Klar werden

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Hatte es diese schwere Entscheidung mir nicht einfacher machen sollen? Bisher war eher das Gegenteil der Fall. Ich war deprimiert, konnte mich seit Tagen nicht dazu durchringen, die Wohnung zu verlassen.
Stattdessen verfolgte ich die ersten Testtage diesen Jahres der MotoGP und damit auch der Moto2. Im Grunde interessierte mich auch nur das. Der erste Testtag in Valencia lief für Luca außerordentlich gut. Am Ende des Tages war er die drittschnellste Zeit gefahren und schien sich eine gute Grundlage für die neue Saison zu legen. Drei Tage später in Jerez wiederholte Luca das starke Ergebnis.
Seit dem Tag nach Lucas Rückkehr nach Italien versuchte Valentino regelmäßig, mich anzurufen. Ich war noch nicht ein einziges Mal ran gegangen. Die Angst vor dem, was er mir vorwerfen könnte, war zu groß. Die Angst, dem nicht standzuhalten und zusammenzubrechen war noch viel größer. Der rationale Teil meines Gehirns wusste sehr wohl, dass Valentino mir ganz sicher nichts Böses wollte. Doch der restliche Teil erinnerte mich immer wieder daran, dass ich seinen kleinen Bruder abserviert hatte.
Nach ein paar Tagen meldete Valentino sich das erste Mal auch per Nachricht. Auch wenn ich ihm nicht antwortete, die blauen Häkchen zeigten ihm an, dass ich es gelesen hatte. Ich wusste, dass ich sie theoretisch hätte ausschalten können. Doch aus irgendeinem Grund wollte ich das nicht.
Inzwischen erreichten mich eigentlich täglich Nachrichten von Valentino. Dabei ging es schon länger nicht mehr vorrangig um Luca. Anfangs war es so. Da hatte Luca ihm noch nicht erzählt, was passiert war. Doch als er das irgendwann herausgefunden hatte, wechselte er immer öfter das Thema. Regelmäßig fragte er nach mir, wie es mir ging, doch ich hatte noch nicht die Kraft gefunden, ihm zu antworten. Also schrieb mir Valentino einfach jeden Tag, erzählte von allem Möglichen, manchmal erwähnte er auch Luca.
Doch ich ignorierte nicht nur Valentinos Anrufe. Auch Lilia hatte im Moment schlechte Karten. Als ich sie kurz nach der Trennung anrief, um mir meinen Schmerz von der Seele zu reden, hatte ich mir ziemlich viel von ihr anhören dürfen. Ich war momentan nicht in der Lage, mir von der Art noch mehr anzuhören, also nahm ich ihre Anrufe solange nicht an, bis ich wieder damit umgehen konnte.
Nach Fabios ehrlichen Worten hatten wir nur noch selten Kontakt. Meistens schrieben wir uns ein paar oberflächliche Nachrichten hin und her. Es war, als spürte er, dass ich im Moment noch nicht zu einer Diskussion bereit war.
Zum wiederholten Mal sagte ich ein Treffen mit Raphaela, Bea und/oder Philipp ab. Vielleicht war das nicht besonders klug, aber ich hatte einfach keine Lust dazu, irgendwo im Ruhrpott unterwegs zu sein und einen auf heile Welt zu machen. Meine Welt war alles andere als heil. Sie war untergegangen, zerbrochen und lag in Trümmern.
Doch da war etwas, das mich noch mehr verletzte. Weder von Luca noch von Marec hatte ich irgendwas gehört.
Okay, bei Luca war es verständlich. Er war verdammt stur. Selbst wenn alles ihn ihm ihn dazu drängen würde, mich anzurufen, er würde es nicht tun. Und laut Vale war er so manches Mal kurz davor gewesen.
Mir ging es ähnlich. Jeden Abend vermisste ich aufs neue Lucas Anrufe. Jeden Abend weinte ich mich aufs Neue in den Schlaf, weil mir seine Stimme so schrecklich fehlte. Jede Nacht erschien er mir im Traum.
Aber bei Marec war es etwas anderes. Ich hatte ihm vor einigen Tagen von der Trennung erzählt. Seitdem hatte er sich nicht wieder gemeldet. Von wegen „meine Tür steht dir immer offen". Das erschien mir jetzt wie Hohn und Spott.
All das führte dazu, dass ich mich einsam fühlte. Ja, ich war selbst schuld. Aber ich war eben auch nicht in der Lage, einen wirklichen ersten Schritt zu tun. Jetzt gerade bereute ich es, mehr als 400 Kilometer weit weggezogen zu sein. Schließlich hatte ich auch meine beste Freundin zuhause zurückgelassen.
Die kalten weißen Wände des Zimmers engten mich ein. Je länger ich mich selbst hier in diesem Raum einsperrte, desto kleiner erschien er mir. Das Atmen fiel mir immer schwerer. Der Druck auf meiner Brust wurde stärker, drohte mich zu ersticken. Wenn ich nicht bald etwas anderes sah, würde ich noch verrückt werden.
Ich sah auf die Uhr. Es war halb fünf Uhr nachmittags. Wenn ich jetzt losfuhr, konnte ich gegen neun bei meinen Eltern sein. Zögerlich ließ ich meinen Blick durch das Zimmer schweifen. Für das Packen meiner Tasche musste ich wohl noch mal zehn Minuten einplanen, aber sonst hielt mich nichts mehr auf.

Was ich mir von meiner überstürzten Fahrt nach Hause erhofft hatte, wusste ich nicht. Wahrscheinlich hatte ich mich einfach nach der Nestwärme im Kreise meiner Familie gesehnt.
Doch leider half die nicht. Ich fühlte mich trotz allem noch verloren und allein in der Welt. Die Worte meiner Mutter brachten es wohl gut auf den Punkt: „Das hier ist dein Schmerz. Wir und deine Freunde können dich für den Moment ablenken oder dir zuhören, wenn dir das hilft. Aber hier durch musst du ganz allein. Das kann dir keiner abnehmen."
Leider waren meine Freunde gerade wenig hilfreich. Ich war mir nicht sicher, ob ich Lilia erzählen sollte, dass ich gerade zuhause war. Zumindest wollte ich das nicht sofort tun. Stattdessen kam es mir plötzlich doch wie eine gute Idee vor, Diana um rat zu fragen.
Im Nachhinein hätte ich mir das sparen können. Ich hatte sie angerufen und sie nach kurzem Small Talk auf den neuesten Stand gebracht. Geduldig lauschte sie meinem Monolog und meldete sich erst wieder zu Wort, als ich geendet hatte: „Ganz ehrlich, ich habe euch zwei nicht zusammen erlebt, aber ich habe dich erlebt, als du ihn kennengelernt hast. Und wenn ich danach gehe, dann machst du gerade wirklich einen Fehler."
„Das habe ich irgendwie öfter gehört in den letzten Wochen.", seufzte ich tief. „Gibt dir das nicht zu denken?", ich konnte ihr leichtes Schmunzeln fast schon durch das Telefon hören. Grummelig entgegnete ich: „Ich habe langsam genug vom Denken. Hat mir nur Ärger eingebracht. Ich möchte einfach nur mal abschalten können." „Fahr doch weg.", schlug sie vor, „Und damit meine ich nicht zu deinen Eltern oder so. Mach mal für ein paar Tage Urlaub. Am besten ganz allein."
Die Idee fand ich gar nicht so schlecht. Nach unserem Gespräch setzte ich mich sofort vor den Laptop und suchte nach einem Reiseziel, das mir zusagte. Viel Budget hatte ich nicht, also würde ich wohl innerhalb Deutschlands bleiben. Da ich das Meer schon immer den Bergen vorgezogen hatte, suchte ich auch jetzt eher nach Zielen in Meernähe. Dort würde es mitten im Februar zwar nicht unbedingt warm sein, aber das Wasser war da. Das Rauschen der Wellen hatte schon immer eine beruhigende Wirkung auf mich.
Als ich am Abend meinen Eltern von meinem Entschluss erzählte, überraschte mich mein Vater. „Ruf doch mal meinen Cousin an. Der hat eine Ferienpension auf Usedom.", meinte er ohne mit der Wimper zu zucken.
Nach dem Abendessen gab er mir die Nummer seines Cousins und nur Minuten später hatte ich ein Zimmer für die nächsten vier Tage. Noch heute Nacht wollte ich die sechsstündige Fahrt bis auf die Ostseeinsel antreten, damit ich früh am nächsten Morgen dort ankam. Frühstück hatte Stefan mir auch schon versprochen.

Als ich aus dem Auto stieg, wehte der Wind mir die frische Seeluft um die Nase. Das Meer war nur 200 Meter Luftlinie von der Pension entfernt. Man ging zu Fuß also etwas mehr als zehn Minuten, vielleicht auch etwas weniger.
Stefan empfing mich mit offenen Armen. Die kleine Pension und das zugehörige Restaurant hatte er von seinen Eltern übernommen, die ihm auch jetzt noch tatkräftig zur Seite standen. Seine Mutter zum Beispiel war noch immer die Chefin in der Küche und sein Vater war die gute Seele des Hauses.
Nach einem reichhaltigen Frühstück vom Buffet zeigte Stefan mir mein Zimmer. Es war gemütlich, richtig urig, und hatte alles, was ich brauchte. Ich nahm mir ein paar Minuten, um das kleine Wohnzimmer, das Schlafzimmer und das Bad zu inspizieren, doch dann zog es mich hinaus zum Wasser.
Dick in meine Winterjacke eingepackt ging ich also los. Der Weg zum Strand führte erst eine Weile an der Straße entlang, doch dann wurde er zu einem sandigen Waldweg.
Schließlich stand ich am Geländer oben an einer Steilküste und sah hinaus auf die grauen Wellen. Der Himmel war bedeckt und grau und verlieh dem Ganzen eine leicht bedrohliche Wirkung. Das Rauschen der Wellen, das hier oben noch recht verhalten war, bewirkte genau das Gegenteil in mir.
In der Nähe war eine Treppe. Die stieg ich vorsichtig hinab. Unten angekommen sanken meine Schuhe sofort im weichen Sand ein. Bevor ich am Ende ganze Sandberge in meinen Schuhen mit nach Hause nahm, zog ich sie lieber aus. Der Sand war kalt unter meinen nackten Füßen. Jetzt im Winter wurde er eigentlich nie richtig trocken und so klebte er an meiner Haut. Doch das war mir egal. Ich mochte das Gefühl des feinen Ostseesandes unter meinen Füßen, wenn ich am Strand spazieren ging.
Ich ging eine ganze Weile am Strand entlang. Ließ einfach meinen Kopf vom Geräusch der Wellen ausfüllen. Ich lief solange, bis die charakteristische Seebrücke von Koserow mit dem dreieckigen Haus in mein Blickfeld kam. Und dann lief ich noch weiter.
Der Strand war menschenleer. Den meisten war es wahrscheinlich einfach zu kalt hier draußen. Am Wasser war man nicht windgeschützt und ich war tatsächlich froh über meine dicke Jacke. Außerdem vermied ich es, zu nah ans Meer heranzugehen. Bei diesen eisigen Wassertemperaturen wären meine Füße sonst schneller abgefroren, als ich „MotoGP" sagen könnte.
Ich ging solange weiter, bis ich mir sicher war, dass kein Strandaufgang in meiner unmittelbaren Nähe war. So wollte ich sichergehen, möglichst allein zu sein. Was albern war, denn ich hatte in der ganzen Zeit, die ich jetzt schon unterwegs war, nicht eine Menschenseele gesehen.
Hier suchte ich mir jetzt aber einen Platz im Sand, der nicht ganz so nass und kalt war, und setzte mich. Ich zog meine Knie an und schlang meine Arme um meine Beine. Dann legte ich mein Kinn auf meinen Knien ab und sah hinaus auf das Meer.
Die Wellen waren recht hoch und rauschten mit großer Wucht auf den Strand zu. Dabei rauschten sie laut und gleichmäßig. Manche von ihnen erreichten die obere Kante des leicht abschüssigen Teils des Strandes direkt am Wasser. Wie gebannt beobachtete ich das Wasser bei seinem wilden Spiel. Ich starrte auf das Meer und bemerkte zunächst nicht wie das Bild vor meinen Augen verschwamm.
Erst als der Himmel über mir nicht mehr grau, sondern strahlend blau wurde und die Sonne heiß auf meiner Haut brannte, erkannte ich die Szenerie. Die Luft roch deutlich salziger hier und ich lag nur mit einem Bikini bekleidet auf einem weichen Handtuch. Ich wandte meinen Blick nach rechts und sah in mir so wohl bekannte blaue Augen.
Mir blieb die Luft weg. Zaghaft erlaubte ich meinem Blick zu wandern. Ich erfasste die schmalen Gesichtszüge, das braune Haar, die schlanke, aber muskulöse Figur.
Eisige Kälte auf meinen Wangen holte mich zurück in die Realität. Ich war allein, saß auf dem kalten Sandboden und starrte in die Wellen. Noch immer weggetreten hob ich meine Hand zu meiner Wange.
Sie war nass.
Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich weinte. Die Tränen liefen einfach so in wahren Sturzbächen über meine Wangen. In meinem Herzen klaffte ein riesiges Loch und ich wusste nicht, wie ich es jemals wieder stopfen sollte.
Luca war weg und ich war allein. Von Marec brauche ich ja offensichtlich auch nicht viel erwarten. Der graue Himmel über mir wurde noch dunkler. Der Wind wurde stärker und drang durch meine Jacke. Oder war ich es, die diese Kälte ausstrahlte?
Ich schniefte laut und wischte mir die laufende Nase am Ärmel ab. Es war eh niemand hier, der es sehen könnte. Verzweifelt ließ ich mein Gesicht in die Hände sinken. Ich ließ zu, dass mein Körper von heftigen Schluchzern geschüttelt wurde. Vielleicht konnten meine Tränen einfach alles wegwaschen.
Wie lange ich einfach nur weinend im Sand saß, wusste ich nicht. Allerdings war mir selbst in meinem erbärmlichen Zustand klar, dass ich langsam wieder aufstehen musste, wenn ich mir keine Lungenentzündung holen wollte. Doch solange ich noch am Strand war, versuchte ich nicht, meine Tränen zu verbergen.
Langsam schlenderte ich den Weg zurück, den ich gekommen war. Ich ließ mir Zeit, war nicht besonders scharf darauf, gleich wieder unter Menschen zu sein.
Deswegen war ich auch erst genervt, als mein Handy einen ankommenden Anruf ankündigte. Aber als ich das Ding aus der Tasche gefummelt hatte und mit einem Blick aufs Display feststellte, dass es Marec war, sah das schon wieder anders aus. Schnell schniefte ich noch mal und schluckte den fetten Kloß in meinem Hals herunter. Oh großartig, jetzt hatte ich auch noch Halsschmerzen.
„Ja?", meldete ich mich kratzig. „Hey.", seine Stimme hatte einen undefinierbaren Unterton, „Wie geht es dir?" Ich lachte freudlos auf und gab eine kraftlose Antwort: „Ach, weißt du, ich sitze hier heulend am Strand, also wie soll es mir schon gehen?" „Du klingst scheiße.", danke, genau was ich gebraucht hatte, „Willst du reden?"
Ich war sämtlichen Gesprächen ausgewichen, doch vielleicht war es jetzt tatsächlich Zeit dafür. Vielleicht sollte ich Marec von dem Sturm, der in meinem Inneren tobte, erzählen. Vielleicht konnte er die Wogen ein wenig glätten. War das ein Lächeln auf meinen Lippen?

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