18 | Verlies Nr. 232

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Die Flammenbrunst hatte das weit offenstehende Tor von Verlies Nr. 232 vollkommen verbogen. Gierig leckten Feuerzungen am nackten Stein drumherum und warfen ihr flackerndes Licht auf die vier Gestalten darin, deren Silhouetten sich dunkel vom orangenen Glühen abhoben. Noch hatten die Flammen nicht alles restlos verschlungen, aber sie arbeiteten sich gnadenlos auf das Grüppchen vor.

»Robbie!«, schrie Minerva auf. Die scharfen Krallen der Sorge schlugen tief in ihr Herz. Während ihre Lore an Fahrt verlor, je näher sie dem Ziel kamen, fiel ihr Blick auf den unbewegten Kobold vor sich, der sie hineingebracht hatte. Er stand noch immer unter der Kontrolle ihres Imperius, sonst hätte er wohl kaum so arglos auf das Flammenmeer geblickt. »Bitte«, richtete sie sich atemlos an ihn, »können Sie Hilfe holen? Alarm schlagen?«

Er blinzelte behäbig, den Blick unverwandt auf das Feuer gerichtet. Natürlich. Sie musste es ihm befehlen. Aber die Worte blieben in ihrer Kehle stecken, als wären es scharfkantige Glasscherben. Es war ohnehin zu spät. Vielleicht würde ihr Bruder diesen Abend nicht überleben. Ausgerechnet in Gringotts, dem angeblich sichersten Ort in Großbritannien, gleich nach Hogwarts.

Dieses Mal bildete Minerva sich nicht ein, dass Elphinstone ihre Zauberstabhand ergriff. Ganz leicht strich er über ihren Handrücken. Sie konnte nicht sagen, ob wegen des Fluches oder Robbie. Doch es war egal, denn die Entscheidung war gefallen. Sobald der Wagen weiter abbremste, schloss sie die Augen; löste die imaginären Fäden, die den Willen des Kobolds an ihren banden.

Für ein, zwei Wimpernschläge saß dieser wie erstarrt in der Lore. Dann riss er die Augen weit auf. Ein Schwall an Koboldflüchen drang aus ihm hervor.
Pippa drehte sich auf ihrem Platz um, die Augenbrauen missmutig zusammengezogen. Sie öffnete den Mund, wahrscheinlich um sich zu beschweren, doch Minerva kam ihr zuvor.
»Bitte«, wandte sie sich erneut dem Kobold zu, »gehen Sie zurück. Schlagen Sie Alarm! Es sind Eindringlinge in Verlies Nr. 232, das sehen sie doch auch, nicht wahr?«

Er starrte sie an, als würde er am liebsten seine dünnen Finger um ihren Hals schlingen; ihr die Luft abschnüren. Was sie ihm nicht verübeln konnte, nach dem, was sie ihm angetan hatte. »Sie ...!«, krächzte er.
»Meinetwegen können Sie mich später gefangen nehmen lassen, Hauptsache, Sie bringen sich in Sicherheit und sorgen dafür, dass hier eine ganze Brigade aus dem Ministerium auftaucht, hören Sie? In dem Verlies sind Leute, die nicht vor dem Einsatz schwarzer Magie zurückschrecken!«
Das war das Mindeste, was sie jetzt noch tun konnte. Sie hoffte nur, dass er keine Zeit verschwenden würde. Zumindest ruckte der Kobold knapp mit dem Kopf, auch wenn dem grimmig gemurmelte Worte in seiner Sprache folgten, die sie nicht verstand.

»Danke.« Bevor ihr Wagen vollständig vor dem Verlies zum Stehen kam, sprang Minerva auf den Steinboden davor, ihren Zauberstab parat. »Aguamenti!«
Ein Strahl Wasser schoss durch die Luft, nur um wirkungslos zu heißem Dampf zu verpuffen, sobald er auf das Feuer traf. Trotzdem hob sie ein weiteres Mal den Stab, schickte eine zweite Welle in das orange Inferno. Neuerliche Dunstschwaden erfüllten die Höhle und vernebelten vorübergehend die Sicht auf das Verliesinnere.

»Das bringt nichts«, rief Pippa gedämpft hinter Minerva, »was immer da brennt, wird schwarzmagischen Ursprungs sein! All die verfluchten Gegenstände dort drin verstärken das Feuer nur.«
Die Absätze der Aurorin klapperten über den rauen Stein, als sie zu ihr aufholte. In ihrem knappen Ausgehoutfit wirkte sie vor dem brennenden Verlies völlig fehl am Platz. Aber ihr Griff an Minervas Arm war fest, ebenso wie ihre Stimme.
»Zauberstab runter! Wir müssen sehen, ob wir das Feuer irgendwie ersticken oder eingrenzen können. Und bei Merlins karierten Unterhosen, lenk keine Aufmerksamkeit auf uns! Wenn die Eindringlinge wollen, können sie problemlos Flüche durch das Feuer schicken.«

Blut rauschte Minerva in den Ohren, lauter als das Prasseln der Flammen. Das Atmen fiel so nah am Verlies schwer, denn jeder Luftzug war erfüllt von Rauch. Ihre Gedanken rasten, drängten sie, sich geradewegs durch das Feuer zu stürzen, um Robbie zu retten. Das Stimmchen der Vernunft war gefährlich leise geworden, aber noch hielt es sie an Pippas Seite.
»Was schlägst du vor?«
»Jedenfalls kein Wasser. Vielleicht -«

Stichflamme | Minerva McGonagall ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt