00 | Sterne und Schicksal

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Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne
- Hermann Hesse -

London,  August 1959

Dichter Themsenebel hatte sich vor die Sterne geschoben und hüllte die nächtliche Stadt in seinen undurchdringlichen Schleier. Die kalte Luft kündigte vom nahenden Herbst und hätte Minerva es nicht besser gewusst, sie hätte es für die beunruhigende Nähe von Dementoren gehalten. Die Hauptstadt gab sich noch einmal alle Mühe, ihr den Abschied so leicht wie möglich zu machen.

Sie wusste nicht, wann genau es geschehen war, doch sie hasste London. Die Enge, die vielen Menschen – und allen voran das Ministerium. Irgendwann war aus ihrem größten Traum ein Albtraum geworden. Jede Faser ihres Körpers sehnte sich nach den weiten schottischen Highlands, ihrer Heimat.

Seufzend blickte sie gen Himmel, doch statt der fernen Sterne konnte sie bloß den entfernten Schein einer Straßenlaterne ausmachen, alles andere verschluckte der graue Nebel. Nicht zum ersten Mal an diesem Abend fragte sie sich, ob ihre Entscheidung klug war. Aber ihr Herz rief danach. Die Zeit für Veränderung war gekommen.

Mit einem Ploppen löste sich ein Schatten aus dem Nebel. Er war hier. Sie straffte die Schultern und stand von der Parkbank auf, um ihm entgegenzugehen.
»Minerva?«, drang seine besorgte Stimme auf sie zu, bevor er aus den grauen Schwaden trat.

Er trug noch immer den dunkelblauen Umhang, der ihn als Ministeriumszauberer auswies. Sie konnte sich nicht selbst belügen – seine Position stand ihm außerordentlich gut. Er war zwar das Musterbild eines reinblütigen Zauberers mit jahrhundertelanger Familiengeschichte – und dennoch der Einzige in der Strafverfolgungsbehörde, dem sie vertraute. Im Gegensatz zu vielen anderen ränkeschmiedenden Beamten, die in erster Linie nur sich selbst dienten und bei jeder sich bietenden Gelegenheit nach unten traten.

Ein trauriges Lächeln legte sich auf ihre Züge. Es erschien nur zu passend, dass ihr Gespräch tief in der Nacht im Hyde Park sein sollte – wo alles seinen Anfang genommen hatte. Nur, dass sie dieses Mal nicht einem dunklen Zauberer auf den Fersen waren und keine Flüche über die feinsäuberlich gestutzten Rasenflächen jagten. Vielleicht würde sie eines Tages den Nervenkitzel ihrer Arbeit tatsächlich vermissen. Ihn würde sie in jedem Fall vermissen.

»Hallo Elphinstone«, grüßte sie ihn.
Er war versucht, zu lächeln, doch angesichts ihres unglücklichen Ausdrucks blieb es bei dem Versuch. Wachsam sah er sich um und ließ den Blick über den spiegelglatten Serpentine-See gleiten, auf dem sich tagsüber die Muggel tummelten. »Hyde Park«, stellte er leise fest und sah zurück zu ihr. »Warum hier?«

Jetzt war es an ihr, den Blick in die Ferne schweifen zu lassen. In ihrem Hals steckte ein dicker Kloß. Da musste sie durch. »Es ist ruhig hier bei Nacht. Und weit weg vom Ministerium.«
Stumm wartete er darauf, dass sie weitersprach.
»Ich habe dich gebeten, herzukommen, damit du es von mir als Erste hörst.« Sie schluckte schwer. »Ich werde London verlassen.«

Nun war der Hippogreif also aus dem Sack. Auf seinem Gesicht zeichneten sich viele unterschiedliche Gefühle ab, aber was blieb, war Traurigkeit. »Du hast gekündigt.«
»Ja.« Einen Augenblick lang sprach keiner von beiden, nur das leise Plätschern des Sees war zu hören. Minerva sah auf das kleine Abzeichen hinab, das sie immer wieder zwischen den Fingern gedreht hatte, während sie auf ihn wartete. Ein Zauberstab, an dessen Spitze eine Waagschale hing, war in das goldene Metall geprägt, darunter ihr Name. M. McGonagall, magische Strafverfolgung.

»Ich habe es geahnt. Seit der Sache in Northumberland«, fand Elphinstone schließlich seine Stimme wieder. »Wohin gehst du?«
Jetzt wurde das Lächeln auf Minervas Zügen wärmer. »Hogwarts.«
Er nickte. »Natürlich. Albus Dumbledore ist kein Narr. Er hat dein Talent nie vergessen.« Seine hellen Augen suchten die Ihren. »Du wirst sicherlich eine wunderbare Lehrerin.«

Stichflamme | Minerva McGonagall ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt