So weit weg

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Die Vorlesung zog sich in die Länge. Während der Professor vor mir und meinen Kommilitonen über die Einsatzgebiete von Kommunikationswissenschaften philosophierte, saß ich in einer der hinteren Reihen und las zum wiederholten Male die Nachricht von Marec.
Ich war inzwischen seit einer Woche zurück in Gelsenkirchen. Die erste Vorlesungswoche war ereignislos an mir vorbeigegangen. Auch in den Vorlesungen wurde der wirkliche Stoff erst in dieser Woche angegangen. Dafür hatte ich mich letzte Woche mit ein paar Kommilitonen getroffen. Mit Philipp, Raphaela und Bea verstand ich mich wirklich gut.
Trotzdem fehlte mir Lilias guter Rat. Da sie selbst gerade in ihrer Ausbildung steckte, hatte sie in der letzten Woche wenig Zeit gehabt, um mir mit meinem Marec-Problem zu helfen. Und so stand seine Nachricht immer noch unbeantwortet im Raum.
Mit einem Blick nach vorn versicherte ich mich, dass der Professor immer noch über dasselbe Thema sprach. Dann öffnete ich den Chat mit Marec wieder und begann zu tippen.

- Hallo Marec. Schön, dass du dich meldest. Nach unserem letzten Gespräch hatte ich nicht mehr damit gerechnet. Zumindest nicht in nächster Zeit. Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist, wenn wir uns treffen. –

Ich war mir sicher, dass es nur Streit geben würde, wenn Marec da war. Aus irgendeinem Grund hatte er Luca bisher nicht akzeptieren können. Allerdings wusste er auch noch nicht, dass ich inzwischen mit ihm zusammen war. Wow, wann war unsere Freundschaft eigentlich so kompliziert geworden?
Das war wohl meine Schuld. Ich wusste wann. In dem Moment, als ich ihm meine Gefühle gestanden hatte. Irgendwie hatten wir es zwar hinbekommen, unsere Freundschaft nicht total komisch werden zu lassen, aber trotzdem hatte sie sich verändert. Das war wohl auch kein Wunder.
Nach der Vorlesung stieg ich in die Bahn nach Hause. Ich hatte nicht mehr viel vor heute. Nach der Aufarbeitung der heutigen Vorlesungen wollte ich noch eine kleine Runde laufen gehen und danach mit einem kleinen Abendessen den Tag abschließen. Heute Abend würde ich dann noch auf den Anruf von Luca warten und dann schlafen gehen. So waren die letzten Tage auch abgelaufen. Es hatte sich schon wieder eine gewisse Routine eingeschlichen.
Zuhause angekommen setzte ich mich an den Schreibtisch und angelte mein Handy aus meiner Hosentasche. Eigentlich wollte ich nur ein wenig Musik anschalten, doch mein Blick fiel auf das Benachrichtigungsfeld. Zwei neue Nachrichten wurden mir angezeigt. Eine war von Luca.

- Du fehlst mir, pulcino. Das Training lief gut heute, hab Balda ein paar Mal überholen können. Ich freu mich schon auf heute Abend. –

- Du fehlst mir auch, coccolone. Das Einzige, was mir hilft, ist deine Stimme zu hören. –

Luca und ich schickten ständig Nachrichten hin und her. Das war nicht weiter ungewöhnlich. Die zweite Nachricht überraschte mich mehr. Es war Marecs Antwort.

- Okay. Wow. Damit hatte ich nicht gerechnet. Darf ich fragen, wieso? –

Wollte ich meine Bedenken zu unserer Freundschaft in eine Nachricht packen? Nein, definitiv nicht. Er sollte sie nicht in den falschen Hals kriegen. Also musste ich mir etwas einfallen lassen, das ich vorschieben konnte, bis ich bereit war, ihn wiederzusehen.

- Ich glaube, es ist besser so. Sei mir nicht böse, bitte. Irgendwann können wir uns wieder treffen, nur jetzt noch nicht. Ich möchte ein bisschen Abstand. –

Puh, jetzt gab es zwei Möglichkeiten. Entweder er verstand es, oder konnte es zumindest nachvollziehen und beließ es dabei, oder wir hatten gleich den Zoff unseres Lebens. Ich wartete gespannt auf seine Antwort.
Und wartete. Und wartete.
Es dauerte fast eine Stunde, bis mein Handy die nächste Nachricht ankündigte.

- Können wir wenigstens noch schreiben? –

- Ja. –

Und das taten wir. Täglich meldete sich Marec bei mir. Manchmal schickte er mir nur eine am Tag. Manchmal schickten wir uns den ganzen Tag über immer mal ein paar Nachrichten hin und her. Und manchmal verbrachten wir einen ganzen Abend nur mit dem Schreiben.
In der Zwischenzeit zauberte Luca mir mit kleinen Botschaften über den Tag verteilt immer wieder ein Lächeln aufs Gesicht. Er fehlte mir so. Das Wochenende in Spanien war inzwischen fast drei Wochen her. Luca war schon am Montag nach Japan geflogen. Dort fand in Motegi dieses Wochenende das nächste Rennen statt. Morgen war schon Freitag.
Luca war zum ersten Mal in Motegi. Er war aufgeregt und hätte meine Unterstützung gebraucht. Doch ich konnte nicht weg. Das Studium war jetzt richtig im Gange und ich konnte mir nicht erlauben, drei Wochen zu verpassen. Diese drei Wochen wären nötig, um bei allen Überseerennen dabei sein zu können. Es war einfach nicht möglich. Luca verstand das, auch wenn er nicht glücklich darüber war. Aber das war ich auch nicht. Wie sollte ich auch. Ich fühlte mich, als ließe ich ihn im Stich.
So kam es auch, dass ich beschloss, am Freitag nicht zur Hochschule zu fahren. Ich wollte mir lieber jedes Training im Fernsehen ansehen können und wissen, dass ich Luca wenigstens so unterstützt hatte.
Mein Wecker klingelte pünktlich, damit ich schon bei der Moto3 einschalten konnte. Ich schickte schnell meinen drei Lieblingsfahrern eine Viel-Glück-Nachricht und schickte jedem ein Selfie von mir vor dem Fernseher mit. Für Luca blieb ich im Bett liegen und schrieb dazu, dass ich viel lieber mit ihm zusammen im Bett liegen würde. Vale und Fabio bekamen ein Foto, auf dem ich fertig angezogen und tageslichttauglich war.
Fabio meisterte das erste Freie Training bei trockenem Wetter mit Bravour. Seine Zeit war die viertschnellste. Das gelang auch Valentino in der größten Klasse. Während die Moderatoren im Fernsehen noch über das mögliche Wetter an diesem Wochenende diskutierten, klingelte mein Handy.
Hallo, coccolone.", begrüßte ich Luca. „Hey, anima mia.", antwortete er, „Du schaust dir das Training an?" „Natürlich!" „Das ist gut.", meinte er, „Dann bist du ja irgendwie doch dabei." „Mit dem Herzen bin ich bei dir.", flüsterte ich und spürte, wie meine Wangen eine rote Farbe annahmen.
Doch Luca sagte nichts dazu. Stattdessen verabschiedete er sich schon wieder: „Ich muss mich anziehen. Ich wollte nur noch mal schnell deine Stimme hören." „In Ordnung. Coccolone?", hielt ich ihn noch mal vom Auflegen ab. „Ja?"
Ich bat ihn mit leiser Stimme: „Pass auf dich auf." „Versprochen.", antwortete er. Dann wurde die Verbindung unterbrochen.
Nur wenige Minuten später war im Fernsehen zu sehen, wie Luca auf die Strecke fuhr. Er schien sich schnell zurechtzufinden. Seine Zeiten verbesserten sich kontinuierlich und am Ende sprang ein 16. Platz für ihn heraus.
In der kurzen Pause zwischen dem ersten Freien Training der Moto2 und dem zweiten Freien Training der Moto3 erzählten die Moderatoren über Gott und die Welt. Ich schaltete den Ton ab. Gerade rechtzeitig, denn kurz darauf erreichte mich eine Videochat-Anfrage.
Kurz darauf tauchten Luca und Balda auf meinem Bildschirm auf. Beide schienen recht glücklich mit ihrem Training zu sein. Im Hintergrund sah ich die Mechaniker an den Bikes arbeiten.
Wollt ihr viel ändern?", fragte ich nach, doch beide schüttelten den Kopf. „Ich fand die erste Session schon ziemlich gut.", meinte Luca, „Wir haben zwar jetzt Reifen drauf, die definitiv kein Rennen durchhalten, aber fürs Qualifying morgen sind die wohl nicht schlecht." Balda nutzte eine Pause von Luca für sich: „Ich lass nur ein bisschen die Gabeleinstellungen ändern. Mein Vorderrad ist ein bisschen gesprungen."
Da ich eh keine Ahnung davon hatte, ging ich nicht weiter darauf ein, sondern fragte: „Wie ist die Strecke?" „Schwierig." „Sehr cool." Die Antworten der beiden kamen gleichzeitig. „Ich finde sie auch cool, so ist es nicht.", rechtfertigte sich Luca, „Aber ich bin zum ersten Mal hier und muss mich erst auf alles einstellen." „Ja ja, schon klar.", verdrehte Balda die Augen.
Ich sprach noch eine ganze Weile mit den beiden, bis im Hintergrund das zweite Freie Training der Moto3 begann. Das war das Zeichen für Balda und Luca, zurück an den Schreibtisch zu gehen und noch mal den Streckenplan in die Hand zu nehmen.
Gespannt verfolgte ich Fabios Fahrt auf Platz 11 und Vales 7. Platz. Ihm fehlten nur drei Zehntel auf den Schnellsten. Das bewies wieder, wie eng die MotoGP in dieser Saison zusammen war. Dann war Luca wieder dran. Er verlor ein wenig Boden im Vergleich zum ersten Training und kam auf Platz 22 an.
Damit war der erste Tag in Japan beendet. Wie gern würde ich Luca jetzt in den Arm nehmen und einen schönen Abend mit ihm verbringen. Doch das ging ja leider nicht. Stattdessen beschäftigte ich mich noch ein wenig mit meinen Materialien für die Hochschule. Doch der Stoff wollte nicht so richtig in meinen Kopf. Meine Gedanken kreisten um Luca, der so viele Kilometer entfernt von mir war.
In diesem Moment wurde mir erst so richtig klar, auf was wir uns hier eingelassen hatten. Es würde niemals einfach werden. Er würde ständig unterwegs sein. Selbst im Winter gab es regelmäßig irgendwo einen Test und ich konnte unmöglich immer mit ihm kommen, wenn er gerade wieder am anderen Ende der Welt Motorrad fuhr.
Wieder kam die Frage auf, ob wir überhaupt eine Chance hatten. Es waren schon Beziehungen an viel geringeren Entfernungen zerbrochen. Doch der Gedanke, ihn gar nicht mehr um mich zu haben, zerriss mir das Herz. Nein, das würde auch nicht funktionieren.
Es war Fabio, der mich aus meinen trüben Gedanken riss. Der Klingelton meines Handys verlangte Aufmerksamkeit. Fabio begrüßte mich ganz aufgeregt.
Woah, immer langsam.", lachte ich, „Erstens verstehe ich dich nicht, wenn du Französisch sprichst und zweitens kann ich gar nicht so schnell denken, wie sich dein Mund bewegt." Das brachte ihn kurz aus dem Konzept und sorgte für einen Moment Stille.
Hab ich Französisch gesprochen?", war das Erste, was schließlich von ihm kam. Lachend bestätigte ich und verursachte so ein verlegenes Stottern: „Oh... Sorry, ich... bin einfach so aufgeregt!" „Na los.", forderte ich ihn auf, „Erzähl schon! Ich will es auch wissen."
Ich hörte, wie er am anderen Ende der Leitung ganz tief Luft holte. Dann war es still. „Fabio?", fragte ich vorsichtig, „Ist alles in Ordnung?"
Und dann ließ er die Bombe platzen: „Ich hab heute einen Moto2-Vertrag unterschrieben!"
Was?!?", rief ich freudig aus, „Wie schön!" Fabio gab einen quietschenden Laut von sich, der eindeutig seiner Freude geschuldet war. Er hatte es nicht einfach gehabt im letzten Jahr, deshalb war es umso erfreulicher, dass offensichtlich ein Teamchef genug Vertrauen in den gerade erst 17-Jährigen hatte, um ihn in sein Team zu holen.
Als wir beide uns ein wenig beruhigt hatten, fragte ich ihn aus. „Welches Team ist es denn?" „Pons Racing.", antwortete er bereitwillig. „Und für wie lange?" „Erst mal nur für 2017, aber wenn ich mich gut schlage, dann wollen sie verlängern. Und wenn nicht holt mich dann vielleicht ein anderes Team." Daran hatte ich keinen Zweifel. „Weißt du schon, wer dein Teamkollege wird?" „Edgar wird bleiben."
Am Abend sprach ich auch mit Luca über den Erfolg unseres Freundes. „Ich weiß nicht, ob es vielleicht noch ein bisschen zu früh ist.", merkte Luca an. „Vielleicht.", seufzte ich, „Er ist noch ein bisschen ungestüm. Ein bisschen Hörner abfahren in der Moto3 wäre vielleicht gar nicht schlecht gewesen." „Aber vielleicht macht er sich auch richtig gut.", bemerkte Luca, „Das wissen wir erst nächsten Jahr."
Du bleibst bei Forward, oder?", fragte ich ihn und er bestätigte: „Ja, für die nächste Saison habe ich noch einen Vertrag. Danach weiß ich noch nicht genau, wo es hingeht." Vielleicht mussten wir das auch gar nicht immer wissen. So vieles würden wir gar nicht anfangen, wenn wir schon vorher wüssten, wo es einmal hinführt.

Der Samstag verlief ähnlich wie der Freitag. Ich schaute mir die dritten Freien Trainings an und sah einen überragenden 3. Platz von Fabio, einen 7. Platz von Vale und einen 21. Platz von Luca. Am Telefon erzählte er mir hinterher, dass sie an der Pace für das Rennen gearbeitet hatten und damit jetzt recht glücklich waren.
Vale und Fabio hatten mir beide eine kurze Nachricht geschickt, um mir zu zeigen, dass sie meine Glückwünsche bekommen hatten.
Nach der Mittagspause ging es mit dem Qualifying der Moto3 weiter. Als 8. holte Fabio einen wirklich guten Startplatz heraus. Im vierten Freien Training der MotoGP arbeitete Vale sich mit einem 4. Platz näher an die Spitze, die er im Qualifying dann erklomm. Diese Pole Position feierte er wie einen Sieg.
Ganz so gut lief es für Luca nicht. Obwohl er am Anfang gut dabei war und seine Zeiten stetig verbesserte, fehlten einfach die letzten Zehntel, um vorn dabei zu sein. Nach einem kurzen Boxenstopp hatte das wohl auch Luca festgestellt. Als er seine nächste schnelle Runde fuhr, sah diese deutlich aggressiver aus, als alle davor. Er schöpfte alle Möglichkeiten aus und ging voll ans Limit... Und darüber hinaus. In einer Kurve verlor er schließlich die Kontrolle über das Bike und wurde in hohem Bogen abgeworfen. Das hatte definitiv wehgetan.
Ich presste sein T-Shirt, das übrigens inzwischen offiziell bei mir war, an meine Brust und sah mit weit aufgerissenen Augen die Wiederholung des Sturzes. Doch Luca schien unverletzt zu sein. Zumindest hatte er die Strecke selbstständig verlassen.
Mir war klar, dass ich Luca nicht so schnell erreichen würde. Also musste ich es wohl oder übel bei Vale versuchen. Ich hatte leider überhaupt keine Ahnung, wie er reagieren würde. Aber der Gedanke an Luca trieb mich an.
Si?", meldete er sich. Wahrscheinlich hatte er nicht aufs Display gesehen und sprach deshalb Italienisch. „Hey Vale, ich bin's.", versuchte ich so ruhig wie möglich zu sagen. „Wenn ich nicht gerade im Medical Center stehen würde, hätte ich dich fast gefragt, warum du anrufst.", der belustigte Unterton in seiner Stimme beruhigte mich komischerweise.
Ich ging nicht darauf ein. Stattdessen fragte ich ihn nach seinem Schützling: „Wie geht es ihm?" „Frag ihn doch selbst.", dann folgte ein Rascheln in der Leitung.
Im nächsten Moment begrüßte mich Lucas Stimme: „Hey, vita mia." Er klang ein wenig niedergeschlagen. „Ist alles okay bei dir?", fragte ich ihn ohne Umschweife. „Ja, bellina. Es geht mir gut. Ich bin unverletzt. Ein paar blaue Flecken wird es geben, aber sonst ist alles klar." Ich atmete hörbar aus.
Es tut mir leid, dass du dir Sorgen gemacht hast.", flüsterte er ins Telefon. Mit einem müden Lächeln entgegnete ich: „Ja, mir auch." „Nein, wirklich." „Ist gut, Luca. Ich wusste, worauf ich mich einlasse. Natürlich ist es mir lieber, wenn du nicht stürzt, aber das gehört dazu.", unterbrach ich ihn. „Danke.", hauchte er. Das war etwas, um das ich mir Sorgen machte, nicht er. Dafür hatte er überhaupt keinen Platz an so einem Rennwochenende.
Wir verabschiedeten uns recht schnell voneinander, da die Ärzte ihn sich trotz allem noch mal ansehen wollten. Unser allabendliches Telefonat wollten wir trotzdem beibehalten.

Gemeinsam mit Raphaela und Bea hatte ich mir ein gutes Stück Tanzfläche gesichert. Die beiden hatten mich am späten Nachmittag spontan zu einer 90er-Jahre-Party abgeholt. Das konnte ich nicht ablehnen.
Inzwischen war es nach Mitternacht. Bevor wir gegangen waren, hatte ich noch ein paar Mal versucht, Luca zu erreichen, um ihm zu sagen, dass es bei mir später wurde. Eine Nachricht hatte ich ihm auch geschickt, doch ich wusste nicht, ob die in Japan bei ihm auch angekommen war. Doch diese Sorge verschwand mit jeder Stunde ein kleines Bisschen mehr.
Es war drei Uhr, als ich zurück in meine Wohnung kam. Mein Handy hatte seit gut zwei Stunden kein Akku mehr. Also war meine erste Amtshandlung, es an die Ladestation zu hängen. Während sich das Handy wieder einschaltete, ging ich ins Bad, um mich bettfertig zu machen.
Als ich zurück in mein Schlafzimmer kam, leuchtete mein Display hell. Mehrere Nachrichten wurden mir angezeigt sowie vier verpasste Anrufe. Alles von Luca. Er hatte wohl meine Nachricht nicht bekommen.
Plötzlich befiel mich das schlechte Gewissen. Er war heute gestürzt, hatte sich auf nichts mehr gefreut, als auf sein Bett und unser Telefonat am Abend und egoistisch wie ich war, war ich lieber feiern gegangen. Ich schrieb ihm eine lange Nachricht, um mich bei ihm zu entschuldigen.
Meine Nacht wurde sehr kurz. Durch die Zeitverschiebung musste ich schon keine zwei Stunden später wieder aufstehen, um die Warm-Ups zu sehen.
Luca hatte schon geantwortet. Seine Nachricht wirkte nicht sauer. Doch ich probierte trotzdem, ihn zu erreichen. Er ging nicht ran. Aber er schickte mir eine kurze Nachricht, dass er sich gerade um die Einstellungen an seinem Motorrad kümmern musste. Das hatte ja auch repariert werden müssen.
Tief in meiner Decke und meinem schlechten Gewissen vergraben sah ich mir Fabios Warm-Up an. Wie sie oft schien seine Pace am Renntag nachzulassen. Er wurde nur 23. und fuhr auch nicht besonders souverän.
Luca rief mich kurz vor seinem Turn tatsächlich noch mal an. Von meiner Entschuldigung wollte er allerdings nichts wissen. „Ist schon wieder vergessen.", sagte er. Stattdessen wollte er lieber ein wenig über die Strecke sprechen. Ich ließ ihn mir alles erzählen, was er für wichtig hielt. Dann musste er auf die Strecke. Langsam groovte er sich wieder ein und belegte Platz 20. Valentino, der nach ihm dran war, wurde Fünfter.
Der Start der Moto3 verlief gut, bis zur ersten Kurve. Drei Fahrer stürzten direkt vor Fabio. Doch er kam durch und konnte sich ins Renngeschehen einbringen. Mit 15 anderen Fahrern kämpfte er um die drei vorderen Plätze. Am Ende wurde es richtig eng. Er konnte geradeso seinen 8. Platz ins Ziel retten.
Für Luca wurde es ein hartes Rennen. Er wollte Punkte holen. Doch von Platz 24 aus war das gar nicht so einfach. Schon am Start schoss er an den ersten Konkurrenten vorbei. Er attackierte früh und überholte viele Fahrer vor sich. Nachdem er die erste Gruppe hinter sich gelassen hatte, musste er eine Lücke von knapp 3 Sekunden wieder schließen. Auf Platz 18 gelegen hätte er schon jetzt durchaus zufrieden sein können. Aber das war er nicht. Er kämpfte weiter. Seine Rundenzeiten waren konstant schneller, als die seiner Vorderleute und so erreichte er die Gruppe ungefähr zur Rennhälfte. Auch hier kämpfte er sich unnachgiebig nach vorn. Vier Runden vor Schluss lag er auf Platz 13 hinter Hafizh Syahrin. Die letzten Runden verbrachten die beiden damit, sich hin und her zu überholen. Am Ende hatte Luca die Nase vorn und überquerte auf Platz 12 die Ziellinie.
Jetzt musste nur noch Vale ein gutes Rennen zeigen. Auch wenn es unwahrscheinlich war, noch konnte er Marquez im Titelkampf schlagen. Der konnte heute schon Weltmeister werden, wenn beide Yamaha-Fahrer keine Punkte holen könnten. Meine Hoffnung war natürlich eine andere.
Doch ich sollte enttäuscht werden. Vale startete nicht gut. Marquez und Lorenzo kamen an ihm vorbei. Anfangs konnte Vale noch mit Marquez kämpfen, doch nachdem der sich an Lorenzo vorbeigeschoben hatte, musste Vale erst an seinem Teamkollegen vorbeikommen. Das schaffte er nach sechs Runden auch, aber die 7. Runde wurde ihm zum Verhängnis. In Kurve 10 verlor er das Gefühl für sein Vorderrad und rutschte ins Kies. Damit war sein Rennen beendet. Und der Titel weg. Nachdem auch Lorenzo einige Runden später stürzte, konnte Marquez ganz in Ruhe sein Rennen an der Spitze beenden und war damit Weltmeister.

Ich habe mich selten so über einen 12. Platz gefreut.", strahlte Luca auf meinem Bildschirm. Es war mitten in der Nacht, zumindest bei Luca. In Deutschland wurde es auch langsam dunkel.
Schon seit zwei Stunden hatte ich Luca im Videochat vor mir, doch langsam wurde er müde. Das sah ich ihm an. Er hatte ein anstrengendes Rennen hinter sich und egal, was er mir erzählte, körperlich fit war er nicht gewesen.
Du bist auch unglaublich stark gefahren.", lobte ich ihn erneut. Wir sprachen bestimmt schon zum fünften Mal über das Rennen, doch es störte mich nicht. Er war wirklich gut gefahren. „Vale tut mir leid.", wechselte er jetzt das Thema, „Er hat sich echt gut gefühlt und dann war einfach das Vorderrad weg. Ohne Vorwarnung. Er meint, es ist besonders frustrierend, wenn man die Weltmeisterschaft so verliert." Das erschien mir logisch.
Ich habe mit ihm gelitten.", erzählte ich, „Als sie den Sturz gezeigt haben, habe ich wirklich mitgelitten." „Tja, jetzt hat der Spanier wieder den Titel.", seufzte Luca und ich meinte: „Wann hat eigentlich das letzte Mal ein Nicht-Spanier gewonnen?" „Keine Ahnung."
Eine Weile blieb es still am anderen Ende. Luca gähnte herzhaft. „Du solltest ins Bett gehen.", sagte ich sanft und lächelte ihn fürsorglich an. Er schnaubte: „Ich sehe dich jetzt so lange nicht, da will ich jede Sekunde Videochat genießen, die ich kriegen kann." „Luca.", seufzte ich gequält, „Wenn du so was sagst, zwingst du mich zum Auflegen, damit ich mir nicht schuldig vorkomme, weil ich dir deinen Schlaf raube." Ein verschmitztes Grinsen erschien auf seinem Gesicht: „Das machst du auch, wenn wir gerade nicht miteinander telefonieren."
Es ist schon spät, coccolone.", beharrte ich und er gab nach, nicht ohne seine Augen zu verdrehen: „Na gut, tigrotta. Ich werde jetzt schlafen gehen. Morgen fliegen wir nach Australien."
Oh, streichel Känguru für mich mit!", rief ich begeistert aus und fiel in sein Lachen ein. „Wir hören uns morgen, tesoro." „Ja, sobald ich in Australien bin." Dann winkte er mir zum Abschied.
Der Bildschirm wurde schwarz. Luca war jetzt also bald in Australien. Und ich? Ich saß immer noch hier in Gelsenkirchen fest.

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