Ich hatte nicht gezählt, wie oft am heutigen Abend schon Lucas Name gefallen war. Mir war nicht aufgefallen, dass wir über ihn sprachen. Oder viel mehr, dass er sich immer wieder in unser Gespräch einschlich.
Schon im Taxi auf dem Weg zu dem kleinen griechischen Restaurant waren wir auf seinen Sturz beim letzten Rennen zu sprechen gekommen. Mir sollte erst im Nachhinein auffallen, dass es Marec selbst gewesen war, der das Thema aufbrachte: „Hast du eigentlich was von deinem Lieblingsitaliener gehört? Der Sturz am Wochenende war ja nicht ganz ohne." Ich brauchte eine Sekunde, um zu verstehen, dass er Luca meinte.
Dann nickte ich: „Ja. Also nicht von ihm direkt. Valentino hat mir geschrieben, dass zwar die Ärzte sagen, es sei keine schlimmere Verletzung, aber er hat wohl immer noch Schmerzen in der Schulter."
„Oh ja. Schulter ist übel. Das kann ganz schön lange dauern.", meinte Marec dann, „Ich hatte mir mal von einem Sturz im Winter die Schulter ausgekugelt. Hat bestimmt zwei Monate gedauert, bis ich das wieder normal belasten konnte." „Ich hoffe mal nicht, dass es so lange dauert.", gab ich zurück.
Nach meiner Antwort wechselte Marec das Thema. Allerdings nur bis wir im Restaurant angekommen waren. Ganz gentlemanlike nahm Marec mir die Jacke ab und schob mir sogar meinen Stuhl zurecht. Das kannte ich so überhaupt nicht von ihm. Irgendwie irritierte mich das.
Vermutlich traf mich seine Frage deshalb so unvorbereitet: „Wie oft warst du eigentlich in Italien?" „Ein paar Mal.", sagte ich, „Kommt darauf an, ob man das Rennen in Misano mitzählt." Marec nickte verstehend und hakte nochmal nach: „Bist du immer direkt von den Rennen mit zu ihm geflogen?" Ich schüttelte den Kopf: „Nein. Eins, zwei Mal bin ich direkt von Gelsenkirchen aus nach Tavullia geflogen." Damit gab er sich für den Moment zufrieden.
Der Kellner kam, nahm unsere Getränkebestellungen auf und reichte uns die Speisekarten. Während ich durch die Karte blätterte, stellte Marec die nächste unerwartete Frage: „Wie kam das damals eigentlich mit euch?"
Ich sah auf. Unsere Blicke trafen sich für einen Moment, doch ich konnte ihm nicht standhalten. Für eine Sekunde waren mir seine braun-grünen Augen karibikwasserblau erschienen. Dieser eine Moment versetzte mich zurück in eine gemütliche Tapas-Bar irgendwo bei Aragon.
Als mein Kopf wieder klar wurde, musste ich mich erstmal räuspern. Doch meine Stimme klang bei meiner Antwort noch immer belegt: „Kennengelernt haben wir uns am Sachsenring." „Das weiß ich doch.", unterbrach Marec mich.
„Und in Spielberg haben wir dann Nummern ausgetauscht.", ich ließ mich nicht beirren, „Danach hat er sich regelmäßig gemeldet und mich zu jedem möglichen Rennen eingeladen." Wenn ich das jetzt hier so erzählte, wirkte es unglaublich surreal. All das, was ich mit Luca erlebt hatte, in ein paar Sätze zu verpacken, fühlte sich so falsch an. Aber vor allem war es traurig, dass ich es Marec so erzählen musste, weil er sich zu dieser Zeit so unglaublich daneben benommen hatte.
Jetzt saß er mir gegenüber und sah mir aufmerksam beim Erzählen zu. „Na ja, und in Misano hat uns Fabio gewissermaßen zusammen gebracht." „Fabio?", die Verwirrung stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Quartararo.", half ich ihm auf die Sprünge.
„Ja, ja. Schon klar. Die Frage war eher: Was hat er damit zu tun?" Ich musste lächeln, wenn ich an meinen Wirbelwind Fabio dachte. Als wir uns damals das erste Mal getroffen hatten, hätte ich es nie für möglich gehalten, was er für eine Stütze für mich werden sollte.
„Fabio hat mich aufgegabelt, als ich am Sachsenring alleine Lucas Rennen geschaut habe.", begann ich, „Seitdem hat irgendwie die Chemie zwischen uns gestimmt. Er hat auch schon viel eher als ich erkannt, dass ich total auf Luca stand." Ich nahm mir diese kurze Erzählpause, um lächelnd in Erinnerungen zu schwelgen.
Dann kam ich zurück zum Thema: „Und als Luca und ich in Misano das ganze Wochenende umeinander herum geschlichen sind, hat er es irgendwann nicht mehr ausgehalten."
„Was hat er gemacht?", Marec klang schockierter als notwendig. „Nichts weiter.", beruhigte ich ihn, „Er uns nur irgendwann sehr deutlich darauf hingewiesen, dass es vielleicht der richtige Moment war, um uns einfach zu küssen. Und dann waren wir zusammen."
Der Kellner brachte unsere Getränke und notierte sich unsere Bestellungen. Solange der Kellner noch in Hörweite war, blieb Marec stumm.
Erst danach wandte er sich wieder an mich: „Ist dir Fabio deswegen so wichtig?" „Nicht nur.", nein, mein Fabio war noch so viel mehr. „Er ist gewissermaßen sowas wie mein bester Freund geworden.", gab ich zu, „Er hört mir zu, wann immer ich etwas zu jammern habe. Nach der Trennung von Luca ist er sogar spontan mal eben von Frankreich nach Gelsenkirchen geflogen. Vorher schon einmal zusammen mit seiner Freundin. Und zu seinem Geburtstag im April hab ich mit Valentinos Hilfe seine Freundin als Überraschung nach Austin eingeschleust."
„Das letzte Jahr hat ganz schön viel verändert.", stellte Marec fest und ich konnte ihm nur zustimmen: „Wohl wahr." Ich wusste, dass er damit auf unser Verhältnis anspielte. Vor einem Jahr hätte ich noch ihn als meinen besten Freund bezeichnet. Vor einem halben Jahr hätte ich ihn wahrscheinlich am liebsten nie wieder gesehen. Und jetzt saßen wir zusammen hier.
Aber es fühlte sich nicht so an, wie es das mit Luca getan hatte. Mir fehlte der letzte Funken. Marec schaffte es nicht, mich so komplett zu vereinnahmen, wie es Luca geschafft hatte. Wenn ich mit ihm zusammen gewesen war, hatte es keinen Platz für Gedanken an andere gegeben.
Jetzt saß ich Marec gegenüber und dachte an Luca. Ich sah ihn in seinem schicken hellblauen Hemd vor mir. Sah, wie er heimlich die Oliven von meinem Teller naschte, wenn ich nicht aufpasste. Hörte sein Lachen, wenn es mir doch auffiel und ich lautstark protestierte.
Meine Gedanken wanderten unaufhörlich weiter. Mit jeder Erinnerung befand ich mich an einem anderen Ort. Von einem Club in Barcelona hin zum Strand in Rimini. Aber mir saß dabei nie Marec gegenüber.
Vielleicht hatte ich ja wirklich alles falsch gemacht.
Fabio und Lilia hatten von Anfang an recht gehabt. Sie hatten mir beide prophezeit, dass es so kommen würde. Beide hatten gewusst, dass Marec ein Fehler war und der Richtige eigentlich die ganze Zeit an meiner Seite gewesen war.
Jetzt konnte ich diesen Fehler nicht mehr rückgängig machen.
Alles, was ich tun konnte, war meine Gedanken zu zwingen, bei den schönen Erinnerungen zu bleiben. Lieber das Lächeln genießen, das von ihnen ausgelöst wurde, als denen nachzuweinen, die es nicht mehr geben würde.
Marecs Stimme holte mich unsanft zurück in die Realität: „Ich wüsste gerne, woran du denkst, wenn du so lächelst." „Luca.", seufzte ich. „Immer?" „Wahrscheinlich schon.", ich zuckte mit den Schultern. Meistens bemerkte ich nicht mal, wenn ich so vor mich hin lächelte.
Der Kellner brachte unser Essen und unterbrach so das Gespräch. Während wir aßen, umschifften wir das Thema „Luca" großzügig. Marec erzählte mir von seinen Plänen nach dem Abi und den Eskapaden seiner Freunde.
So ermöglichte er es mir, mit meinen Gedanken abzudriften. Ich musste einfach nur ab und zu an der richtigen Stelle mal nicken, um den Eindruck zu erwecken, dass ich noch zuhörte. Sogar den Kellner, der die leeren Teller abräumte, bemerkte ich erst, als er schon meinen Teller im Griff hatte.
„Du trägst das Armband wieder.", stellte Marec ohne erkennbare Emotion fest, nachdem der Kellner verschwunden war. Mein Gehirn brauchte ein paar Sekunden, um seine Worte zu begreifen. Dann sah ich auf mein Handgelenk und betrachtete die schmale Silberkette, die dort um meinen Arm lag und schon einmal einen Streit mit Marec ausgelöst hatte. Wollte er deswegen jetzt wieder Streit anfangen? Ich war skeptisch. „Ja.", antwortete ich schlicht. Und wieder konnte ich mein Lächeln nicht verhindern.
Mit dem, was er als Nächstes tat, warf er mich vollends aus der Bahn. „Sag mal.", Marec legte seine Hand auf meine, „Kann es sein, dass du ihn immer noch liebst?"
Ich spürte alle Farbe aus meinem Gesicht weichen. Ich wusste es nicht. Mein Gehirn war nicht zu einem klaren Gedanken fähig.
Automatisch sprang der Schalter in meinem Kopf auf Abwehr: „Quatsch. Das mit uns hätte nie funktioniert." Diese Worte hatte ich in den letzten Monaten so oft gesagt, dass sie mir inzwischen ganz leicht über die Lippen gingen. Nur leider glaubte ich so langsam selbst nicht mehr daran.
„Ich glaube, ich sehe das anders.", seufzte er ernst, „Ich glaube, das mit uns wird nie funktionieren." So wie er diesen Satz betonte, war er schon länger davon überzeugt. „Wie meinst du das?", meine Stimme klang schärfer als beabsichtigt. Marec blieb außergewöhnlich ruhig, als er weitersprach: „Ich glaube, dass der Abend heute unser letzter zusammen war. Wir sollten uns trennen. Dann bekommst du wenigstens noch deine Chance, glücklich zu werden. Mit mir wirst du es nicht, so gerne ich es auch hätte. Aber mit Luca vielleicht."
Mein Kopf funktionierte nicht mehr. Ich fühlte mich vollkommen taub. Da war einfach nichts. Wie ein endloses Fallen in die Tiefe. Doch ich fürchtete den Aufschlag nicht. Zumindest nicht in diesem Moment. Die Welt vor meinen Augen war längst verschwommen. Ich wusste nicht mehr, wer vor mir saß. Wäre es kein Reflex, hätte ich sicherlich vergessen zu atmen.
Nur nach und nach verbanden sich meine Synapsen wieder. Langsam bekam ich meine Fähigkeit zu denken zurück. Doch die Gedanken waren nicht klar. Und sie drehten sich weniger um Marec, als ihm gegenüber fair gewesen wäre.
Warum wirbelte Luca wie Blätter im Sturm in meinem Kopf umher? Warum war ich nicht enttäuscht oder verletzt?
Hatte er gerade gesagt, er wollte mir die Chance geben, mit Luca glücklich zu werden? Das konnte nicht sein. Er konnte doch nicht so einfach über mein Leben entscheiden! Er konnte doch nicht einfach die Entscheidung treffen, zu der ich nicht fähig war. Er konnte doch nicht einfach das aussprechen, was diese kleine fiese Stimme im hintersten Winkel meines Verstandes schon seit Wochen versuchte, in mein Bewusstsein zu drängen.
Was war das eigentlich für ein seltsames Gefühl in meinem Bauch? Es war keine Angst, kein Schmerz. Es engte mich nicht ein. Vielmehr ermöglichte es mir, zum ersten Mal seit langer Zeit wirklich frei zu atmen.
Erleichterung.
Es war wie ein tonnenschweres Gewicht, das von meinem Brustkorb gehoben worden war. Mir schossen die Tränen in die Augen, als mich diese Erkenntnis traf.
„Nicht weinen.", Marec schien ein wenig überfordert mit der Situation. Er stand auf und kam um den Tisch herum zu mir. Seine Arme legten sich um mich. Wie lange hatte ich seine Umarmungen nicht mehr richtig genossen?
Ich ließ einfach zu, dass er mich tröstete. Obwohl es nichts zu trösten gab. Ich war nicht am Boden zerstört. Traurig ja, aber eher darüber, dass wir unsere Chance nicht so hatten nutzen können, wie ich es mir gewünscht hatte.
Aber manchmal waren es die Schritte in die falsche Richtung, die uns erst zeigten, welche die richtige Richtung war.
Nur fehlte mir diese immer noch. „Und jetzt?", flüsterte ich mehr zu mir selbst. Ich konnte ja nicht einfach bei Luca auftauchen und ihm sowas sagen wie „Hey, da bin ich wieder. Wollen wir es nicht nochmal probieren?"
Marec hatte mich wohl gehört: „Jetzt überlegen wir uns, wie wir das mit Luca wieder hinkriegen." Er setzte sich wieder auf seinen Platz. Ich konnte in seinem Gesicht keine Spur von Trennungsschmerz erkennen. Vielleicht war dort ein wenig Bedauern zu sehen, aber alles in allem hatte er wieder sein perfektes Pokerface aufgesetzt. Endlich spürte ich wenigstens einen kleinen Stich.
Nach dem Essen blieben wir nicht mehr lang. Der Abend war trotz der Trennung schön gewesen. Freundschaftlich. Locker. Etwas, dass uns seit langer Zeit gefehlt hatte.
Während wir im Taxi nach Hause saßen, dachte ich über den Abend nach. Vielleicht waren wir eigentlich schon viel länger getrennt. Nicht offiziell, aber in unserem Unterbewusstsein. Vielleicht konnten wir deshalb beide so gut damit umgehen. Möglicherweise war es uns beiden im tiefsten Inneren ja schon eine ganze Weile länger klar gewesen, dass wir nicht miteinander glücklich werden würden.
Dieser Gedanke erlaubte mir, eine gewisse innere Ruhe zu finden. Zumindest für den Moment. Die Gedanken an Luca würden schnell genug wieder zurückkehren, um mir jegliche Ruhe zu nehmen.
Und das zurecht. Immerhin hatte ich mit der Trennung von Luca mein vielleicht perfektes Glück aufs Spiel gesetzt. Und wofür? Für ein paar Monate mit Marec, die beinahe nicht nur unsere Freundschaft, sondern auf lange Sicht vielleicht noch viel mehr kaputt gemacht hätten. Leider war man immer erst hinterher schlauer. Dass mindestens Lilia und natürlich auch Fabio, mir schon vorher gesagt hatten, wie das hier enden würde, ignorierte ich in diesem Moment geflissentlich. Bei den beiden musste ich morgen erstmal zu Kreuze kriechen. Zumindest Fabio würde es mir unter die Nase reiben, dass er recht gehabt hatte. Mal wieder.
Marec war neben mir selbst in Gedanken versunken. Seit wir das Restaurant verlassen hatten, war er bei Weitem nicht mehr so gesprächig. Er hatte sich mehr zurückgezogen und lieber mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Aber dafür war ich ihm ganz dankbar gewesen.
Ich würde heute nicht mehr nach Gelsenkirchen zurückfahren. Die Strecke war mir zu lang und es war schon recht spät. Aus diesem Grund würde ich die Nacht noch bei Marec verbringen.
Doch noch bevor ich mir den Kopf darüber zerbrechen konnte, ob ich jetzt noch mit ihm in einem Bett schlafen konnte, kam er mir schon zuvor. „Ich habe dir eben das Bett geräumt. Ich schlafe auf der Couch. Fühl dich wie zuhause.", meinte er, als er mir im Flur der Wohnung mit seinem Kissen unter dem Arm über den Weg lief.
In dieser Nacht bekam ich endlich mal wieder ein paar Stunden am Stück erholsamen Schlaf. Na gut, es waren fast zwölf Stunden. Ich stand am nächsten Tag erst gegen halb elf wieder auf.
Aber das war okay. Ich fühlte mich gut. Mein Kopf war leicht und brummte nicht schon am Morgen.
Trotzdem blieb ich nach dem Frühstück nicht mehr lange. Es zog mich zurück in meine vertraute Umgebung. Dort konnte ich dann darüber nachdenken, wie es weitergehen sollte. Ob ich mich wirklich wieder bei Luca melden wollte. Oder ob ich ihn vielleicht doch besser in Ruhe ließ.
Vielleicht würde ein bisschen Beratung von Fabio mir dabei helfen. Immerhin war er auch Lucas Kummerkasten.
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Italian Dream
FanfictionFür sie ändert sich an einem Wochenende das ganze Leben. Für ihn auch, nur weiß sie das nicht und wird es so schnell auch nicht erfahren. Oder doch? Luca Marini ist ein junger, ambitionierter Motorradrennfahrer, gerade frisch in die Weltmeisterschaf...