40 | Scherbenspiel

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Die Stille war unerträglich. Oder war es eher die Ungewissheit?
Minerva hätte die Wände hochgehen können. Da saß sie nun, in diesem dunklen Raum eines fremden Anwesens, alleine, ohne ihren eigenen Zauberstab, nur mit Rowles bewaffnet - und schlimmer noch: Ohne Antworten.

Eine Viertelstunde war vergangen, seit Elladora sie in das kleine Badezimmer gebracht hatte, das sich unter dem Dachgiebel befand. Obwohl ... vermutlich war es inzwischen eher eine halbe Stunde. Immerhin hatte Minerva es nicht nur geschafft, ihr gerissenen Kleider mittels Magie zu flicken, sondern diese auch so verzaubert, dass sie nicht mehr ganz so entsetzlich kurz und eng waren. Was lange genug gedauert hatte, angesichts ihres mangelnden Talents für Haushaltszauber.

Wo blieb Elladora? Ihre letzten Worte zu Minerva waren bloß gewesen, dass dieser Raum das sicherste Versteck sei. Dann hatte sie sich davongemacht, um den Vielsafttrank aus der Eingangshalle zu holen.
Mittlerweile war Minerva mehr als nur ein bisschen nervös. Was hielt Elladora auf?

Sie musste sich dringend zurückverwandeln, sonst wäre sie für den Rest von Voldemorts Veranstaltung hier gefangen, wenn nicht länger. Und sie würde es sicher nicht Mulciber alleine überlassen, diesem Irrsinn ein Ende zu setzen.
Gäbe es doch nur eine Möglichkeit, ihm eine Nachricht zu schicken ... Frustriert schlug sie die Tür des Badezimmerschrankes zu, den sie nach etwas Hilfreichem durchsucht hatte. Außer Haarbürsten, braunen Medizinfläschchen und stapelweise Handtüchern befand sich allerdings nichts darin.

Mit einem Seufzen drehte sie den kalten Wasserhahn zum nunmehr dritten Mal auf und sah zu, wie das Wasser über ihre Handgelenke rann. Wenigstens für den Moment half es gegen die Schwellung, die Rodolphus Lestranges Fesseln verursacht hatten. Ihre Gedanken allerdings ließen sich auch von dem gleichmäßigen Rauschen nicht beruhigen.

In einer unablässigen Schlaufe stiegen die Ereignisse der letzten Tage vor ihrem geistigen Auge auf. Rubeus Hagrid, der ihr von dem verschwundenen Jonathan Alditch erzählte. Die Finsternisschote, die Elphinstone im Kinderzimmer des Jungen fand. Der Protest im Ministerium. Der erste Kampf gegen Bellatrix Lestrange und ihre Anhänger, gefolgt von ihrer Flucht durch das Flohportal. Die kurzzeitige Furcht, Elphinstone könne sie verraten haben. Robbies Entführung, die im brennenden Verlies Nr. 232 gipfelte. Die Stürmung des Hauses in Leeds. Elphinstones und ihre eigene Entführung. Die Folter. Der Fluch. Schmerzen. Angst.

Und schließlich Elphinstone, der mit dem Portschlüssel ins Ungewisse verschwand.
Salzige Tropfen landeten im Waschbecken. Wie kleine Perlen rollten sie über die angelaufene Keramik, bis sie von dem Wasserstrahl erfasst wurden und in einem Strudel durch den Abfluss entschwanden.

Minerva rieb sich die Augen. Ihre Hände waren durch das eisige Wasser so kalt geworden, dass sie die Berührung kaum wahrnahm. Es kam ihr vor, als würde eine Fremde ihre Tränen fortspülen. Dabei waren es ihre steifen Finger, die den Wasserhahn abstellten, und ihr Mund, der den Zauberspruch formte, der alle Spuren ihrer Anwesenheit tilgte. Aber es war nur ein kleiner Teil von ihr, der diese Bewegungen kontrollierte. Wie eine Rüstung umhüllte der Kern aus Stolz, Überzeugung und Hoffnung sie.

Von ganz alleine schuf sich eine Fassade, die alles andere überdeckte. Minerva sah dieser neuen Version von ihr durch den Badezimmerspiegel entgegen und entdeckte auf ihren Zügen nichts von dem, was sie wirklich empfand. Nur in dem dunklen Braun ihrer Augen lauerte ein Hinweis darauf, auf diesen verletzlichen Teil, der sich nach Elphinstones Hand in ihrer sehnte. Doch sonst kündete alles an ihr von Entschlossenheit.

Diese andere Minerva im Spiegel blickte mit vorgerecktem Kinn zurück, die Schultern gestrafft, und sagte ihr, dass sie funktionieren würde, weil sie gottverdammt noch einmal funktionieren musste. Und wie durch ein Wunder gelang es ihr tatsächlich, die Gedanken an Elphinstone hintanzustellen.

Stichflamme | Minerva McGonagall ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt