53 | Epilog - Herz, Kopf und Krieg

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 • Caithness, Dezember 1970

Es war bereits nach Mitternacht. Dicke Schneeflocken, allesamt groß wie goldene Schnätze, fielen aus der sternlosen Dunkelheit herab. Und es sah nicht danach aus, als würden die gefrorenen Tränen des Himmels bald versiegen. Dabei waren die Highlands schon vor Tagen unter einer weißen Decke verschwunden. Nicht ein Stück winterbraunes Gras konnte man noch sehen.
Doch wirklich mächtig war die Stille, die der Schnee brachte. Jede einzelne Flocke trug sie in sich. Ganz Caithness war inzwischen von einer Ruhe ergriffen, deren Wirkung an einen gewaltigen Silencio-Zauber erinnerte. Niemand sprach laut, keine Hunde bellten auf den Straßen, der Wind rauschte nicht länger durch die kahlen Bäume und sogar die Kirchglocken schlugen leiser als sonst. Nur das Meer am Rande des Dorfes flüsterte so lockend wie eh und je. Aber selbst dessen Wellen schrumpften mit jeder Flocke.

Die größte Stille herrschte allerdings an einem ganz anderen Ort. Mitten in Minervas Innerem schien ebenfalls Schnee zu fallen, der alle unerwünschten Überlegungen dämpfte. Anstatt hunderten Sorgen, die sie wie hysterische Flitterfeen piesackten, kreisten heute nur ein paar träge Gedanken durch ihren Kopf.
Wie sehr sie die beißende Kälte genoss. Wie lebendig sie sich fühlte, wenn sie ihren Atem in Wolken aufsteigen sah. Wie schön das Knirschen des Schnees unter ihren Gummistiefeln klang, während sie alleine über die verlassenen Felder abseits des Dorfes ging. Wie tröstlich die Magie für sie sang, wenn sie ihre Schutzzauber kontrollierte.

Alles war in bester Ordnung. Zumindest an diesem Abend zeigte sich die Welt von ihrer heilen Seite. Sie hatte Dougal auf dem Weg zur Kirche gesehen, seinen neugeborenen Sohn in einem Tragetuch vor der Brust, Mia an der Hand und völlig ahnungslos über den Zauberstab in ihrer Manteltasche. Er hatte gelacht, ihr gewunken und sich abgewandt. Und sie? Hatte sich gefreut, dass Vergessen so schrecklich leicht war.
Nur ein, vielleicht auch zweimal hatte sich ihr Herz anschließend zusammengezogen, als hätte sie sich eine Nadel in den Finger gestochen. Aber das war schon in Ordnung. Ein Leben ohne diese Sehnsucht konnte sie sich längst nicht mehr vorstellen. Sie schlug ebenso in ihrer Brust wie das Animagusherz. Und heute war Weihnachten. An welchem Tag durfte das Bedauern mit dem Glück tanzen, wenn nicht diesem?

Wichtig war nur, dass sie nicht bereute. Weder die Opfer zum Schutz der Muggelwelt noch jene für ihre geliebte magische Welt. Mitunter schmerzten ihre Entscheidungen zwar sehr, aber das änderte nichts. Kein Stück. Egal wie viel Kraft es teils kostete, Muggelzeitungen nach Hinweisen auf ein Gewaltverbrechen der Todesser zu durchforsten oder andere Tätigkeiten für Albus zu verrichten. Sie war eine Hexe, mit Leib und Seele. Für ihre Welt würde sie sterben.

Natürlich vermisste sie Elphinstone trotzdem. Ganz fürchterlich sogar. Mehr als je zuvor. Viel zu lange hatte sie ihn nicht gesehen. Nicht einmal zu ihrem Geburtstag am vierten Oktober, den sie sonst so regelmäßig bei Madam Puddifoots nachgefeiert hatten. Und das, obwohl ihr letzter Abend in Hogwarts kein Abschied gewesen sein sollte. Doch das Leben gab sich alle Mühe, ihn dazu zu machen. Anstatt eines Treffens war ihr nur ein Brief aus London vergönnt worden, dessen Gewicht sich mit der Last des Krieges auf ihren Schultern maß.
Seite um Seite hatte Elphinstone mit Worten gefüllt, die alle nur eines aussagten: wie sehr er sie liebte. Er hatte über eine Vielzahl an Dingen geschrieben, bei denen er an sie denken musste, und von Momenten, die er gerne mit ihr geteilt hätte. Nur nicht von den Kämpfen. Ob es um ein neues Keksrezept ging oder den Setzling von Pomonas Teufelswelwitschia, der prächtig gedieht – alles war harmlos, aber voller Bezug zu ihr, sodass sein schlichtes »Mo ghaol ort« am Ende gar nicht nötig gewesen wäre. Trotzdem hatte sie das Pergament nach dem Lesen dieser Zeile wie einst Dougals Briefe an ihre Brust gedrückt und bitterlich geweint.

Damit aber nicht genug, denn den vielen eng beschriebenen Seiten hatte noch ein Päckchen beigelegen, bei dem sie sich erst zwei Tage später zum Öffnen überwinden konnte. Entgegengefallen waren ihr schwarze Schachfiguren – und zwar nur diese. Wunderschöne Steinarbeiten, die sie vor einer gefühlten Ewigkeit in dem kleinen Brettspielladen in Leeds bewundert hatte. Inzwischen hatte sie das wahnsinnig teure Set mitsamt marmornem Schachbrett wieder vergessen. Anders als Elphinstone offenbar.
Ich hoffe, du kannst mir nachsehen, dass dieses ‚Geschenk' nur die Hälfte eines Ganzen ist, hatte er auf die Notiz dazu geschrieben. Aber so, wie ich darauf warte, wieder mit dir vereint zu sein, werden die weißen Figuren immer bei mir auf ihre Gegenspieler warten.
PS: Ich weiß, ich hatte behauptet, der Umhang wäre dein Geburtstagsgeschenk. Das war gelogen und weißt du was? Es tut mir nicht einmal leid.

Stichflamme | Minerva McGonagall ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt