Die Turmuhr hatte schon längst zwei Uhr geschlagen, als Minerva an dem steinernen Wasserspeier vorbei die Treppe zum Büro des Schulleiters empor huschte. Ihren schottengemusterten Morgenmantel gegen die nächtliche Kälte eng um sich gewickelt, klopfte sie entschlossen an die schwere Tür und trat noch im gleichen Atemzug ein.
Es war spät in der Nacht – natürlich war Albus Dumbledore wach. Er pflegte oft zu sagen, dass sein Verstand besser funktionierte, wenn der Trubel des Tages fern lag. In der Hinsicht waren sie beide verschieden.
Minerva blieb nur solange wach, um die unzähligen Arbeiten der Kinder sorgfältig zu bewerten. Wenn sie einmal keine turmhohen Pergamentstapel zu korrigieren hatte, saß sie am liebsten mit einer Dose Ingwerkekse und einem spannenden Buch am Kamin – und döste des Öfteren vor Mitternacht ein. Unter den Kindern mochte man sich erzählen, dass sie keinen Spaß kannte, aber da lagen sie falsch. Sie bekamen bloß nicht mit, wie sie in den Ferien mit ihrem Besen über die Ländereien jagte oder eben eine spannende Geschichte las.
Im Büro des Schulleiters hingegen sirrten die unzähligen goldenen Apparaturen, deren Zweck sogar für manch einen Zauberkundigen schleierhaft war, im Dunkel der Nacht stets auf Hochtouren.
Albus selber saß wie erwartet hinter seinem großen Schreibtisch und befand sich in einem Zwiegespräch mit den vielen Porträts vergangener Schulleiter und Leiterinnen, die aufgeregt durch ihre Rahmen liefen.Das Geschnatter der Porträtierten erstarb augenblicklich, sobald Minerva den Fuß über die Türschwelle setzte. Hunderte Augenpaare musterten sie mit unverhohlenem Interesse, ehe einige von ihnen nur allzu hastig vorgaben, in tiefen Schlaf zu verfallen. Es war immer dasselbe.
»Ah, Minerva«, grüßte der Schulleiter sie mit einem warmen Lächeln. Er verschloss den schweren Wälzer, aus dem er bis eben gelesen hatte. »Was verschafft mir die Ehre?«
Sie straffte ihre Schultern und wand sich ihren Weg zwischen den vielen storchenbeinigen Tischen hindurch zu seinem Schreibtisch. »Leider nichts Erfreuliches. Ich habe soeben Post vom Ministerium erhalten.« Sie zog den Pergamentbogen aus ihrer Manteltasche und reichte ihn Albus. »Ich muss wohl nicht sagen, dass es nicht als enttäuschende Neuigkeiten sind.«
Es brauchte nicht lange, bis der Schulleiter die Worte überflogen hatte. Mit jedem Satz, den er las, schwand das amüsierte Funkeln in den graublauen Augen hinter der Halbmondbrille. Nachdem er fertig war, legte er den Brief sorgsam vor sich ab und verschränkte seine langen Finger.
»Ganz und gar nicht erfreulich«, stimmte er ihr zu. »Das Ministerium neigt wieder einmal dazu, seine Kurzsichtigkeit unter Beweis zu stellen.«Wie, um diese Feststellung zu unterstreichen, stieß Albus' Phönix Fawkes einen leisen Ruf aus. Minerva hatte ihn zwischen all den magischen Apparaturen in dem Raum glatt übersehen. Das legendenumwobene Tier saß auf seiner Vogelstange neben dem Schreibtisch und betrachtete sie mit deutlich mehr Wohlwollen als der Waldkauz vorhin. Sie lächelte bei seinem Anblick flüchtig, ehe sie sich auf das Gespräch zurückbesann.
»Richtig. Wenn die Ministerin glaubt, dass ich zusehen werde, wie sie diesen Fall ignoriert, nur weil die reinblütigen Demonstranten sie zum Troll halten, dann hat sie auf den falschen Rennbesen gesetzt. Wenn sie nichts unternimmt, dann finde ich eben einen anderen Weg.« Entschlossen stemmte Minerva ihre Hände in die Hüften. »Ich habe Elphinstone Urquart darum gebeten, Nachforschungen für mich anzustellen. Er arbeitet schließlich immer noch in der Abteilung für magische Strafverfolgung. Vielleicht kann er etwas herausfinden.«
Albus nickte langsam. »Ja, deinen alten Freund zu informieren, war auf jeden Fall eine richtige Entscheidung. Ich bin sicher, dass er deiner Bitte nachkommen wird. Aber ich habe das Gefühl, das war noch nicht alles, nicht wahr?«
Seine Augen legten sich durchdringen auf Minerva und sie fühlte sich einmal mehr, als würde er bis in ihr Innerstes blicken. Früher war es ihr unangenehm gewesen, doch mit der Zeit gewöhnte man sich daran. Dennoch brach sie den Blickkontakt ab und musterte stattdessen Fawkes, der sorgsam sein rot-goldenes Gefieder putzte.
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Stichflamme | Minerva McGonagall ✔️
FanfictionAm ersten September 1970 erlebt Minerva McGonagall das Undenkbare: Ein muggelgeborener Erstklässler verschwindet auf dem Weg nach Hogwarts. Zum Frust der jungen Verwandlungslehrerin stellt das Zaubereiministerium die Ermittlungen jedoch rasch ein, o...