01 | Mitternachtspost

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Eine Eule nach Mitternacht brachte keine guten Nachrichten. Das hatte schon ihre Mutter zu sagen gepflegt. Trotzdem öffnete Minerva dem zerzausten Waldkauz das Fenster, als er gegen ein Uhr nachts mit seinem Schnabel dagegen klopfte.

Sie hatte den Großteil des Abends vor dem Kamin in ihrem Turmzimmer verbracht, um die Sommerhausaufgaben ihrer UTZ-Schüler zu bewerten, bis das harsche Tok-Tok ihre Konzentration durchbrach.
Wenn die junge Professorin jedoch ganz ehrlich war, dann waren ihre Gedanken längst bei ihrem neuen Buch, das im gemütlichen Ohrensessel neben dem knisternden Feuer darauf wartete, ihre Sorgen zu verdrängen. Den letzten Absatz in Adelaide Corryns Aufsatz hatte sie gedankenverloren schon zum fünften Mal mit roter Tinte angestrichen, während sie an den verschwundenen Erstklässler dachte.

Draußen ging seit dem frühen Nachmittag ein Jahrhundertunwetter nieder und dementsprechend elend sah die arme Posteule aus, die sie nun hereinließ. Entkräftet flog sie auf Minervas Schreibtisch und landete – wie diese seufzend feststellte – mitten auf dem Stapel Aufsätze über die Retransfiguration von Säugetieren. Die Tinte verschwamm unter den Regentropfen, die aus dem Gefieder der Eule perlten.

Mit einem ärgerlichen Zischen scheuchte sie den Kauz hoch und brachte die Arbeit ihrer Schüler in Sicherheit, bevor sie dem entrüstet meckernden Tier einen Eulenkeks zuwarf.
Glücklich kauend hielt der fedrige Postbote ihr sein Bein hin. Geschickt schnürte sie die durchgeweichte Rolle los und warf einen Blick auf das Wachssiegel. Ein verschnörkeltes M in goldenem Wachs.

Der Anblick erinnerte sie wieder an den Spruch ihrer Mutter. Niemals gute Nachrichten nach Mitternacht. Noch bevor sie das Pergament entrollt hatte, ahnte sie, dass dieser Brief keine Annehmlichkeiten enthalten würde. Erst recht nicht, wenn er vom Ministerium kam.
Ermüdet setzte sie ihre silberne Lesebrille ab und fuhr sich über das Gesicht. Sie hatte den Brief erwartet und doch war ihr nun bang vor seinem Inhalt.

Im Schein des fast herabgebrannten Kaminfeuers brach sie das Siegel auf und betrachtete die wenigen, schwungvoll geschriebenen Zeilen. Während sie las, erschienen immer mehr sorgenvolle Falten auf ihrer Stirn, die sie deutlich älter als Anfang dreißig wirken ließen.

Minerva,
ich hoffe, diese Eule findet dich wohlauf. Verzeih, dass ich dir nicht eher geantwortet habe, aber die jüngsten Turbulenzen im Ministerium haben mir kaum Ruhe gelassen.

Ich habe den Fall gründlich untersuchen lassen, wie von dir erbeten. Es betrübt mich, dir nicht bessere Nachrichten schicken zu können, doch wir haben in diesem Moment keinen Anhaltspunkt, wohin es die Familie des jungen Jonathan Alditch verschlagen hat.

Für die Beteiligung einer Person aus magischen Kreisen an diesem verwunderlichen Fall gibt es derzeit keine verlässlichen Hinweise. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass sich das Fernbleiben des Jungen bald schon aufklären wird. Sei versichert, dass wir die zuständigen Muggelbehörden informiert haben.

Wie du sicher weißt, halten die andauernden Unruhen in London uns alle in Atem. Ich brauche jeden Angestellten der Strafverfolgungsbehörden hier, um dem dreisten Aufbegehren der Reinblüterfamilien Einhalt zu gebieten. Doch ich hörte vom Minister der Muggel, dass diese „Polizei" einige interessante Möglichkeiten hat, die ihr helfen, Vermisste aufzuspüren. Ich setze mein volles Vertrauen darein, dass sie euren verschwundenen Schüler alsbald finden.

Sollte sich hier etwas Neues ergeben, informiere ich dich eulenwendend.

Ich verbleibe mit freundlichen Grüßen
Eugenia Jenkins
Zaubereiministerin

Äußerlich war Minerva gefasst, als sie den feuchten Brief vor sich ablegte und gedankenverloren die Eule am Schnabel kraulte, innerlich indes wirbelten ihre Gedanken durcheinander. Es ging nichts Gutes in der Welt vor sich, wenn ein muggelgeborener Erstklässler spurlos verschwand, kurz bevor er den Hogwartsexpress besteigen konnte. Und dass das Ministerium in der Sache so unbekümmert agierte, linderte ihre Sorgen kein bisschen.

Stichflamme | Minerva McGonagall ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt