48 | Wunden werden Narben

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Im blassen Morgenlicht sahen all die Blumen und Genesungskarten auf Minervas Nachtschränkchen grau aus. Von überall blinkten ihr sich bewegende, flirrende, glitzernde Schriftzüge entgegen. Mal spannte sich ein Regenbogen über die Karte, dann wieder drehten sich Kleeblätter um die eigene Achse. ‚Gute Besserung' schrie ihr das Durcheinander förmlich zu. Las man es nur oft genug, musste es ja wahr werden.

Ein Seufzen rang sich aus ihrer Brust. Sie wusste nicht, was sie fühlte, weder körperlich noch seelisch. Eine Weile starrte sie nur die herabhängenden Köpfe der Sonnenblumen an, die jemand genau in die Mitte ihres Nachttischs gestellt hatte. Die Ränder der Blütenblätter waren bereits dunkel verfärbt und rollten sich von außen auf. Sie wollte gar nicht wissen, wie lange die armen Dinger da schon standen und vor sich hindarbten.

Von Elphinstone konnten sie nicht stammen. Er würde seine geliebten Pflanzen nie zu so einem traurigen Ende verurteilen - und genauso wenig würde er dabei zusehen, wie der Strauß von jemand anderem verwelkte. Entweder die Blumen wachten lange genug an ihrem Bett, dass er nichts mehr hatte retten können ... oder er war zu lange fort. Dass er hiergewesen war, daran bestand kein Zweifel, auch wenn die Erinnerung schemenhaft blieb. Jetzt war er jedenfalls weg und ein einzelnes, vertrocknetes Blättchen fiel kaum hörbar in das Meer an Genesungskarten.

Minerva rollte sich auf den Rücken. So hatte sie sich ihr Erwachen nicht vorgestellt. Ein ziemlich egoistischer Teil von ihr hatte gehofft, dass Elphinstone da sein würde. Dass er ihr helfen würde, zu begreifen, was überhaupt geschehen war. Und was sie außerhalb des St. Mungo-Hospitals erwartete ...

Auf dem Stuhl neben ihrem Bett lag allerdings nur ein tartangemusterter Schal auf einem zerlesenen Abendpropheten, offensichtlich vergessen. Der Stoff war aus smaragdgrünen und dunkelblauen Fasern gewoben, die sich zu einem gleichmäßigen Bild aus Karos verschlangen, nur durchbrochen von zwei überkreuzten weißen Streifen. Er musste einfach zu Elphinstone gehören, zumindest kannte sie sonst niemanden, der einen Anlass hätte, echten Tartan zu tragen.

Mit eigenartig schwerem Herzen riss Minerva ihren Blick los und sah stattdessen an die hässliche Hospitaldecke, so weiß wie nackt. Es brachte alles nichts, sie musste sich dem Drachen - in diesem Fall dem Morgen - erneut allein stellen. Wie so oft zuvor. Den Atem angehalten, schlug sie die warme Bettdecke ein Stück zurück und setzte sich auf.

Schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen. Anstatt wieder aufs Kissen zu sinken, senkte sie den Kopf zwischen ihre angezogenen Knie. Ihr Atem war laut in den eigenen Ohren, doch nach ein paar Minuten fing er sich langsam. Mit vom Schweiß klammen Händen strich sie ihre Haare in den Nacken, bevor sie ein zweites Mal aufsah.

Es stand außer Frage, dass sie allzu bald nirgends hingehen würde. Jedenfalls nicht alleine. Das hinderte sie allerdings nicht daran, das Beste aus ihrer Lage zu machen. An die Decke starren würde sie erst, wenn sie so alt und senil war, dass sie ihren Namen nicht mehr kannte.

Vorsichtig streckte sie sich nach dem Abendpropheten. Gerade so bekam sie das Papier mit den Fingerspitzen zu fassen. Immerhin reichte das, um die Zeitung - und damit den Schal obenauf - heranzuziehen. Ohne nachzudenken, vergrub Minerva ihr Gesicht in dem weichen Stoff.

Eindeutig Elphinstones. Sie lächelte matt angesichts des Duftgemisches aus Pflanzengrün, Pergament und einem Hauch von Ingwerkeksen. Der Schal roch genau wie der Amortentia in Horace' Keller, begriff sie. Vielleicht sogar ein bisschen besser. Sie schlang ihn um ihre Schultern, obgleich sie nicht fror. Dann schüttelte sie die Zeitung auseinander. Dicke, schwarze Lettern sprangen ihr entgegen.

Inhaftierter Angreifer tot - Verantwortliche ratlos

15.09.70 | London | Der am vergangenen Samstag im Zaubereiministerium festgesetzte Ambrose Pyrites (26) wurde in den frühen Morgenstunden des heutigen Tages tot in seiner Untersuchungszelle aufgefunden. Gegenwärtig dauern die Untersuchungen an, doch ein Sprecher des St. Mungo-Hospitals bestätigte, dass es sich bei der Todesursache aller Wahrscheinlichkeit nach um den Todesfluch handelt. Unklar ist, wie der oder die Täter/-in sich Zugang zu seiner mehrfach gesicherten Zelle verschaffen konnte.

Stichflamme | Minerva McGonagall ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt