11 | Magie ist Macht

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Es gab Angenehmeres, als auf nüchternen Magen zu apparieren. Doch wenn die Zeit drängte, war Frühstück das Erste, das optional wurde. Mit dem Knoten, den Minerva im Bauch trug, hätte sie vermutlich ohnehin nichts heruntergebracht, nicht einmal ein trockenes Toastbrot. Zu groß war die Nervosität, die sich mit der Sorge verbündet und es sich in ihrem Inneren schmerzlich bequem gemacht hatte.

Die Straßen Mayfairs waren an diesem Morgen glücklicherweise nicht allzu bevölkert. Für Touristen war es zu früh und die wenigen vorbeieilenden Leute auf dem Weg zur Arbeit hatten nur knappe Blicke für sie übrig. Mit ihrem hochgeschlossenen dunklen Kleid passte Minerva ausnahmsweise zu der Kulisse georgianischer Stadthäuser, die sich lückenlos aneinanderdrängten, eine geschlossene Front eleganter Steinfassaden mit weißen Fenstern und kleinen stuckverzierten Erkern, hin und wieder durchbrochen von einem Balkon hinter schmiedeisernem Gitter.

Sie wirkte ähnlich aus der Zeit gefallen wie der Prunk vergangener Jahrhunderte, aber so mochte sie es. Was immer die Muggel in den jüngsten Jahren so für modisch erachteten, sie blieb ihrem schlichten Stil treu. Nur auf ihren Umhang hatte sie bei diesem Ausflug nach London in weiser Voraussicht verzichtet. Das Stadtvolk war einiges an ausgefallenen Personen gewöhnt, aber es gab Grenzen dessen, was man ihnen zumuten konnte.

Minervas Füße trugen sie zielstrebig zu einem vornehmen Haus am Ende der Straße, mehr hoch denn breit. Nichts unterschied es von den anderen Gebäuden in der Reihe; nichts wies auf die Anwesenheit eines zaubernden Bewohners hin. Die Vorhänge hinter den schmalen Fenstern waren zugezogen, doch das war ohne Bedeutung. Nichtsdestotrotz warf sie einen hoffnungsvollen Blick nach oben und vielleicht schlug ihr Herz einen Ticken zu schnell, als sie unter das kleine Vordach in den Hauseingang trat.

Eine knarzende alte Holztreppe brachte sie in den dritten Stock, direkt vor die Eingangstür der gesuchten Wohnung. Entschlossen klingelte Minerva – und Stille antwortete ihr. Mit angehaltenem Atem wartete sie einige Augenblicke, während ihre Hoffnungen langsam dahinschwanden. Sie wollte gerade erneut klingeln, mehr aus Verzweiflung, denn aus tatsächlicher Annahme, dass ihr noch jemand öffnen würde, da hörte sie Schritte.

»Merlin sei dank!«, war das Erste, das ihr über die Lippen kam, kaum dass Elphinstone die Tür öffnete. Erleichterung durchflutete sie bei seinem offenbar unversehrten Anblick.
»Minerva ...« Verwundert musterte er sie, ganz so, als würde an ihrer statt ein zweigehörntes Einhorn im Hausflur stehen. »Du ... hier?«

Dunkle Ringe lagen unter seinen Augen, anscheinend hatte er genauso wenig Schlaf gefunden wie sie, allerdings aus anderen Gründen. Sein Gesicht mutete ebenso zerknittert an wie sein Hemd, das immer noch jenes vom gestrigen Tag war; im hellblonden Haar erkannte sie Reste des Aschenstaubs von ihrem unfreiwilligen Ausflug und ein Bartschatten lag auf seinen Wangen. Dennoch schafften seine grauen Augen es, bei ihrem Anblick förmlich aufzuleuchten, die Spuren einer viel zu langen Nacht geschmälert.

»Tut mir leid, dass ich hier einfach so auftauche, aber ich musste mich vergewissern, dass du hier bist.« Verunsichert rang sie die Hände.
Er schüttelte den Kopf und schien sich langsam bewusst zu werden, wo sie standen und dass Minerva durchaus real war. »Oh, nicht doch – Bitte, komm herein.«

Sie folgte ihm in den Wohnbereich, der genauso gut eines von Pomonas Gewächshäusern hätte sein können. Ein buntes Durcheinander an magischen Pflanzen rankte fröhlich vor sich hin, in kleinen Fläschchen auf der Fensterbank, in flachen Schalen von der Decke herabhängend oder in großen Töpfen überall im Zimmer verteilt. Was nicht von Gewächsen in Beschlag genommen worden war, bot Platz für Bücher, eine Sammlung, die unlängst als kleine Bibliothek durchging. Eigenartigerweise drängte sich Minerva der Gedanke an Horace' gestrigen Trank auf, der einen ähnlichen Duft von Natur und Pergament verströmt hatte.

Stichflamme | Minerva McGonagall ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt