Der nächste Morgen kam mit feinem Nieselregen einher. Die Eule, die pünktlich zum Frühstück ans Küchenfenster des Urquart-Anwesens klopfte, schüttelte ihr nasses Gefieder, sodass es spritzte, bevor sie ihr Bein mit Archies Brief ausstreckte. Das limonengrüne Wappen St. Mungos war ein unverkennbarer Farbfleck.
Schmunzelnd verfolgte Minerva, wie Elphinstone den Vogel leise, aber liebevoll schalt. Ein Eulenkeks und Schnabelkraulen brachten das Tier davon ab, seinem Unmut ein weiteres Mal Luft zu machen, und mit einem Schwung von Elphinstones Zauberstab verschwanden die Wassertropfen, die bis auf den Tisch zu Minervas Teetasse gespritzt waren.
Eine einfache Geste, doch die Selbstverständlichkeit, mit der er sie ausführte, wärmte Minervas Herz. Den gestrigen Abend hatten sie beide stundenlang unter Eileans Aufsicht damit verbracht, ihre neuen Zauberstäbe auszuprobieren. Auf Anraten Ollivanders sollten sie durch simple Zauberkunst eine Verbindung zu ihrem Werkzeug aufbauen. Offenbar war es die eine Sache, im Alter von Elf einen Stab zu erhalten, mit dem man gemeinsam lernte und aufwuchs, aber eine ganz andere, Jahrzehnte später mit einem neuen Kern zusammenzuarbeiten.
In der Folge waren Minervas erste Zauber deutlich über das Ziel hinausgeschossen, als würde der Zauberstab sich besonders fleißig erweisen wollen. Aus der harmlosen Fontäne, die sie heraufzubeschwören gedacht hatte, war eine zehn Meter hohe Wassersäule erwachsen, die den armen Nessie zu Tode erschreckt hatte. Doch mit etwas gutem Zureden – sich selbst oder dem Stab, da war sie unsicher – hatte es zusehends mehr Spaß bereitet. Nach ein paar Übungsrunden waren ihr die Zauber geradezu federleicht aus der Hand geflogen. Selten hatte es sich derart befreiend angefühlt, den Zauberstab zu schwingen und Magie zu erschaffen.
Keine Duellzauber; keine Angriffs- oder Verteidigungsflüche. Nur pure Wunder. Schwebezauber und Verwandlungen, heraufbeschworene Windströme und erblühende Pflanzen. Schöne, reine Magie, die niemanden verletzte.
Minerva wusste, dass sie sich diese Ignoranz nicht leisten konnte. Sie brauchte Flüche und Gegenflüche; musste gewidmet sein für das, was die Lestranges – und andere – ihr entgegensetzen würden. Die Situation im Land machte es unabkömmlich. Aber sie hatte es gestern nicht über sich gebracht, dem Zauberstab nur Stunden nach dem Kennenlernen solch finstere Magie zu entlocken. Geschweige denn, ihn zur Übung gegen Eilean oder gar Elphinstone zu erheben. Letzterer hatte ohnehin mehr zu kämpfen als sie.
Die Bemühungen, seine Magie zu kontrollieren, hatten Elphinstone im Gegensatz zu ihr Schweißperlen auf die Stirn getrieben. Seine Verzweiflung hatte ihn zu immer energischeren Bewegungen verleitet, die natürlich nicht das gewünschte Ergebnis brachten. Und jeder Erfolg ihrerseits hatte seinen Frust weiter angeheizt, bis nichts von der Freude über den neuen Zauberstab verblieben war.
Erst nachdem Eilean dazu übergegangen war, Nessie in sicherem Abstand sein Abendbrot zu servieren, hatte Elphinstone sich überreden lassen, es unter Minervas Anleitung auf die Schulbuchart zu versuchen. Damit waren ihm zumindest substanzielle Zauber gelungen, gleichwohl es denen an der Finesse fehlte, zu der er sonst imstande war – wie Minerva nur zu gut wusste. Das Schlimmste war, dass sie keine Erklärung dafür hatte, warum es ihm nicht gelang. Er befolgte ihre Anweisungen peinlich genau und trotzdem schien ... etwas zu fehlen.
Ausgerechnet in dieser Situation hatte Minerva sich ein ums andere Mal dabei ertappt, wie sie Elphinstone angesehen hatte, einen einzigen Gedanken im Kopf: Wie gerne sie ihn wieder küssen wollte. Die Spiegelung bunter Zauberfunken in seinen Augen hatte ihr Herz schneller schlagen lassen – und das nicht bloß vor Freude, weil ihm dieser Zauber gelungen war. Das, was sie ablenkte, waren letztlich Eileans Nähe und die schwarzen Fluchspuren, die unaufhaltsam Elphinstones Hals emporkrochen.
Dennoch war sie mehr als einmal versucht gewesen, das Gespräch zu beginnen. Das Ungesagte zwischen ihnen musste früher oder später besprochen werden, dessen war sie bewusst – und trotzdem fand sie nicht die Überwindung, den lauen Frühherbstabend damit zu stören. Mit Worten, die sie nicht einmal zu Ende gedacht, geschweige denn gefunden hatte. Was sollte sie Elphinstone sagen?
Er war ihr Freund. Ihr bester Freund. Und gleichzeitig besetzte er einen Platz in ihrem Herzen, den man mit jenem Pomonas nicht ansatzweise vergleichen konnte.
DU LIEST GERADE
Stichflamme | Minerva McGonagall ✔️
FanfictionAm ersten September 1970 erlebt Minerva McGonagall das Undenkbare: Ein muggelgeborener Erstklässler verschwindet auf dem Weg nach Hogwarts. Zum Frust der jungen Verwandlungslehrerin stellt das Zaubereiministerium die Ermittlungen jedoch rasch ein, o...