19 | Große Schwestern

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»Phin?«, heiser von Hitze und Rauch drang Minervas Stimme durch die Stille, die nach der Flucht der Entführer zurückgeblieben war. »Nein ... Phin!« Sie entriss sich Pippas Armen und beugte sich über Elphinstones zusammengesunkene Gestalt, ein seltenes, stummes Gebet auf den Lippen. Er durfte nicht –

Raues Husten erklang. Sein Gesicht war zu einer Grimasse verzogen, als er sich aufrichtete und er rieb sich die Brust, doch er schien unversehrt. »Mir geht's gut«, sagte er matt. Wie zur Bestätigung seiner Worte berührte er ihre Schulter sacht. »War nur ein zurückgeschlagener Schockzauber.«

Erleichterung durchflutete Minerva mit angenehmer Kühle. Dankbar drückte sie seine Hand, bevor sogleich mit dem Knistern des Feuers im Hintergrund die nächste Sorge ihre Aufmerksamkeit beanspruchte. Ihr Blick fiel auf die Zauberer, die am Boden vor Verlies Nr. 232 lagen – einer tot, der andere gelähmt.

»Robbie!«
Alles um sie herum war vergessen. Sie rannte vorbei an dem gewaltigen Bruchstück des Stalaktiten, der ihr Deckung geboten hatte, auf ihren Bruder zu. Der lag wie versteinert da, erhobene Finger in die Leere gereckt. Ungeduldig nahm Minerva ihren Lähmzauber von ihm. Robbies Lider flatterten und langsam sank seine Hand auf die Brust.

»Robbie!« Ihre Stimme brach. »Oh Robbie!« Sie zog ihn in ihre Arme. Auf einmal war er wieder ihr vierjähriger Bruder, der in einen Fluss gefallen war und nicht schwimmen konnte, während sie elf war und ihm trotz der reißenden Strömung hinterher sprang. Damals wie heute hatte sie gefürchtet, ihn verloren zu haben. Niemals sonst war ihr Herz so von Furcht erfüllt gewesen.

Robbie hob mit einem kleinen Stöhnen die Arme. Seufzend tätschelte er ihre zitternden Schultern. »Schwesterherz ... erdrück mich nicht, ja?«
»Du bist so ein Idiot!«
»Ich mein ja nur, ich freu mich über mein Leben, immerhin hast du es mir gerade erst gerettet.«
»Ein riesengroßer Idiot!«, schluchzte sie. »Ein verfluchter, furchtbarer Idiot!«

»Ich hab dich auch lieb, Schwesterherz.« Er streichelte über ihren Rücken, derweil sie seinen angekokelten Umhang mit Tränen der Erleichterung durchnässte.
»Bitte sag, dass mit dir alles in Ordnung ist!«
»Ja.« Einen Arm um ihre Schultern geschlungen, zog er sich in eine sitzende Position. »Dein Zauber hat auf jeden Fall gesessen, aber ansonsten ...«, er streckte den Rücken durch, was ein leises Knacken nach sich zog, »sind da kaum Beschwerden, die ich nicht schon vorher gehabt hätte.«

»Gott sei dank«, murmelte Minerva. Sie lehnte sich zurück, um ihn zu betrachten.
Rußstreifen bedeckten Robbies Gesicht, sein sonst so ordentliches Haar stand wirr vom Kopf ab, die Brille hing schief auf seiner Nase und überhaupt sah er ein wenig ... angesengt aus. Doch unter all der Unordnung umspielte ein schwaches Lächeln seine Mundwinkel. Er würde in Ordnung kommen.

»Nicht etwa Merlin sei Dank?«
»Ach, was hat der heute schon für dich getan«, grummelte sie.
Robbie grinste leicht. »Auch wieder wahr. Bei Gott besteht immerhin die Chance, dass unser Vater ein gutes Wort eingelegt hat.« Aber dann schlich sich der Ernst zurück auf seine Züge. »Wie geht es Anne? Ist sie in Ordnung?«
Minerva nickte rasch. »Elphinstone hat ihr einen Tee gemacht und ich die Schutzzauber repariert. Abgesehen von der Sorge um dich ist alles in Ordnung bei ihr.«

Dieselbe Erleichterung, die sie empfand, strahlte auch in seinen Augen auf. »Das ist gut. Wenn ihr und dem Kind was passiert wäre ...« Er schüttelte den Kopf. Sein Blick fiel auf den Leichnam des Entführers, der nur wenige Handbreit neben ihnen lag. Weit geöffnete blaue Augen starrten durch sie zu einem Ort jenseits ihrer Vorstellung. »Verdammt, das war knapp.«
Ein bitterer Geschmack legte sich an Minervas Gaumen. Hastig drehte sie den Kopf wieder Robbie zu. Es war nicht die erste Leiche, die sie sah, aber wohl der erste Mensch, der in ihrem Beisein umgebracht worden war. Nicht einfach nur gestorben – sondern wahrhaftig ermordet.

Stichflamme | Minerva McGonagall ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt