Mit 14 Jahren hatte Minerva zum ersten Mal die Geschichte von Aeneas' Abstieg in die Unterwelt gelesen. Rückblickend war diese Erzählung voller Monster und Widrigkeiten sogar der Höhepunkt ihres Interesses an antiken Epen gewesen. Die Düsternis darin hatte damals eine geradezu morbide Faszination auf sie ausgeübt – allen voran das Reich der Toten mit seinen vielen verschiedenen Ebenen.
Was hatten sie all das menschliche Elend und der Mut fasziniert, wie oft hatte sie das Mittagessen angesichts der Schilderungen gebrochener Helden und tragischer Liebe vergessen ... Hals über Kopf war sie in dem Epos aufgegangen und hatte sich nicht selten als Figur darin vorgestellt. Immer dann war es ihr möglich erschienen, dass sie ihrem großen Namen nicht nur gerecht werden, sondern ihn selber prägen könnte – wie eine richtige Heldin.
Eine Begeisterung, die vermutlich einige junge Menschen durchmachten, und die sich mit dem Beginn des nächsten Schuljahres gelegt hatte. Die Bücher waren ein Vermächtnis ihrer Urgroßmutter mütterlicherseits gewesen, die sie zwar viel zu kurz gekannt, mit der sie aber immerhin den Namen der römischen Kriegsgöttin geteilt hatte und der sie durch die Seiten noch einmal nahekam. Zumindest bis das Interesse an Quidditch wieder überhandgenommen hatte.
Eigentlich waren jene Sommertage im hohen Gras hinter der Dorfkirche schon lange aus Minervas Bewusstsein entschwunden gewesen, verdrängt von den Sorgen des Erwachsenenlebens. Doch ausgerechnet jetzt sah sie jedes Wort auf dem vergilbenden Pergament wieder vor sich, als stünden sie auf den Wänden entlang ihres Weges geschrieben und wollten sie warnen. Sogar der Sonnenbrand schien erneut in ihrem Nacken zu stechen.
Tatsächlich war es bloß Mulcibers besorgter Blick, den sie auf sich spürte. Einen Abstieg hingegen legten sie wirklich hin. Von den oberen Stockwerken hinab in den Keller des Muggelanwesens. Geradewegs zu Voldemort höchstpersönlich. Zumindest hatte Mulciber von dem Kerl namens Everard in Erfahrung gebracht, dass er dorthin gegangen war. Er und Bellatrix Lestrange.
Allein das genügte, um Minerva davon zu überzeugen, dass sie gerade ihre ganz eigene Katabasis erlebte, wie ihre Bücher den (bewussten) Abstieg des Helden in die Unterwelt genannt hatten. Ein Ausflug in schwarze Untiefen, die Abgründe der Menschlichkeit, würde es in jedem Fall werden. War es eigentlich längst, seit sie gemeinsam mit Elphinstone in den Kamin gestiegen war.
Und es ging nur tiefer. Zum ersten Mal konnte Minerva wirklich nachvollziehen, warum den Helden in ihren Geschichten das Herz eng gewesen war. Der bloße Gedanke an das, was sie erwartete, schnürte ihre Brust ein.Dabei entpuppte sich der Keller dieses Anwesens längst nicht so kalt wie jener der Lestranges. Es gab keine Spur eines Dementoren und anstatt von Dunkelheit begrüßten sie Leuchtstoffröhren unter der Decke. Die Wände waren nicht mit Folterwerkzeug verziert, sondern ordentlich verputzt und im ersten Kellergewölbe voller Weinregale lag ein dicker Teppich im Mittelgang. Nicht einmal Staub oder Spinnweben sah Minerva.
Der einzige Hinweis auf die Besetzung durch Voldemort und seine Gefolgschaft war der junge Mann im schlichten schwarzen Umhang, der mit gezogenem Zauberstab vor einer Tür stand. Damit war er der Letzte in einer langen Reihe an Voldemorts niederen Dienern (Mulcibers Aussage, nicht Minervas), die sie hatten passieren müssen. Genau wie bei allen vor ihm weiteten sich seine Augen, als er sie sah. Trotzdem warf er sich pflichtbewusst in die Brust und trat ihnen entgegen.
»Mr Mulciber! Was für eine Überraschung ... Sie hier – ähem, es tut mir leid, eigentlich heißt es, dass niemand den Dunklen Lord stören darf –«
Mulciber zuckte wie sonst auch mit den Schultern, keinen Deut beeindruckt. »Das heißt es immer, Amon«, sagte er kühl. »Für Leute wie dich, die sich ihr Mal erst noch verdienen. Aber ich muss etwas mit ihm besprechen, also sei so gut, ja?« Er wedelte auffordernd mit der Hand.»Ah, mein Name ist Ambrose, Sir ...« Der Junge leckte sich nervös die Lippen. »Und es tut mir wirklich leid, Mr Mulciber, es ist nur, also ... Druella Black musste ich bereits fortschicken und gegen Sie will ich erst recht nicht den Zauberstab erheben, denn ich habe wirklich allerstrengste Anweisungen –«
»Sicher hast du das. Jede Anweisung hier ist streng. Aber nicht so streng wie ich, wenn ich betonen muss, dass mein Anliegen sehr dringend ist. Immerhin bin ich keine bloße Mitläuferin wie die gute Druella.«
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Stichflamme | Minerva McGonagall ✔️
FanfictionAm ersten September 1970 erlebt Minerva McGonagall das Undenkbare: Ein muggelgeborener Erstklässler verschwindet auf dem Weg nach Hogwarts. Zum Frust der jungen Verwandlungslehrerin stellt das Zaubereiministerium die Ermittlungen jedoch rasch ein, o...