Streiten wir

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Etwas später hatte ich mich doch wieder breitschlagen lassen und saß mit Kilian, Felix und Marec auf der Tribüne. Auch heute war der Junior Cup als Letztes dran, also hatten wir noch Unmengen an Zeit.
Doch schon nach ein paar Minuten wäre es mir lieber gewesen, wenn Marec gleich auf das Motorrad gemusst hätte und am besten gar nicht wieder gekommen wäre.
Ich war dem Gespräch der Jungs nicht gerade aufmerksam gefolgt, doch Marecs blöder Spruch entging mir leider nicht: „Wenn Männer sich mit ihrem Kopf beschäftigen, nennt man das ‚Denken'. Wenn Frauen das Gleiche tun, heißt das ‚Frisieren'!"
Kilian musste sich sehr deutlich auf die Lippen beißen, um nicht zu lachen. Doch das konnte ich gut ignorieren. Von Felix kam gar nichts. Er hob nur eine Augenbraue. Marec dagegen feierte sich selbst so richtig. Und das konnte ich nicht ignorieren.
„Wenn Männer nicht lieber gucken als denken würden, müssten wir Frauen uns nicht frisieren.", meinte ich kühl. „Aber...", entgegnete er, „wir gucken doch nur, weil ihr beim Denken unbewaffnet seid."
Wow. Marec packte also mal wieder das Arschloch aus. Super. Ich dachte, die Phase hätten wir hinter uns.
„Findest du nicht, dass das gerade ganz schön daneben war?", fragte ich ihn möglichst neutral. Anscheinend zu neutral, denn er feuerte direkt hinterher: „Wenn ich ‚ja' sage, fühlst du dich dann besser?" „Nein."
„Schade...", grinste er, „Ich dachte, du wärst pflegeleicht." „Sehe ich aus wie ein verdammter Hamster?", fauchte ich ihn an, doch anscheinend hatte er es immer noch nicht verstanden: „Na ja, von der Größe her kommt es hin."
„Du bist echt das Letzte!", schnaubte ich verletzt und stand von meinem Sitz auf, um zu gehen. Und Marec setzte noch einen drauf: „Stimmt, das Beste kommt immer zum Schluss."
Dazu sagte ich nichts mehr. Ich drehte ihm den Rücken zu und verließ zielstrebig die Sitzreihe. Auf der Treppe angekommen hörte ich Schritte hinter mir. Ganz kurz, für eine Sekunde, hatte ich die Hoffnung, dass Marec mir gefolgt war und sich entschuldigen wollte.
Bis ich Felix' Stimme hörte: „Hey, Vanessa. Warte mal!" Schwungvoll drehte ich mich zu ihm um und zischte mit einer unterschwelligen Aggressivität, die er nicht verdient hatte: „Was?" Doch Felix reagierte nicht auf meine unfairen Schwingungen ihm gegenüber. Das war wahrscheinlich gerade das Beste, was er tun konnte.
„Marec ist ein Arsch.", sagte er, als er nur noch ein paar Zentimeter von mir entfernt zum Stehen kam. Ich verdrehte die Augen: „Erzähl mir was Neues." „Ich find's nicht okay, wie er sich verhält. Ich weiß nicht, wie er ist, wenn ihr alleine seid, aber wenn du dich für ihn entschieden hast, dann wahrscheinlich anders. Dich würde ich zumindest so einschätzen.", ich ließ ihn erst mal reden, vor allem da ich noch nicht so wirklich wusste, worauf er hinaus wollte.
Nach einer kurzen Pause fand er aber seinen roten Faden wieder: „Was ich eigentlich sagen wollte: Lass dir das nicht gefallen. Er ist ein Idiot." „Habe ich nicht vor, aber danke dir, Felix.", seufzte ich und wandte mich zum Gehen.
Doch er hielt mich zurück: „Wie seid ihr beide eigentlich auf die Idee gekommen, dass das mit euch funktionieren könnte?" Wenn ich seine Frage richtig deutete, dann glaubte er nicht an eine lange Beziehung zwischen mir und Marec. Ich konnte es ihm nicht verübeln.
„Ganz ehrlich", seufzte ich, „ich weiß es gerade selbst nicht mehr. Ich hätte einfach bei Luca bleiben sollen." Zu spät fiel mir auf, dass Felix nichts von Luca und mir wusste. Jetzt musste ich das wohl erklären. Wobei er mir vermutlich eh kein Wort glauben würde. Wie sollte ich schon an einen WM-Fahrer rankommen.
Felix sah mich mit zusammen gezogenen Augenbrauen an, dann legte er den Kopf leicht schief und fragte: „Luca? Welcher Luca?" „Ich hatte was mit Luca Marini.", gab ich zu, versuchte es durch meine Wortwahl herunter zu spielen. „Du hattest was mit Luca Marini.", ungläubig schüttelte Felix den Kopf, „Und? Wie ist er so?"
„Du glaubst mir das?", ich konnte es nicht fassen. „Klar.", er zuckte mit den Schultern, „Warum solltest du mich anlügen? Also, wie ist er so?"
„Ich werde dir ganz sicher nicht erzählen, wie Luca im Bett ist.", weigerte ich mich. Felix verdrehte die Augen: „Das meinte ich auch nicht. Ich meinte so allgemein. Wie ist er so?" „So ziemlich das genaue Gegenteil von Marec.", ich konnte ein Lächeln nicht verhindern, als ich über die Zeit mit Luca nachdachte. Es war, als könnte ich seine Stimme hören und in seine karibikwasserblauen Augen schauen.
„Was uns zurück zu meiner vorherigen Frage führt: Warum bist du mit Marec zusammen? Ich bin kein Fan von solchen Aussagen, aber mal im Ernst: Du hast was Besseres verdient.", wenn Felix wüsste, was er da gerade sagte. „Ich weiß.", seufzte ich, „Zumindest mein Kopf weiß das. Der Rest ist sich da unsicher. Deswegen kann ich dir keine Antwort geben."
Felix winkte ab: „Ich muss es ja eh nicht wissen. Ist eure Sache. Geh erst mal zu euch. Ich rede ihm mal ein bisschen ins Gewissen. Vielleicht benimmt er sich dann ja doch noch mal heute." Wirklich überzeugt waren wir beide nicht davon, doch ich stimmte zu. Felix drehte um und ging zurück auf die Tribüne. Ich schlug die Gegenrichtung ein.

Ich musste nicht lange auf Marec warten. Er kam direkt nach dem Mittagessen bei uns im Teamzelt vorbei und bat mich, mit ihm zu kommen. Da immer noch fast vier Stunden Zeit waren, bevor sich Flo und er für das zweite Qualifying vorbereiten mussten, ging ich mit ihm.
„Hör zu.", begann er, während wir mit einem gewissen Abstand zwischen uns durchs Fahrerlager schlenderten. Das wäre mit Luca nicht möglich gewesen. Er musste sich immer schnellstmöglich von Punkt A nach Punkt B bewegen, wenn er nicht in einer Masse aus Fans und Autogrammjägern stecken bleiben wollte. „Ich habe mal wieder nicht nachgedacht vor dem Reden."
„Dass dir das öfter mal passiert, weiß ich ja inzwischen.", meinte ich emotionslos. Ich wollte nicht zu früh wieder nachgeben. Doch meine Wut vom Vormittag war inzwischen komplett verraucht. „Es tut mir leid, wirklich.", entschuldigte er sich.
Ich seufzte und gab doch nach: „Ist schon vergessen." „Danke.", Marec klang ehrlich erleichtert. Vielleicht redete er manchmal schneller, als er denken konnte, aber ich war mir trotzdem sicher, dass er eigentlich nicht so idiotisch war, wie er sich manchmal verhielt.
Nachdenklich sagte ich mehr zu mir: „Weißt du, manchmal frage ich mich, ob das mit uns wirklich so eine gute Idee war." „Willst du etwa Schluss machen?", Marec reagierte heftiger als erwartet.
„Nein!", rief ich aus und dann noch mal ruhiger: „Nein. Natürlich nicht." Er atmete ganz offensichtlich auf. Trotzdem schienen meine Worte etwas ausgelöst zu haben, denn er klang jetzt ähnlich nachdenklich: „Warum denkst du das?" Das war vermutlich nicht so einfach zu erklären. „Manchmal habe ich das Gefühl, dass wir so extrem unterschiedlich sind. So sehr, dass wir es nie schaffen, mal für ein paar Stunden Harmonie zwischen uns hinzukriegen."
Marec seufzte und schüttelte dann den Kopf: „Das ist doch Blödsinn!" „Marec, seit fast einem Jahr streiten wir uns ständig.", wollte er das nicht sehen? „Das weiß ich.", er widersprach sich damit doch nur selbst, „Aber wir haben es doch vorher auch geschafft und das nicht nur mal für ein paar Minuten."
„Wir haben uns aber auch verändert.", gab ich zu bedenken. „Das weiß ich.", beteuerte er, „Aber grundsätzlich sind wir doch immer noch dieselben." Sein Gesichtsausdruck nahm leicht verzweifelt Züge an.
„Ich habe einfach Angst, dass hier gerade mehr kaputt geht, als nur eine Beziehung, die vielleicht in eins, zwei Jahren so oder so wieder vorbei ist." Gab ich gerade zu, dass ich für uns beide keine langfristige Zukunft sah? War ich schon wieder an demselben Punkt wie mit Luca?
Nein, war ich nicht. Mit Luca hätte ich mir durchaus eine langfristige Zukunft vorstellen können, nur hatte mir meine eigene Sturheit im Weg gestanden. Jetzt war es zu spät. Jetzt konnte ich nicht mehr zurück.
Die Erkenntnis traf mich härter als erwartet. Plötzlich wurde mir unerklärlich kalt. Ich schlang meine Arme um meinen Oberkörper, um mich irgendwie warmzuhalten. Marec reagierte sofort und zog seine Jacke aus, um sie mir um die Schultern zu legen. Er überraschte mich doch immer wieder. Dankbar zog ich den Stoff der Jacke enger um mich. Ich spürte, wie sich die Gänsehaut auf meinen Armen langsam wieder legte. Doch die Kälte in meinem Inneren konnte die Jacke nicht verschwinden lassen.

Typisches Aprilwetter trübte den Himmel ein, als der ADAC Junior Cup am späten Nachmittag in die Boxengasse rollte. Ich war noch immer in Marecs Jacke gekuschelt. Bis kurz vor dem Start des zweiten Qualifyings war er bei mir geblieben, auch dann noch, als wir zurück in unserem Teamzelt waren. Ich konnte den Grund dafür nicht ausmachen, aber ich hatte mich nach unserem Gespräch etwas besser gefühlt. Auch wenn natürlich keine Lösung für das Problem dabei herausgekommen war.
Aber vielleicht war ja genau das mein Problem. Ich brauchte für alles eine Lösung. Manchmal gab es wahrscheinlich einfach keine und man musste einfach nur abwarten, wie sich alles entwickelte.
Zum Glück konnte ich meinen Gedanken nicht mehr lange nachhängen, denn die Action des Qualifyings zog schnell sämtliche Aufmerksamkeit auf sich. Der aufregendste Teil war der, in dem wir die Motorräder auf der Strecke nicht sehen konnten, sondern uns nur auf die Übertragung des Livetimings verlassen mussten. Das waren so ungefähr 90 Prozent der Strecke.
Flo schlug sich besser als am Vortag. Seine Zeiten wurden schneller, doch es reichte trotzdem nicht für eine bessere Platzierung. Er rutschte sogar noch auf den 14. Platz ab. Auch Marec konnte seinen Startplatz nicht mehr verbessern. Er blieb auf Platz 11.
Während Papa mit Flo im Parc Ferme wartete, gingen Mama und ich schon zurück zum Zelt, um das Abendessen vorzubereiten. Da an den Motorrädern für eine halbe Stunde nach jeder Session nichts verändert werden durfte, blieben sie im Parc Ferme. In dieser Zeit fanden auch technische Kontrollen statt, um unerlaubte Veränderungen feststellen zu können. Die meisten Fahrer warteten direkt dort, um ihr Motorrad danach gleich wieder mitzunehmen. So machte das auch Marec.
Nach ein paar Jahren an der Rennstrecke war unser Timing inzwischen so gut eingespielt, dass ich gerade den Tisch deckte, als Flo und Papa wieder zurückkamen. Vor dem Zelt konnte ich Marec vorbeischieben sehen.
Beim Essen besprachen Papa und Nick vor allem Dinge, die das Motorrad betrafen. Mama und ich unterhielten uns über mein Studium. Nach dem Essen half ich wie immer beim Aufräumen. Flo setzte sich mit seinen Unterlagen in eine Ecke und Papa schraubte irgendwas am Motorrad. Da fand er immer was zu tun.
Dann dauerte es auch nicht mehr lange, bis Marec wieder auftauchte. „Hey.", hauchte er in meinen Nacken, als er mich von hinten umarmte. Ich erlaubte mir, die Umarmung für den kurzen Moment zu genießen, den sie andauerte. Marec war nicht sonderlich geduldig, was so was anging.
„Hast du heute noch was vor?", fragte er mich. Eigentlich wollte ich mich am liebsten sofort im Bett verkriechen. „Nö.", antwortete ich, „Ich wollte eigentlich einen ganz entspannten Abend machen."
Marec hatte andere Pläne: „Ich hab gehört, drüben bei der Fan World soll eine Party sein. Kommst du mit?" Lustlos stieß ich die Luft aus. Die Fan World war ein extra Abschnitt im Fahrerlager. Dort gab es allerlei Attraktionen, die den Zuschauer vor Ort auch dann unterhalten sollten, wenn gerade Pause war. Neben einem Wheelie-Simulator gab es dort auch Ausstellungen von Motorradherstellern, die ihre neuesten Modelle präsentierten, ein Shopping-Areal und eine Bühne, auf der zum Beispiel Fahrerpräsentationen stattfanden. Jetzt abends sollte dort ein DJ auflegen.
„Och, ich glaub eher nicht.", wenn ich mir mein laut rufendes Bett vorstellte, klang das nach einem viel schöneren Abend. „Bitte, bitte, bitte.", bettelte Marec und sah mich aus seinen braun-grünen Augen mit einem ganz bestimmten Ausdruck an, bei dem ich einfach nicht ‚Nein' sagen konnte. Egal wie sehr ich es versuchte.
Ich verdrehte die Augen und machte mit meinem Tonfall klar, dass ich eigentlich gar keine Lust hatte: „Na schön, weil du es bist." „Yes, komm, Felix und die anderen warten schon!", rief er aus und hüpfte schon fast vor Freude aus dem Zelt.
Deutlich weniger begeistert folgte ich ihm. An der Ecke hin zum Hauptweg durch das Fahrerlager trafen wir schließlich auf Kilian, Felix und noch ein paar andere, unter anderem auch Jenny, die mir letztes Jahr noch gesagt hatte, dass Luca keine Autogramme geben würden. Na gut, sie hatte ja nicht ganz unrecht gehabt. Eine Telefonnummer war kein Autogramm. Wenn die wüsste. Ich grinste in mich hinein. Marec begrüßte alle per Handschlag, ich nickte nur Kilian und Felix zu. Mit den anderen hatte ich wenig zu tun.
Marec begann allerdings gleich ein intensives Gespräch mit einem der anderen Fahrer. Felix kam zu mir und fragte mich relativ leise: „Ist alles in Ordnung zwischen euch?" „Im Moment schon.", gab ich zurück, „Er hat sich entschuldigt." Felix nickte und nahm einen Schluck aus dem Becher, den er bei sich hatte.
„Sag Bescheid, wenn ich ihm wieder Vernunft einprügeln muss.", meinte er. Ich lachte auf und nickte dann. „Danke dir.", sagte ich aufrichtig und legte ihm nur für einen Moment die Hand auf den Oberarm.
Plötzlich spürte ich Jennys bösen Blick auf mir. Verwirrt sah ich mich zu ihr um. Was sollte das denn jetzt? Auch Felix bemerkte das fiese Funkeln und fragte mich: „Welche Laus ist der denn über die Leber gelaufen?" „Ich habe keine Ahnung.", entgegnete ich ratlos. Dass wir nicht besonders gut miteinander konnten, wusste ich ja. Aber im Normalfall ignorierten wir uns einfach gegenseitig, wenn wir mal zufällig in derselben Gruppe unterwegs waren.
Schließlich setzte sich unser kleiner Trupp in Bewegung. Marec unterhielt sich immer noch. Doch inzwischen hatte er meine Hand genommen. So konnte ich sogar fast damit leben.
Bis Jenny auf meiner anderen Seite auftauchte, war alles ganz erträglich. „Da konntest du bei dem Marini nicht landen und schon musst du dein mieses Ego mit dem ganzen Junior Cup-Fahrerlager aufpolieren!", zischte sie mir ins Ohr. „Wie bitte?", entfuhr es mir.
„Du hast mich schon verstanden.", ihre Stimme triefte nur so vor Abscheu, „Wissen Marec und Felix voneinander?" „Ich habe nichts mit Felix!", fauchte ich sie an, „Wir sind schon seit Ewigkeiten befreundet." „Ach come on! Ich habe euch doch eben gesehen!", sie führte sich auf wie eine Furie.
Ich schüttelte verständnislos den Kopf, doch bevor ich ihr antworten konnte, eilte mir mein klingelndes Handy zur Hilfe. „Das passt ja wunderbar.", murmelte ich zu mir selbst, als ich sah, wer mich anrief.
Hallo Fabio!", ich winkte in meine Handykamera. Jenny neben mir klappte die Kinnlade nach unten, als sie meinen Lieblingsfranzosen erkannte. „Hallo chérie!", er klang wieder wunderbar gut gelaunt, „Wie geht es dir? Wie lief es heute?" „Wie kommst du denn bitte auf ‚chérie', Freundchen?", gab ich zurück.
Ach, ich hab einfach gute Laune und da ist mir das eben so raus gerutscht.", er zuckte mit den Schultern. Ich lachte kurz auf. Das erregte wohl Marecs Aufmerksamkeit, denn er sah kurz zu mir und fragte dann eher nebenbei: „Telefonierst du wieder mit Fabio?" Ich nickte ihm bestätigend zu. Dieses Mal ließ er es darauf beruhen.
Fabio allerdings wurde ungeduldig: „Jetzt sag schon! Wie war es heute?" „Erzähl mir erst mal, warum du so gute Laune hast!", forderte ich ihn auf.
Heute war halt ein guter Tag. Aurelie war über Nacht hier und heute waren wir den ganzen Tag auf der MX-Strecke." „Du und Aurelie?", fragte ich verwirrt. Doch er schüttelte den Kopf. Dann sah er mich schuldbewusst an: „Nein, Aurelie doch nicht. Ich ähm... Weißt du, ich kann heute nicht so lange reden, denn..."
In diesem Moment gab es Geräusche in seinem Hintergrund, die ich nicht zuordnen konnte. Fabio sah sich um. Sein Gesicht nahm einen überforderten Ausdruck an. In der nächsten Sekunde wusste ich auch wieso. Schwungvoll schmiss sich Luca neben ihm auf die Couch.
Sein eben noch breites Grinsen verrutschte ihm etwas, als er mich sah. Auch ich hatte Schwierigkeiten, die Fassung zu bewahren. Blöd nur, dass das hier gerade ein äußerst ungünstiger Moment zum Ausflippen war.
Hey.", brachte ich schwerfällig über die Lippen. „Hi.", antwortete er mit kratziger Stimme. „Luca ist hier...", beendete Fabio lahm seinen Satz. „Ich weiß.", lächelte ich schwach, „Ich kann ihn sehen. Wisst ihr, ich stör euch nicht weiter. Ich muss eh weiter." Ich wollte schnellstmöglich auflegen, doch es war Lucas Stimme, die mich davon abhielt: „Wo seid ihr gerade?"
In Assen bei der WSBK.", antwortete ich und seufzte dann, „Unser Einführungslehrgang war in Misano." „Warum warst du nicht mal in Tavullia? Vale hätte sich sicher gefreut.", er klang traurig. Ich glaubte ihm nicht, dass sich nur Vale gefreut hätte.
Da waren wir in Argentinien.", klärte ihn Fabio schneller auf, als ich antworten konnte. „Oh, achso.", murmelte Luca. In meinem Inneren tobte ein Sturm. Bevor ich meine Gedanken wieder ordnen konnte, hörte ich mich fragen: „Wie geht es dir?" Die Stille bis zu seiner Antwort fühlte sich an wie Stunden. Würde er mir darauf überhaupt antworten?
Ganz okay.", sagte er schließlich schlicht, „Und selbst?" „Auch.", dann war es wieder still. Selbst Fabio schienen die richtigen Worte zu fehlen. Es war wahrscheinlich am besten, wenn ich die beiden jetzt in Ruhe ließ.
Hört mal, ich muss wirklich weiter.", begann ich. „Du musst mir erst noch sagen, wie es heute lief!", beharrte Fabio. Das hatte ich schnell erledigt: „Flo startet morgen als Elfter." „Gut, dann kann er das Überholen üben.", grinste Fabio. Ich lächelte schwach. Morgen erschien mir gerade unendlich weit weg.
Vanessa!", Lucas Stimme ließ mich zusammenzucken. Ich hatte den Fingern schon fast auf dem roten Hörer gehabt. „Bitte grüß Flo von mir.", bat er mich. Ich nickte: „Mach ich." Dann legte ich wirklich auf.
Ich musste erst mal durchatmen, während ich mein Handy zurück in meine Hosentasche schob. Jenny war verschwunden. Marecs Gesprächspartner auch. Wir beide liefen ein paar Schritte hinter der restlichen Gruppe. Marec sagte nichts. Er hielt einfach nur meine Hand fest, so als spürte er, dass ich mich gerade am liebsten irgendwo festklammern würde.
Meine Welt drehte sich gerade ein bisschen zu schnell. Oder zu langsam? Ich konnte meine Gedanken nicht ordnen.
Marec gab mir einfach die wenigen Minuten, die wir noch auf unserem Weg hatten, um wieder zur Ruhe zu kommen. Oder zumindest meine Fassade wieder aufzubauen.
Doch dann standen wir wieder in der Gruppe und ich musste lächeln. Zum Glück hatte ich das inzwischen drauf. Es war eher selten geworden, dass ich in der Öffentlichkeit die Fassung verlor.
Vor der Bühne war eine kleine Tanzfläche eingerichtet worden. Die wurde zum größten Teil von uns belagert. Auch wenn wir nur bedingt wirklich tanzten. Als ich mit Luca und den Jungs aus der Academy in Barcelona gewesen war, hatte das anders ausgesehen.
Ich seufzte wehmütig und schob Marecs Hand, die auf meinem Rücken gefährlich weit nach unten gerutscht war, wieder zurück nach oben. Das konnte ich in der Öffentlichkeit genauso wenig leiden wie wildes Rumgeknutsche.
Allerdings schien Marec das einfach nicht verstehen zu wollen. In regelmäßigen Abständen musste ich seine Hand wieder nach oben schieben und selbst darauf ansprechen erzielte keine Wirkung. Als er dann auch noch anfing, mit seinen Fingern unter meine Jacke zu fummeln, reichte es mir endgültig.
Ich schnappte ihn an seiner Hand und zerrte ihn hinter mir her in eine ruhigere Ecke. „Könntest du bitte aufhören, mir den ganzen Abend am Arsch zu hängen?", hoffentlich klang ich gereizt genug, um ihm meine Stimmung klarzumachen. Er fragte aufgebracht zurück: „Du bist meine Freundin, darf ich das jetzt nicht mal mehr zeigen?" „Doch, darfst du. Aber ohne mich die ganze Zeit in der Öffentlichkeit anzugrapschen.", zischte ich. Lautstark protestierte er: „Ich grapsche nicht!" „Ach nein?", sarkastisch zog ich eine Augenbraue nach oben.
„Du willst unbedingt streiten? Okay bitte.", meinte Marec bissig: „Kein Wunder, dass das mit uns nicht funktioniert." „Wie bitte?", ich wurde hellhörig.
Mir gefiel der leicht abfällige Unterton in Marecs Stimme überhaupt nicht: „Wir unternehmen nichts zusammen. Wenn wir abends unterwegs sind, hast du scheiß Laune. Tagsüber jammerst du mir die Ohren voll. Und wenn wir uns nicht sehen, meldest du dich nicht und schreibst wahrscheinlich den ganzen Tag mit dem Marini."
„Jetzt mach aber mal halblang!", fauchte ich zurück, „Mit Luca habe ich keinen Kontakt mehr. Seit der Trennung nicht. Ich schreibe mit Fabio und Valentino, weil das meine Freunde sind" „Ja ja, ist klar.", schnaubte er, doch ich überging das einfach: „Und meine scheiß Laune habe ich, weil du mich scheiße behandelst! Außerdem bin ich doch hier, oder nicht? Wie kannst du mir vorwerfen, wir unternehmen nichts zusammen oder ICH würde mich nicht melden?!? Du bist derjenige, der nicht antwortet!"
Darauf hatte er nur eine Antwort: „Du bist doch nur wegen deines Bruders hier.", „Wenn ich gewusst hätte, wie das hier endet, hätte ich gut darauf verzichten können.", gab ich zurück. Dann drehte ich mich um und ging. Das musste ich mir nicht geben.

Marec und ich sprachen nicht miteinander. Gestern Abend war ich ohne ein „Gute Nacht" ins Bett gegangen und heute waren wir uns bisher aus dem Weg gegangen.
Trotzdem war es für mich keine Frage gewesen, ob ich mich zu ihm in die Startaufstellung stellte. Wir waren ja nicht getrennt, sondern hatten nur gestritten. Das kam vor. Trotzdem unterstützte ich ihn noch.
Allerdings hatte ich es nicht eingesehen, mich in superschicke Klamotten zu schmeißen. So stand ich jetzt in Jeans, dickem Pulli und Turnschuhen neben ihm und hielt den gelben ADAC-Schirm fest.
Nach dem Start ging es für Marec kontinuierlich nach vorn. Für Flo nicht. Der schien Probleme mit dem Motorrad zu haben und verlor bis zum Rennende drei Plätze. Marec kam als Sechster ins Ziel.
Flos Reifenbild war eine Katastrophe. Es sah aus, als wäre sein Hinterrad unrund gelaufen. Da Papa ein Problem mit der Felge vermutete, baute er das Motorrad noch vor Ort auseinander. Wenn es nötig gewesen wäre, hätte er hier beim Rennservice Ersatzteile bekommen können.
Doch das Problem lag nicht am Rad selbst. Vier nebeneinanderliegende Rollen der Kette hatten sich verabschiedet. In diesem Moment waren wir mit dem 14. Platz plötzlich gar nicht mehr so unglücklich, sondern nur noch verdammt froh, dass Flo es ins Ziel geschafft hatte.
Ich hatte meiner Familie schließlich noch beim Einladen von Transporter und Wohnwagen geholfen und hatte dann die Heimreise nach Gelsenkirchen angetreten. Von Marec hatte ich mich nicht verabschiedet.

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