8 ~ Stier

2.3K 227 1K
                                    

David war noch nicht aus dem Waschkeller zurück, also begann ich damit, den Boden im Wohnzimmer zu wischen. Der Lautsprecher spielte weiterhin Musik. Auch zu Hause steckten ständig Kopfhörer in meinen Ohren. Immer wenn ich Hausarbeiten erledigte hörte ich meine Playlists rauf und runter und sang und tanzte dazu, und da meine Mama nicht mehr bei uns war, kam das fast täglich vor. 

Mit der Zeit ergab es sich deshalb ganz automatisch, dass ich tanzend und lauthals mitsingend den Wischmopp über die Fliesen schwang. Ich schloss die Augen, verlor mich in der Musik und blendete alles andere aus. Und zwar ganz genau so lange, bis ich am Ende eines Songs nach einer schwungvollen Drehung meine Augen wieder öffnete und einen grinsenden David in der Tür lehnen sah. Seine Hände steckten lässig in seinen Hosentaschen. Ich dagegen reagierte alles andere als lässig, stattdessen erstarrte ich wie festgefroren.

»Wie lange stehst du da schon?«, piepste ich und fühlte mich ertappt. Dann richtete ich mich auf, fixierte ihn aus schmalen Augen und wedelte mit meinem Zeigefinger planlos in der Luft herum. »Weißt du, irgendwie gibst du mir damit solche Stalker-Vibes, David.«

Unbeeindruckt hob er eine Augenbraue. »Ich wollte dich nur nicht stören, Cosita linda. War eigentlich ganz süß, wie du getanzt und gesungen hast.« Seine Augen funkelten amüsiert und um seine Lippen spielte eines dieser kleinen Lächeln, die ihm so gut standen. Deshalb schaffte ich es nicht, sauer auf ihn zu sein, obwohl er mich gerade heimlich in einer maximal peinlichen Situation beobachtet hatte.

»Du solltest öfter lächeln. Vielleicht würde man dich dann auch nicht mit einem wilden Stier verwechseln«, stichelte ich und grinste ebenfalls. Wenn er nicht diesen grimmigen, verschlossenen Gesichtsausdruck hatte, wie es leider meistens der Fall war, sah er fast unwiderstehlich aus. Diese Tatsache musste ich mir wider Willen eingestehen.

»Und du solltest öfter singen. Das hat sich gar nicht mal so übel angehört.«

»Von wegen gar nicht so übel, im Kinderchor habe ich oft die Solos gesungen. Eigentlich sollte ich für meine Privatvorstellung eine Gage von dir verlangen.«

Plötzlich lächelten wir beide. Man konnte sogar fast behaupten, dass wir uns anlächelten, und irgendwie blieben unsere Blicke dabei aneinander hängen. Einen Moment lang war keiner von uns in der Lage, seine Augen abzuwenden. Doch dann runzelte er die Stirn und unterbrach den seltsamen Zauber mit einem Räuspern.

»Tut mir übrigens leid«, sagte er völlig aus dem Nichts heraus. Das Lächeln war aus seinem Gesicht gewischt und der übliche ernste Ausdruck breitete sich darin aus. Ich zog verständnislos die Brauen zusammen.

»Was? Dass du mich beim Tanzen und Singen beobachtet hast?«

»Quatsch. Ich meinte das vorher.« Seine Stimme klang auf einmal ungewohnt unsicher und er starrte den Fußboden an, als er weitersprach. »Ich hab da wohl was falsch verstanden. Ich ... Also, ich hätte dich nicht festhalten sollen. Tut mir leid, wenn du dich unwohl gefühlt hast ... oder vielleicht sogar Angst vor mir hattest. Eigentlich hatte ich immer ein ganz gutes Gespür dafür, was die Mädels gerne wollen. Ich bin wohl ziemlich aus der Übung.«

›Oh nein, dein Gespür ist hundertprozentig in Ordnung!‹, schaltete sich die kleine Stimme ein.

David hatte schon genau richtig interpretiert, was ich in dem Moment gerne getan hätte. Nicht, dass ich das jetzt zugeben würde. Und unwohl gefühlt? Ich hatte wirklich sehr vieles gefühlt, aber definitiv kein Unwohlsein. Angst hatte ich höchstens vor mir selbst. Vor dem, was ich getan hätte, wenn er mich nicht zufällig Schneewittchen genannt hätte. Vor dem, was ich vielleicht tun würde, wenn ich noch einmal in eine solche Situation mit ihm käme. Und nun entschuldigte er sich bei mir.

Entscheide dich, Schneewittchen! ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt