopf leicht schief und fixierte meinen Blick. Ich konnte mich nicht mehr abwenden. Die Geräusche der vorbei rauschenden Motorräder verblassten und traten in den Hintergrund. Meine Umgebung verschwamm um mich herum.
Lucas Blick bohrte sich in meine Augen und ich vergaß alles. Ich wusste nicht mehr, wo ich war und hatte vergessen, woher ich kam. Nach meinem Namen musste ich krampfhaft suchen, doch ich fand ihn nicht.
Mein Körper schien vergessen zu haben, wie er funktionierte. Mir war heiß und kalt gleichzeitig. Die feinen Härchen in meinem Nacken stellten sich auf und über meine Arme breitete sich eine Gänsehaut aus.
So intensiv wie diesen hatte ich noch keinen Moment erlebt.
Doch er endete abrupt, als Marecs Vater einen Arm um meine Schultern legte und mich mit sich zog. Ich stolperte nach vorn, konnte mich aber schnell wieder fangen. Aber ich musste meine Augen von Luca losreißen, um nicht von der Boxenmauer zu fallen.
Marecs Vater plauderte über das Qualifying und eine Sekunde lang fühlte ich mich schlecht, weil ich mich so hatte ablenken lassen.
Das Gefühl verschwand schnell, denn ich spürte einen brennenden Blick auf meinem Rücken. Noch einmal drehte ich mich um.
Es war Lucas Blick, der mich verfolgte und sofort zogen mich seine Augen wieder in ihren Bann. Auch Luca schien gefesselt zu sein. Er hob eine Hand und fuhr sich durch seine Haare. Dann lächelte er zögernd. Ich tat es ihm gleich.
Plötzlich zuckte er zusammen und wandte sich ab. Neben ihm war einer seiner Mechaniker erschienen und redete jetzt auf ihn ein. Einen letzten Blick warf er mir noch zu, bevor er sich auf die Erklärungen seines Teams konzentrierte.
Schließlich wandte auch ich mich ab und lief neben Marecs Vater her. Ich warf einen Blick auf den Bildschirm, an dem wir gerade vorbei gingen, denn ich hatte keine Ahnung wo meine Jungs standen. Marec auf Platz 12, also vorderes Mittelfeld und Flo auf Platz 24. Perfekt für seinen ersten Start.

Den ganzen Tag lang ging mir Luca nicht mehr aus dem Kopf. Nach dem ersten Qualifying hatte ich mich in unseren Wohnwagen zurückgezogen, um wieder zur Ruhe zu kommen. Doch je näher das zweite Qualifying rückte, desto schneller schlug mein Herz.
Irgendwann öffnete mein Bruder die Tür und kam rein. Er zog sich seine schwarz- weiße Lederkombi an und zwängte sich dann in seine Daytona- Stiefel. „Los geht's, Schwesterherz.", meinte er dann und nahm Helm und Handschuhe mit nach draußen.
Das war mein Stichwort. Ich stand auf und folgte ihm nach draußen. Marec hatte ich nach dem letzten Training nicht gesehen. Die Jungs brauchten alle ihre Konzentrationsphase. Heute Abend würden wir noch genug Zeit zusammen haben.
Also machten wir uns zum zweiten Mal an diesem Tag auf den Weg in die Boxengasse. Der Himmel hatte sich etwas zugezogen. Den Sonnenschirm brauchten wir jetzt nicht mehr. Morgen war der wichtiger. Aber immer bei uns trugen wir Flos Trinkflasche. Genug zu trinken war das wichtigste überhaupt für jeden Leistungssportler.
Mit Boxentafel und Getränk in der Hand marschierte ich zielstrebig an der Boxenmauer entlang. Ziemlich in der Mitte blieb ich schließlich stehen und richtete uns ein.
Vorsichtig warf ich einen Blick zum Ende der Boxengasse und seufzte enttäuscht auf. Die letzte Box ganz hinten war geschlossen. Davor stand kein Motorrad mehr und auch sonst war weit und breit niemand zu sehen.
An meiner Seite tauchte mein Vater auf und knipste mit seinem Handy tausende Fotos und Selfies. So wie immer.
Doch als die Motorräder auf die Strecke gelassen wurden, steckte er sein Handy schnell ein und konzentrierte sich auf die Strecke und den Bildschirm. Mein Bruder kam als 17. aus der ersten Runde zurück. Das hatte zwar noch nichts zu sagen, aber das machte Hoffnung auf schnelle Zeiten.
Am Ende reichte es für Platz 36 von 42, also ein super Ergebnis. Marec ging von Platz 27 aus ins Rennen. Vielleicht nicht das, was er sich erhofft hatte, aber seine direkten Konkurrenten hatte er geschlagen.

Es war anders als sonst. Nach dem Abendessen war Marec zu mir gekommen und jetzt drehten wir unsere übliche Runde quer durch das Gelände. Aber es war nicht wie sonst.
Was es war, konnte ich nicht sagen. Wir redeten genauso wie immer. Manchmal ärgerten wir uns gegenseitig. Das machten wir auch immer. Dann stichelte er, weil ich so klein war. Oder er eben einfach zu groß. Und ich klaute ihm seine Cap. Das war ein Privileg. Jeder andere war unten durch, sobald er oder sie sich an seinem Cap vergriff.
Aber das ganze war heute einfach freundschaftlich. Wenn ich ihn anschaute, dann zitterten meine Hände nicht. Es entstand kein Klumpen in meinem Magen. Und als er seine warmen braun- grünen Augen auf mich richtete und ich direkt hinein sah, da passierte einfach... nichts. Kein Herzflattern, kein unbändiger Drang zu lächeln, absolut nichts.
Es war, als hätte jemand einen Resetknopf gedrückt und alles gelöscht.

Italian DreamWo Geschichten leben. Entdecke jetzt