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And, pride, what have I now with thee?
Another brow may even inherit
The venom thou hast pour'd on me
Be still, my spirit!
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~~~ Edgar Alan Poe ~~~

P.o.V PHILOMENA

Heute war der erste Schnee gefallen. Es schien, als wäre ganz Welton mit Puderzucker überstreut worden. Die Dächer der Schule, der Pier unten am See, selbst die Bäume waren mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt.
Zwischen den Haupt- und Nebengebäuden waren zahllose Löcher im Schnee, die den Steinboden darunter erahnen ließen, und neben dem Baum, unter dem Todd und ich unsere Gedichte ausgetauscht hatten, hatten ein paar Erstsemester frühmorgens einen Schneemann gebaut.
Nun saßen sie alle brav frisiert und mit streng umgebundener Krawatte in der Festhalle von Welton. Doch nicht nur sie, jeder Jahrgang hatte sich auf Geheiß von Direktor Nolan dort versammelt. Die Jungen rutschten nervös auf den Bänken herum und tuschelten angeregt über das möglicherweise spannendste Thema, seit ich an der Welton Academy aufgenommen worden war. Denn heute war der Artikel erschienen. Ich war darauf vorbereitet gewesen, und dennoch fühlte es sich wie ein Tritt in die Magengrube an, Charlies Werk zu lesen.

Von meinem Zimmer, durch den Essensraum, bis hierher hatten mich alle Augen verfolgt. Doch jeder, der es wagte, mir einen falschen Blick zuzuwerfen, traf auf Knox' Blick des Todes. Einige Jungen hatten den Fehler gemacht, etwas zu laut einen Kommentar über mich abzugeben. Man hätte meinen können, Knox würde sie noch auf dem Gang lebendig verspeisen, so zornig hatte er die Schüler zusammengebrüllt. Und wäre Mr. Hager nicht gerade um die Ecke gebogen, wäre dies möglicherweise auch genauso eingetroffen.

Doch nun saßen wir Toten Dichter in Reih und Glied auf den harten Holzbänken des Auditoriums. Alle. Alle außer einem. Charlie fehlte.
Bereits beim Frühstück war er abwesend gewesen. Mir war klar, dass sein Fehlen etwas zu bedeuten hatte. Wenn ein Schiff sinkt, dann verlassen die Ratten das Schiff. Das Schiff war zwar gerade dabei zu sinken, aber Charlie war keine Ratte. In dieser Gleichung war Mister Charles Dalton der wahnsinnige Seemann, der mit einem Beil den Rumpf des Schiffes bearbeitete, um das Loch zu vergrößern.
Um es klar zu sagen:
Dalton wäre nicht Dalton, würde er nicht mit einem lauten Knall die Bühne verlassen.
Das hieß also, er war keine Ratte, die gerade dabei war, von Bord zu springen – er holte nur gerade sein Beil...

Meine Augen waren starr auf die Holzvertäfelung der Halle gerichtet. Ich fühlte mich ungewöhnlich ruhig, wie die Windstille vor einem Sommersturm. Dieser warme Geruch, der in der Luft lag, nur Minuten bevor die grauen Gewitterwolken über den Himmel zogen.
Von meinen Freunden blieb dies nicht unbemerkt. Immer wieder tauschten sie Blicke aus, bis schließlich, wie ein fernes Donnergrollen, die Schritte des gesamten Lehrerkollegiums zu hören waren. Beinahe gleichzeitig sprangen alle Jungen und ich von unseren Sitzplätzen auf, die Köpfe starr nach vorne zum Pult gerichtet.

Verschlagen wagte ich es, einen Blick zur Seite zu werfen. An meiner Reihe vorbei marschierte an vorderster Front der Kavallerie Direktor Nolan, unmittelbar hinter ihm Hager und der Pfarrer. Die Gesichter der Männer Weltons schienen binnen Stunden um zehn Jahre gealtert zu sein. Blanke Wut spiegelte sich auf ihnen.
Vorne angekommen, positionierten sich die Männer in ihren Anzügen hinter Nolan, der sich mit hocherhobenem Kopf an das Pult gestellt hatte. Hastig flüsterte der Pfarrer ihm noch ein paar letzte Worte ins Ohr, bevor er ein grollendes „Setzen!" an uns richtete.
Wir taten, was uns gesagt wurde, und ließen uns zurück auf die Bänke sinken. Kein Mensch sagte etwas. Es herrschte Totenstille in ganz Welton. Die letzten Schritte waren verklungen, kein Getuschel war mehr zu hören, nicht einmal ein Atemzug. Dann brach Nolan die Stille.

„In der Wochenausgabe von 'Welton-Honor' ist ein profaner und nicht genehmigter Artikel erschienen. Um meine kostbare Zeit nicht unnötig mit der Suche nach den Schuldigen zu verschwenden – und Sie können sich sicher sein, dass ich sie finden werde – bitte ich jeden Schüler, der etwas über den Artikel weiß, sich hier und jetzt zu melden."

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie meine Freunde einander besorgte Blicke zuwarfen. Mir war klar, keiner von ihnen würde auch nur ein Wort sagen. Dafür hätte ich meine Hand ins Feuer gelegt. Nun ja... für alle außer einen.
Cameron hatte seinen üblichen Ausdruck aufgesetzt. Eine Mischung aus Besorgnis und dieser unglaublichen Verbissenheit, die er an den Tag legte, wenn es um die Einhaltung der Prinzipien unserer Gesellschaft ging. Für ihn war es, den Direktor anzulügen, wohl gleichzusetzen mit einem Kapitalverbrechen.

„Ganz gleich, wer die Schuldigen sind..."
Theatralisch setzte der Direktor eine Pause und betrachtete die Schüler, die wie Untertanen einige Stufen tiefer saßen. Dabei blieben seine Augen an mir hängen. Unter all den Schülern Weltons schien es ihm immer leicht zu fallen, mich in der Menge ausfindig zu machen. Intensiv starrte er in meine Augen, dennoch senkte ich meinen Blick nicht. Beinahe provokant hielt ich ihm stand. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der gesamten Schülerschaft zu. Er und seine Schergen lauerten wie Geier auf die Jungen.
„... dies ist Ihre einzige Chance, einen Verweis von der Schule zu vermeiden."

Doch die Moralpredigt wurde jäh unterbrochen. Ein schrilles Geräusch aus den hinteren Reihen füllte die Halle. Dann noch einmal.
Unruhe brach im Auditorium aus. Die Lehrer schauten sich um, nach der Ursache des Geräuschs suchend. Erneut das helle Klingeln eines... Telefons.

Alle Köpfe wandten sich dem Geräusch zu. Und da erblickte ich ihn bereits. Der Sturm war über uns hereingebrochen. Ein paar Reihen hinter uns saß Charlie, in seinen Händen ein Telefonapparat. Ohne zu zögern, legte er den Hörer ans Ohr.

„Welton Academy, hallo? Ja, er ist da. Einen Augenblick bitte."
Der junge Mann erhob sich von seinem Platz, ein feixendes Grinsen im Gesicht. Charlie hatte schon so einige Fehler und Dummheiten begangen, doch etwas sagte mir, dass er dieses Mal nicht ungestraft davonkommen würde.
Erhobenen Hauptes stand er da, hielt das Telefon in Richtung des Direktors und sprach: „Mr. Nolan, es ist für Sie. Es ist Gott. Er sagt, wir sollen mehr Mädchen aufnehmen bei uns."

Wäre Charlie aufgestanden und hätte Direktor Nolan vor dem gesammelten Lehrerkollegium und den Schülern eine Ohrfeige gegeben, wäre sein Gesichtsausdruck wohl nicht anders gewesen. Nolans Kopf schien rot zu glühen, die Augen zu einem engen Schlitz zusammengezogen.
Dennoch flutete ein Lachen den Saal. Jeder der Schüler hatte ein breites Grinsen aufgesetzt, und jene, die in seiner Nähe saßen, klopften Dalton auf die Schultern. Nur wir blieben stumm. Neben mir hörte ich Pitts schwer ausatmen, während Neil nur mit seinen Händen die Augen verdeckte und Todd verständnislos den Kopf schüttelte.

Hinter uns drang Knox' ungläubige Stimme zu uns nach vorne: „Ich kann einfach nicht fassen, dass er das gerade wirklich getan hat..."

Stirnrunzelnd drehte ich mich zu meinem Freund um.

„Was hast du erwartet? Charlie Dalton würde niemals einfach so das Feld räumen."
Besorgt sah ich zu, wie mein Freund von zwei Lehrern aus der Halle begleitet wurde, ein siegessicheres Schmunzeln auf den Lippen.

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