22 | Hinter dem Vorhang

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Minervas und Elphinstones Ziel lag in einer Gegend, die so durchschnittlich, so bürgerlich war, dass es fast schon auffällig erschien. Ordentliche Reihenhäuser, wie man sie zuhauf in britischen Städten antraf, mit kleinen Vorgärten – die diese Bezeichnung schwerlich verdienten –, säumten den Bürgersteig zur einen Seite. Dem gegenüber fand sich eine Auswahl sämtlicher Geschäfte, die der gewöhnliche Muggel regelmäßig frequentierte. Obst- und Gemüsehändler, Florist, Zeitungskiosk, Bäckerei, Elektronikgeschäft und ein kleines Café. Als hätte irgendwer jegliche Notwendig- und Nettigkeiten des Lebens auf diesen einen Straßenzug heruntergebrochen, um sie zum perfekten Modell des Muggellebens zu stilisieren.

Die Sonne versteckte sich in Leeds hinter grauen Wolken, sodass die gesamte Szenerie noch durchschnittlicher anmutete. Es war ein gewöhnlicher Vormittag in einer gewöhnlichen britischen Stadt voller gewöhnlicher Menschen. An der Bushaltestelle, wo Minerva und Elphinstone ausstiegen, drängten Männer und Frauen in uniformiertem Grau, das dem des Himmels in seiner Tristesse in nichts nachstand, an ihnen vorbei.

Ihre Seniorentarnung spielte den beiden bei dem Vorstoß auf unbekanntes Terrain in die Karten, denn so wunderte sich niemand, dass sie viel langsamer vorankamen und ihrer Umgebung nicht bloß einen flüchtigen Blick schenkten. Minerva gab vor, die Brille zu putzen, während Elphinstone die Gelegenheit nutzte und die Hausnummern auf der anderen Straßenseite zählte, um das richtige Haus auszumachen.
»Es ist das mit der grünen Tür und der Hecke«, informierte er sie.

Scheinbar beiläufig liefen sie ein paar Schritte und Minerva nahm die Häuserreihe selber in Augenschein. Hausnummer 42 unterschied sich im Äußeren kaum von den übrigen Häusern. Der Rasen war gemäht, ein glänzendes Auto stand in der Einfahrt und die zugezogenen Vorhänge waren geblümt. So weit, so gewöhnlich. Das auffälligste war wohl die Hecke, die das Grundstück umgab und hoch genug reichte, um die Sicht einzuschränken.

Sie beschieden sich zunächst darauf, vorgeblich die wenigen Läden, die am Sonntagvormittag geöffnet hatten, in Augenschein zu nehmen. Interesse an den Muggelgegenständen brauchte Elphinstone dabei nicht einmal heucheln. Begeistert stand er vor dem Zeitschriftenladen, eine Klatschzeitung nach der anderen durchblätternd. Er hielt Minerva diverse Artikel über Prominente oder Mitglieder der Königsfamilie unter die Nase, voller Amüsement angesichts der unbeweglichen Bilder nebst haarsträubenden Schlagzeilen.
»Man könnte meinen, diese Kimmkorn ist bei denen in die Lehre gegangen«, stellte er fest und verschlang mit den Augen einen Artikel über die Eskapaden von Prinzessin Margaret.

Minerva sah nur flüchtig zu ihm hinüber, bevor sie einen Taschenspiegel zückte und vorgab, ihren Lippenstift nachzuziehen. In Wirklichkeit beobachtete sie die Häuserreihe in ihrem Rücken. Es würde kaum möglich sein, sich Nr. 42 unbemerkt zu nähern. Vor allem die vielen Muggel rundum bereiteten ihr Kopfzerbrechen. Auf keinen Fall wollte sie Unschuldige in die Sache verwickeln, nur weil sie zufällig nebenan wohnten. Die Entführer hatten ihr Versteck clever gewählt, verborgen direkt unter den Augen aller. So schwer es Minerva auch fiel, fürs Erste waren sie darauf angewiesen, sich einen Überblick zu verschaffen. Zum Glück hatten sie eine Geheimnisaufspürsonde, die ihnen helfen würde.

Bevor der Inhaber des Zeitschriftenladens ungehalten wurde, weil Elphinstone sämtliche Magazine durchblätterte, tat Minerva ihm den Gefallen und kaufte ein paar davon – allen voran eines über Gartenpflege. Elphinstone sah trotz seiner Verkleidung so glücklich aus wie ein Vierjähriger am Weihnachtsmorgen. Mindestens das Funkeln in seinen Augen war von den äußerlichen Veränderungen unberührt und warf für Minerva ungewollt die Frage auf, ob sein Lächeln auch in zehn, zwanzig Jahren noch dasselbe sein würde. Ob es dann genauso an ihrem Herzen ziehen würde wie jetzt.

»Na komm«, sagte sie an Elphinstone gewandt, »wir müssen weiter, einkaufen.« Um die Tarnung aufrechtzuerhalten, hakte sie sich bei ihm unter und lächelte, als wäre ihre dringlichste Sorge heute, was es zum Mittagessen gab.

Stichflamme | Minerva McGonagall ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt