✦ XII ✦

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It matters not how strait the gate,
How charged with punishments the scroll,
I am the master of my fate,
I am the captain of my soul.
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~~~William Ernest Henley~~~

P.o.V PHILOMENA
Ich lehnte mich zurück. Neil war seit einigen Minuten aus meiner Sichtweite. Bevor er hinter dem Vorhang verschwunden war, hatte ich ihm ein ermutigendes Lächeln geschenkt und beide Daumen in die Höhe gestreckt.
Der sonst so gebräunte Junge hatte unten im Licht der Halle blass gewirkt. Die Nervosität war ihm anzusehen gewesen, aber ich hatte ihm erklärt, wie er sich mit Hilfe seiner Atmung im Griff halten konnte.

Das Gebäude war nicht unbedingt die Carnegie Hall, aber dennoch sehr beeindruckend für eine kleine Stadt in Vermont. Es war eine große Halle mit provisorisch aufgebauter Bühne und einem roten Vorhang aus schwerem Stoff.
Nebenbei hatte es auch so etwas Ähnliches wie einen Balkon, von dem man direkt auf die Bühne hinab blicken konnte. Dort hatten Todd und ich Platz genommen.
Todd. Er war ebenfalls als Unterstützung für Neil mit von der Partie. Der Junge, der neben mir auf dem gepolsterten Sessel Platz genommen hatte, wirkte beinahe noch aufgeregter, als der, welcher unten gleich sein Vorsprechen hatte. Es war wirklich ein Wunder, dass Todd Anderson mit Neil und mir hierhergekommen war.
Für gewöhnlich brachte man meinen stillen Freund kaum aus seinem Zimmer. Des Öfteren ging er auch an den See, um auf seinem Block herumzukritzeln. Doch nun, wo die Tage kürzer und die Winde kälter wurden, wanderte er auch dort nur noch selten hin.

Interessiert beugte ich mich vor, um über das Geländer hinweg sehen zu können. Von unten waren Rufe ertönt. Eine hagere Frau mittleren Alters hatte ihre Stimme erhoben. Sie war leise und, da sie nicht auf der Bühne stand, konnte man sie nur schwerlich verstehen.
Einige Jugendliche, die wohl in etwa so alt waren wie wir, standen in einem Haufen beisammen gedrängt. Mein Blick war aufmerksam über die Massen an jungen Menschen gewandert und in wenigen Augenblicken hatte ich auch bereits meinen Freund ausgemacht.
Wie alle anderen stand er brav in der Menge und lauschte den Anweisungen der Instruktorin gewissenhaft.

Vor Aufregung tastete ich neben mich. Mit einem Grinsen auf den Lippen ergriff ich Todds Arm, welchen er auf der Armlehne gelegt hatte. Ich spürte, wie sich seine Muskeln unter der unerwarteten Berührung verkrampften. Erschrocken hatte er sich aufgerichtet und den Kopf zu mir gedreht. Ich brauchte mich nicht einmal umzublicken und spürte sein Starren bereits. Seine meerblauen Augen, die sich ungehemmt in meinen Rücken bohrten.

"Sieh nur, Todd!", verkündete ich feierlich und vernahm meine etwas zu laute Stimme, wie sie hinter uns hallte, "Da ist Neil! Das bedeutet wohl, dass es gleich losgehen wird."
Langsam ließ ich meine Hand von der des Jungen gleiten. Vorsichtig beugte auch er sich nun über die Brüstung, welche an der Außenmauer mit gemalten Bildern verziert war. Hauptsächlich waren es landwirtschaftliche Motive gewesen, soweit ich es von unten hatte beurteilen können.
Interessiert waren Todd sowie auch ich aufgestanden und lehnten uns über den Balkon, um einen besseren Blick zu erhaschen. Neil, der in einem grünen Pullover gekommen war, hatte sich nun, wie die anderen Jugendlichen, die ebenfalls vorsprachen, in eine der Reihen aus Sesseln gesetzt.
Mir fiel dabei auf, dass er peinlich genau darauf geachtet hatte, keinem Mädchen zu nahe zu kommen. Innerlich musste ich schmunzeln.

Die meisten Jungen – ganz an der Spitze Charlie – aus Welton hatten sich mittlerweile gut an den Gedanken gewöhnt, mit einem Mädchen die Schule zu besuchen. Die Blicke wurden immer seltener, wenn sie auch nicht ganz verschwinden würden.
Dennoch lag die Betonung auf 'einem Mädchen'.
Ich liebte Neil und die Jungs wirklich abgöttisch. In den letzten Wochen und Monaten waren sie mir wahrlich ans Herz gewachsen. Die Treffen der Toten Dichter hatten uns alle enger zusammengebracht, und meine männlichen Gefährten sahen mich seit unseren nächtlichen Unternehmungen als vollwertiges Mitglied der Gruppe an.
Aber eines hatte sich nicht verändert: Je mehr ich ein Teil der Gruppe wurde, desto weniger schien in ihnen der Gedanke behaftet zu sein, dass ich ein Mädchen war.

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