31 | Totgesagte leben länger

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Der Morgen kündigte sich mit einem Streif roten Lichts am Himmel an, als Minerva erwachte. Für einen Augenblick sah sie hinauf an die hell verputzte Decke und fühlte sich beinahe wie in ihrem Turmzimmer in Hogwarts. Die steinernen Wände, wenngleich kalt, gaben ihr dasselbe warme Gefühl. Wären nur die Bettbezüge nicht andere, die Gerüche nicht unbekannt, die leisen Geräusche nicht fremd.

Erinnerungen an den gestrigen Tag – vornehmlich die letzten Stunden – krochen aus den Tiefen ihres schläfrigen Bewusstseins wieder empor, kaum dass sie die Augen aufgeschlagen hatte; bereit die eisige Flamme der Furcht erneut zu entzünden. Die Zähne fest aufeinandergebissen, hielt sie den ungebetenen Gedanken ihren mentalen Schild entgegen. Sie war nie eine große Okklumentikerin gewesen, doch jetzt war nicht die Zeit, aufzugeben.

»Ein Drache am Morgen ist kein Grund, den Kopf hängen zu lassen«, war ein weiterer der vielzähligen Aussprüche, die ihre Mutter ihr vor vielen Jahren mit auf den Weg gegeben hatte. »Nur wer nach vorne blickt, kann den Drachen besiegen!«
Damals, im Alter von zwölf, hatte Minerva ihr erstes Quidditchspiel verloren (gegen Slytherin, ausgerechnet!) und war davon überzeugt gewesen, dass ihre Karriere als Sucherin, von der sie einst geträumt hatte, nun ganz sicher ruiniert war.

Ferner könnten ihr diese Sorgen inzwischen nicht sein, realisierte sie mit einem Stich im Herzen. Seither hatte nicht nur sie sich verändert – auch die Welt war eine andere geworden. Sie wusste nicht mal, wann sie zuletzt auf einem Besen gesessen hatte und das war eine echte Schande.

Minerva seufzte und setzte sich auf. »Dann wollen wir den Drachen mal besiegen«, versuchte sie sich Mut zuzuflüstern.
Ihre Glieder pochten infolge der Bewegung dumpf, doch die Tinkturen und Tränke vom Vorabend hatten wahre Wunder vollbracht. Die Messer, die bei jedem Atemzug in ihre Lungen stachen, waren kleiner geworden; die Gliederschmerzen zu Muskelkater verklungen. Zurück blieben vor allem eine Menge ungebetener Gedanken.

Im Sitzen konnte Minerva von dem Fenster ihres Gästezimmers aus die ungeheure Weite des Loch Ness ausmachen. Die frühen Strahlen der Morgensonne kitzelten gerade so die Wellen des großen Sees. Dahinter lagen die grünen Hügel der Highlands, ein Anblick, der ihr Herz voller Liebe für ihre Heimat schlagen ließ. Die schottische Landschaft war so friedlich, dass es schwer begreiflich schien, wie die Verbrechen der vergangenen Tage in der gleichen Welt geschehen waren.

Auf den Ländereien – das Wort Garten wurde dem ausladenden Grün bei näherer Betrachtung nicht gerecht – erkannte Minerva die blonde Gestalt Eileans, die einen großen Eimer in Richtung des Wassers schleppte. Nessie der Kelpie reckte erwartungsfreudig den Kopf aus dem See und schüttelte seine Seetangmähne. Eine Szene wie aus dem Bilderbuch. Gerne hätte Minerva Elphinstones Elternhaus bei einer freudigeren Gelegenheit kennengelernt, um es wirklich zu genießen.

So aber wanderten Minervas Gedanken direkt weiter zu Elphinstone selber. Ob er schon wach war? Ging es ihm besser? Wenngleich das Anwesen noch in den Grauschleiern der schwindenden Nacht lag und alle, die keinen kränkelnden Kelpie zu füttern hatten, vermutlich gut daran taten, zu schlafen, hielt es Minerva nicht länger im Bett. Mit einem letzten Blick auf die Highlands wandte sie sich ab.

Newa schien in der Nacht ihre besudelten und zerschlissenen Kleider geflickt haben, denn diese lagen akkurat gefaltet auf einem Stuhl am Bettende. Die Stoffe verströmten einen frischen Duft, nach Wiese und kalter Seeluft.

Dankbar, nicht in Morgenmantel mitsamt Knuddelmuff-Hausschuhen durch das Anwesen geistern zu müssen, schlüpfte Minerva hinein. Am liebsten wäre ihr gänzlich andere Kleidung gewesen, die nie das Verlies der Lestranges von innen gesehen hatten. Immerhin handelte es sich bei dem grünen Umhang um ihren Liebling. Ehemaligen Liebling zumindest. Jetzt hafteten Erinnerungen an den Fasern, von denen sie nicht wusste, ob sie je schwinden würden.

Stichflamme | Minerva McGonagall ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt