49 | Freiheit ist fragil

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Zusammen mit dem kühlen Herbstwind ergriff Minerva auf dem Friedhof von Leeds ein Gefühl der Freiheit. Nicht jene absolute, glückselige Empfindung, die sie bei einem Besenflug erfüllte, aber zumindest ... die Last eines schweren Umhangs, die von ihren Schultern glitt. Ein Tau um ihre Brust, das so lange ihr Herz eingeschnürt hatte, dass sein plötzliches Auflösen doppelt so befreiend wirkte. Es war eine sanfte Freiheit, die weder ihren Magen kribbeln ließ, noch den Eindruck erweckte, dass sie jeden Moment davonschweben könnte. Und doch war es Freiheit. Ein lang gehaltener Atemzug, der sich endlich entlud.

Abgesehen von ihrem Aufseufzen war die Luft still, nur erfüllt vom fernen Rascheln der ersten fallenden Blätter. Nicht ganz verwelkt trug es sie bereits von den Bäumen. Im goldenen Septembersonnenschein wirbelten sie an Minerva vorbei, in Richtung Stadt. Gerahmt von Blättertanz, blauem Himmel und taunassem Gras mutete Leeds am Fuße des Hügels noch mehr wie eine Bilderbuchstadt an als bei ihrem letzten Besuch.

Kleine, perfekte Häuser, deren Dächer im Licht glänzten, bunte Autos, die wie Perlen auf Schnüren durch die Straßen glitten ... Nichts erinnerte an den kurzen, aber heftigen Kampf, der Detective Superintendent Gareth Hammond vor bald zwei Wochen das Leben gekostet und Minerva somit nach ihrer Entlassung aus dem Hospital auf diesen Friedhof geführt hatte.

Erneut nahm sie einen tiefen Atemzug, nur um sich zu überzeugen, dass die Enge in ihrer Brust nicht zurückkehren würde. Ein bisschen befürchtete sie doch, dass alleine der Gedanke an den Tod des mutigen Mannes, dessen Grab zu ihren Füßen lag, sie wieder mit Trauer beschweren würde. Aber der Frieden wuchs nur, als mehr frische Luft ihre Lungen füllte und das Blatt mit Jonathan Alditchs Phönixbild in der Innentasche ihres Umhangs knisterte.

»Schön haben Sie es hier, Detective«, sagte sie leise in den Wind hinein. »Immer einen wachsamen Blick auf Ihre Stadt ... Ihr Kollege Brody hat erzählt, dass dies Ihr Wunsch war.«
Der Gedanke an den jungen Polizisten und dessen Ahnungslosigkeit, mit wem er sprach, als sie ihn heute Morgen an seiner Dienststelle aufgesucht hatte, presste ihre Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Der stete Erinnerungsraub an wehrlosen Menschen war einfach ungerecht, egal ob man ihn im Namen des Gesetzes beging oder aus reinem Eigennutz – und in diesem Fall galt leider beides.

»Ich hoffe, Sie können vergeben, dass so viele vergessen mussten, Detective«, fuhr Minerva mit einem schweren Schlucken fort. »Glauben Sie mir, wenn es meine Wahl gewesen wäre, dann hätte ich Ihren Untergebenen die Wahrheit gelassen, anstatt sie die Lüge von einem Schusswechsel leben zu lassen. Aber so bleibt auch mir nur, die Wahrheit so fest zu halten wie möglich ... nicht, dass ich noch einen Teil davon verliere. Es geht leider viel zu schnell, wenn Magie im Spiel ist.«

Sie löste den Blick von Leeds' Dächermeer und kniete sich vor den frischen Erdhügel, unter dem der Muggelpolizist seine letzte Ruhe gefunden hatte. Noch war das Grab nicht abgesunken, sodass es keinen Grabstein gab. Nur ein hölzernes Kreuz informierte über Namen und Lebensdaten. Es brauchte allerdings gar nicht erst den in Stein gemeißelten Nachruf, um zu begreifen, dass Gareth Hammond vielen Menschen in bester Erinnerung bleiben würde. Das zeigten die unzähligen Kränze, Grablichter und Andenken, die sich vor Minerva türmten.
So traurig es war, dass Bruder und Schwester, Kinder und Enkelkinder, Freunde und Kollegen um den Detective trauerten, so sehr spendete es auch Hoffnung, die Verbundenheit in ihrer Trauer zu erkennen. Seine Entschlossenheit mochte Gareth Hammond das Leben gekostet haben, doch in den Hinterbliebenen würde sie als Inspiration weiter wirken.

Minerva sah zu beiden Seiten, ob ja kein Muggel den Kiespfad herabkam, dann zog sie den Zauberstab. Einen Augenblick verharrte sie, unschlüssig, was ihre Magie Detective Hammond überhaupt hinterlassen könnte, das er nicht längst hatte. Dann beschrieb sie einen weiten Kreis über der Grabstelle. Zum leisen Rauschen aus Wind und fallenden Herbstblättern gesellte sich das Rascheln von Kränzen und Blumengestecken, die mit einem Mal wieder an Kraft gewannen. Eben noch verwelkende Schönheit erblühte erneut. Sogar das ewige Licht in seinem Glas leuchtete heller. Und das würde es, bis Minerva selber verlosch.

Stichflamme | Minerva McGonagall ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt