✦ XXIII ✦

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Perfection, of a kind, was what he was after,
And the poetry he invented was easy to understand;
He knew human folly like the back of his hand,
And was greatly interested in armies and fleets;
When he laughed, respectable senators burst with laughter,
And when he cried the little children died in the streets.
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~~~ W. H. Auden ~~~

P.o.V JOHN KEATING

Leichtfüßig ging das junge Mädchen den Gang entlang. Selbstsicheren Schrittes entfernte sie sich immer weiter von mir. Ihr Haupt trug sie wieder aufrecht, und dies mit ihrer natürlichen, vornehmen Art.
Die junge Miss Harding wurde von der Mehrheit ihrer Mitmenschen unterschätzt. Und dies ohne Grund, so meinte ich. Wenn überhaupt, war ich der Meinung, dass sich ein jeder, der sich ihr in den Weg stellte, dies wohl überlegen sollte. Denn dieses Mädchen hatte etwas an sich, das ich als nichts Geringeres als einen eisernen Willen bezeichnen würde.
Sie war gefüllt mit Leidenschaft und einem wilden Temperament, das man nur selten zu Gesicht bekam. Nach außen hin strahlte sie eine kühle Souveränität aus, die alles einzunehmen schien, was ihr zustand. 

Und obwohl ich dies meiner Schülerin wohl niemals gesagt hätte, gab es nur eine Person, die eine ebenso selbstbewusste Sicht auf die Welt hatte. Und dies war ihr Vater. Wobei es zwischen Vater und Tochter wohl einen über alles entscheidenden Unterschied gab.
Der Senator schaute auf sein Umfeld mit einer frivolen Eitelkeit herab, die seinen Mitmenschen zu verstehen gab, dass er ein Anrecht auf alles hatte, was es auf Gottes Erde gab. Philomenas Haltung zeigte etwas anderes. Ein verzerrtes Spiegelbild. In ihrem Auftreten lag Unbeugsamkeit. Ein Zielbewusstsein, das sie sich von keinem nehmen ließ. Ihr hatte nur ein offenes Ohr gefehlt, um ihre unerschütterliche Ader wieder zu wecken, aber dennoch ließ mich etwas stutzig werden.


Sorgenvoll beäugte ich sie misstrauisch. Ich konnte nicht mit Sicherheit sagen, was, doch etwas weckte Unbehagen in mir. Diese eine Sekunde, die das Mädchen gezögert hatte. Sie hatte innerhalb eines Wimpernschlages entschieden, mich im Dunkeln zu lassen... Was bereitete ihr Kopfzerbrechen? Aber ich musste mich wohl auf eines besinnen:
Die Gedanken junger Menschen waren weitaus weniger beschränkt als die der Erwachsenen. Wenn ich zurückdachte an meine Jugend – ein verträumtes Lächeln keimte auf meinem Gesicht auf – so wurde mir erst wieder bewusst, wie viel lebhafter meine Fantasie, wie viel berauschender meine Träume und wie viel intensiver meine Gefühle gewesen waren. Vor diesen Schülern lag ein breites Band an Möglichkeiten. Sie hatten noch so vieles vor sich. Vor ihnen lag eine Welt, die von Wissen und Erfahrungen gefüllt war. Eine Welt, die sich mir, da ich nun in ein neues Kapitel meines Lebens eintrat, langsam, aber sicher verschloss.

Doch keine Tür schloss sich, ohne eine andere zu öffnen. Die Zeit ließ keinen verschont, und eines Tages würden sich diese jungen, vielversprechenden Geister auf dem Weg befinden, auf dem ich wandelte.
Doch bis es so weit war, würde noch einige Zeit vergehen müssen. Prüfend musterte ich Philomena Harding und fragte mich im Stillen, was wohl im Kopf des Mädchens vorging. 

Während meine Augen noch immer auf der Schülerin lagen, vernahm ich hinter mir das Hallen schwerer Schritte. Sofort wandte ich mich um und entdeckte das bekannte Gesicht des älteren Mannes. Zielstrebig kam er auf mich zu.
"Mr. Keating!"

Ich setzte ein zurückhaltendes Lächeln auf. Er hatte ein zerknittertes, von den Jahren gezeichnetes Gesicht und einen schütteren Kranz aus weißen Haaren auf dem Haupt. Aber wenn man ihn nur etwas genauer anblickte, so erkannte man jenen Mann, der er einstmals gewesen war, bevor er Direktor der Welton Academy geworden war. Ein alteingesessener Lehrer mit strikten Prinzipien, fanatisch besessen von Regeln und einer Vorliebe für den Schlagstock. Ich spürte ein leichtes Pochen auf meinem Handrücken, so als wäre es nicht 15 Jahre her, sondern nur 15 Minuten.

"Direktor Nolan! Was kann ich für Sie tun?", begrüßte ich meinen ehemaligen Professor.

"Ich wollte Ihnen nur Bescheid geben, dass Mr. Bakett morgen einen Termin im Dorf wahrnehmen muss. Sie übernehmen seine Vormittagsstunde in der Abschlussklasse, Keating."

Vorsichtig nickte ich. Das unterschwellige Pochen auf meinem Handrücken hatte noch nicht nachgelassen.
"Natürlich, Mr. Nolan. Ich trage es unverzüglich in meinen Kalender ein."
Ein unbehagliches Gefühl hatte sich bei mir eingestellt. Selbst nach so vielen Jahren...

"Sehr gut, Keating.", murmelte der alte Mann und strich sich nachdenklich über den penibel rasierten Bart, "Und sagen Sie, Keating... War das eben Harding, die ich gesehen habe?"
Seine Stirn hatte sich in Falten gezogen, wodurch er sogleich um zehn Jahre zu altern schien. Aus seinen kleinen, runden Knopfaugen starrte er mich verurteilend an.

"Ja, Sir. Das war Miss Harding.", entgegnete ich ihm, einmal räuspernd, "Sie brauchte einen guten Rat."

"'Einen guten Rat'?", wiederholte mein ehemaliger Lehrer aufhorchend, "Welches Thema betreffend?"

Ich biss mir auf die Zunge. Es widerstrebte mir, mit diesem Mann zu sprechen.
Dennoch gab ich mein Bestes, mich nicht zu abweisend ihm gegenüber zu verhalten: "Es war privater Natur. Daher würde ich es bevorzugen, mich darüber nicht zu äußern."

Im Gesicht des Direktors tat sich etwas. Ungläubig blickte er mich an.
"Was sagen Sie da, John? Privater Natur? Das Mädchen kam zu Ihnen und fragte Sie um Rat in einer privaten Angelegenheit?"

"Nein. Ganz so war es wohl nicht. Ich fand das Mädchen völlig aufgelöst vor meinem Büro vor und bot ihr daraufhin an, sich mir anzuvertrauen.", eröffnete ich Nolan.

Als er dies hörte, schob der Mann scharf sein Kinn vor. Ein tadelnder, beinahe schockierter Gesichtsausdruck traf mich.
"Mr. Keating. Ich muss doch wohl sehr bitten! Was haben Sie mit den Problemen der Schüler zu schaffen? Ihre alleinige Aufgabe ist es, den Stoff zu lehren und die Schüler dabei bestmöglich auf die Abschlussprüfung vorzubereiten. Nicht mehr und nicht weniger."

Missmutig verzog ich meinen Mund.
"Direktor Nolan, das Mädchen hat erst vor wenigen Monaten ihren Bruder verloren. Und ist es nicht auch unsere Aufgabe, unsere Klassen auf das Leben vorzubereiten und ihnen mit Rat beiseite zu stehen? Ist dies nicht auch Teil unseres Unterrichts?", widersprach ich mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge.

"Das akademische Leben!", korrigierte mich der ältere Mann mit drohend erhobenem Finger, "Reden Sie über die Universität. Über Kurse, die sie besuchen sollten, in den Sommerferien. Besprechen Sie die Aufnahmetests. Kurz: Befolgen Sie den Lehrplan!"
"Und wenn nun einer meiner Schüler bei mir um Rat suchen würde? Ich könnte ihn doch nicht abweis-"
"Es liegt nicht in Ihrem Aufgabenbereich, Keating. Finden Sie sich damit ab. Die Eltern schicken die Kinder zu uns, damit sie auf Eliteuniversitäten aufgenommen werden. Nicht um sie zu verweichlichen!"
"An wen sollten sie sich dann ansonsten wenden, wenn sie Sorgen haben?", warf ich, im Nachhinein betrachtet, etwas zu scharfzüngig ein.

Verächtlich verdrehte der Direktor die Augen. Er war mir überdrüssig. Ich war ihm ebenso lästig wie Fliegen im Sommer.
"An die Eltern natürlich. Ihre Schüler sind doch wohl des Schreibens mächtig, nicht, Keating? Und mit den Telefonen im Flur wird es ihnen wohl nicht an Kontakt mangeln.", wimmelte er mich schroff ab, "Und überhaupt: Was für Sorgen sollten die Schüler auf Welton schon haben? Mit Ausnahme denen, die Sie ihnen aufzwingen, Keating. Mit einem Verhalten wie dem Ihren fördern Sie nur, dass unsere Schüler zu verhätschelten Gören werden."

Keinem der eben gesprochenen Worte konnte ich zustimmen. Heftig zerrte mein Gewissen an mir.
"Also ist Ihr Vorschlag, sie sich selbst zu überlassen?", presste ich zwischen meinen Lippen hervor.

Ein tiefes Lachen drang aus Nolans Kehle. In meinen Ohren klang es bedrohlich. Das Pochen auf meinem Handrücken nahm zu.
"Mein Vorschlag ist, dass Sie Ihren Job erledigen, John. Und zwar nur Ihren Job. Überlegen Sie sich Ihre nächsten Schritte gründlich. Die Schüler sind nicht Ihr Problem. Denken Sie an Ihre Zukunft und zügeln Sie sich."

Mit diesen letzten Worten wandte er sich von mir ab und ließ mich alleine im Gang stehen. Doch es gab keine Worte, die mich von meinen Überzeugungen abbringen hätten können. Und trotz Nolans Ansprache hatte ich dennoch das Gefühl gehabt, Philomena einen kleinen Teil ihrer Furcht genommen zu haben.
Und am Ende des Tages zählte für mich nur dies:
Meinen Schützlingen Halt und eine Richtung zu geben.

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