17 | Fließende Grenzen

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Minervas Pfoten trugen sie von ganz alleine in das Arbeitszimmer ihres Bruders. Hastig huschte sie über die losen Pergamentblätter. Weitere Abakuskugeln rollten davon, doch sie beachtete diese gar nicht. Mit dem ersten Geräusch im Flur hatte sie sich bereits gegenüber potentiellen Angreifern verraten. Oder war sie schon zu spät? Das Fell in ihrem Nacken stand ihr zu Berge und das Herz ihrer Animagusform raste. Wenn Robbie etwas passiert war, würde sie sich das nie verzeihen.

Ihr jüngster Bruder war schon immer ein chaotischer Mensch gewesen – in Gedanken stets bei dem nächsten Projekt, einem neuen Rätsel. Doch die Unordnung, die in seinem Arbeitszimmer herrschte, war nicht dem gewohnten kreativen Chaos, sondern blanker Zerstörungswut geschuldet. Es fiel nur wenig Licht durch die Fenster hinein, aber dank ihrer geschärften Nachtsicht erkannte Minerva mühelos, dass sie alleine zwischen zerfledderten Büchern und zerbrochenen Federn war. Irgendjemand hatte ganze Arbeit dabei geleistet, Robbies Reich auseinanderzunehmen.

Wut und Sorge stritten sich in Minervas Brust. Ihr entfuhr ein leiser Laut, halb Fauchen, halb wehklagendes Maunzen. Wenn hier niemand war, mussten sie in einem der anderen, verschlossenen Zimmer sein. Sie hoffte nur, dass Robbie und seine Frau sich mit ein paar ordentlichen Zaubersprüchen vor den Eindringlingen hatten schützen können. Vielleicht hielt die Angst sie in ihrem Versteck.

Binnen Sekunden verwandelte Minerva sich zurück. Dunkelheit umfing sie. Das hasste sie am meisten, den Verlust der nächtlichen Sehstärke. Eben noch hatte das Chaos klar umrissen vor ihr gelegen, nun musste sie mit dem dürftigen Mondlicht vorliebnehmen. Dafür hatte sie ihren Zauberstab, dessen geschmeidiges Holz ihr warm in der Hand lag; bereit, jedem, der sich ihr den Weg stellte, einen saftigen Schock zu verpassen.

Den Stab fest umschlossen stahl sie sich in den Flur zurück, den Atem angehalten. Sie lauschte auf ein Geräusch, doch da war nichts, außer dem leisen Knarzen der Dielen zu ihren Füßen. Als Zeichen für Elphinstone, der immer noch unten wartete, richtete sie den Zauberstab hinab in den Flur und schickte grüne Funken zu ihm.

Er schlich sich bemüht leise und doch laut im Vergleich zu ihr die Treppe hoch. Besorgnis stand ihm in die Augen geschrieben, die im gedämpften Licht seines Lumos-Zaubers schimmerten. Fragend legte er den Kopf schief und Minerva schüttelte den ihren. Sie wies auf die beiden verschlossenen Türen. Ein Schlaf- und ein Badezimmer, erinnerte sie von einem ihrer vorigen Besuche. Stumm nickte Elphinstone, bevor er sich an der Linken davon postierte, eine Hand auf den Türknauf gelegt, seinen Zauberstab in der anderen bereit.

Minerva tat es ihm gleich. Auf ein Nicken hin schwangen sie die Stäbe mit einem ungesagten Alohomora – falls verschlossen war. Alles blieb still, also drehte sie zögerlich den Knauf. Kein Widerstand. Elphinstone hingegen rüttelte erfolglos an seiner Tür.
»Expulso«, murmelte er, während Minerva hastig ihre Tür aufstieß und in den Raum dahinter leuchtete.

Im Flur krachte es, als das Schloss der zweiten Tür von der Wucht der Explosion aus dem Rahmen flog. Derweil sah sie sich einem unangetasteten Schlafzimmer gegenüber. Einzig das Fenster stand weit offen, die Gardine davor wölbte sich geisterhaft im Wind. Aus dem Badezimmer hörte sie das Zischen eines Zaubers, gefolgt von Poltern.

Fluchend riss sie sich von dem Anblick vor ihr los und stürzte mit hocherhobenem Zauberstab Elphinstone hinterher – und prallte direkt gegen ihn, da er einem Schockzauber auswich. Der rote Lichtstrahl schlug neben ihr in den Türrahmen ein. Elphinstone schubste sie mit dem Ellenbogen hinter sich. Über seine Schulter hinweg wirkte sie einen Protego-Zauber, der sie beide umschloss. Ein Kribbeln schoss durch ihren Unterarm, als ein weiterer Lichtblitz auf den Schild traf.

Hinter Elphinstones Rücken hervor sah sie sich in dem engen Raum nach ihrem Gegner um. Cremetöpfchen und Shampooflaschen lagen auf dem Boden verteilt. Inmitten dieses Chaos kauerte Anne, Robbies Ehefrau, in der Badewanne, ihren Zauberstab auf Elphinstone gerichtet. Sie hielt ein ledergebundenes Buch an ihre Brust gepresst. Ihre Wangen waren gerötet, die Augenbrauen energisch zusammengezogen. Doch sobald sie Minerva erblickte, weiteten sich ihre Augen mit Erleichterung.

Stichflamme | Minerva McGonagall ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt