55 ~ Schwachstelle

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Zwei Jahre zuvor
Zwei Tage nach dem Boxkampf

Schmerz.

Schmerz war alles, was ich fühlte, als ich aufwachte.

Schmerz, der meinen Körper bis in die letzte Faser durchdrang.

Ich presste die Lippen zusammen, um ein Stöhnen zu unterdrücken, das meine trockene Kehle hinaufkroch. Blinzelnd schlug ich die Augen auf. Es war anstrengend, sie offen zu halten, denn ich war unglaublich müde. Mein Kopf dröhnte höllisch und reflexartig hob ich die Hand, um mir an die Stirn zu fassen. Dabei bemerkte ich die Schläuche, die in meinem Handrücken steckten.

Neben mir hörte ich ein leises, gleichmäßiges und sehr nervtötendes Piepen, das in diesem Moment schneller und unregelmäßiger wurde. Ich fühlte mich schwach und zitterte. Als ich den Versuch wagte, mich aufzurichten, durchzuckte ein scharfer Stich meinen Oberkörper und ließ mich sofort wieder zurücksinken. Die Bauchmuskeln anzuspannen, konnte ich komplett vergessen, es war unerträglich.

Wie in Zeitlupe schaute ich mich mit langsamen, vorsichtigen Bewegungen um und stellte fest, dass ich in einem weiß bezogenen Bett lag. In der Luft hing der beißende Geruch von Desinfektionsmittel. Als ich meinen Kopf leicht anhob, was ihn beinahe zum Platzen brachte, sah ich jemanden am Fenster stehen. Der Mann war groß, hatte einen breiten Rücken und trug einen dunklen Anzug.

Ich holte tief Luft, aber auch das war keine gute Idee. Wellen von Schmerz durchfluteten meinen Körper und diesmal entwischte mir ein leises Stöhnen. Der Mann hörte es, drehte sich um und mir wurde klar, dass es sich um meinen Vater handelte.

»Victor, du bist wach«, stellte er messerscharf fest. »Sie haben die Dosis der Schmerzmittel vorhin etwas zurückgefahren.«

Ja, das merkte ich.

Mit langsamen, gemessenen Schritten näherte er sich meinem Bett. Seine Stimme hatte so gleichgültig geklungen wie eh und je, aber als er neben mir stand, verrieten seine Augen, dass er sich nicht hundertprozentig im Griff hatte. Ich las Betroffenheit in ihnen, vielleicht sogar einen Hauch von Sorge. Das kam bei ihm äußerst selten vor. Ich konnte die Situationen, in denen er seine Maske nicht ganz aufrecht erhalten hatte können, an einer Hand abzählen. Ich musste wohl einigermaßen schlimm aussehen.

Einen Moment lang überlegte ich, warum ich im Krankenhaus lag. Ich hatte keine Erinnerung daran, wie ich hierher gekommen war, aber die Situation kam mir auf seltsame Weise bekannt vor.

Plötzlich erinnerte ich mich daran, dass ich schon einmal im Krankenhaus gewesen war. Damals, nach dem Unfall, als ich aufwachte, stand mein Vater in derselben Pose im Zimmer. Die Szene kam mir fast wie ein Déjà-vu vor.

Was war wohl diesmal passiert? Wollte ich es überhaupt wissen?

Kaum hatte ich die Frage zu Ende gedacht, fiel mir alles wieder ein.

Kat. Dario. Keine Regeln. Der Kampf. Zahllose Faustschläge. Schwarz.

»Weißt du eigentlich, wie unverantwortlich es von dir war, einfach so in der Nacht das Internatsgelände zu verlassen? Wie bist du überhaupt in diese gottverlassene Gegend gekommen? Und wer hat das getan, Victor? Ich werde diejenigen zur Rechenschaft ziehen.«

Mein Vater sah mit gerunzelter Stirn und zusammengekniffenen Augen auf mich hinab. Er war kein Mann, der sich etwas wegnehmen ließ. Selbst wenn es nur sein unwürdiger Sohn war.

Ich zuckte vorsichtig mit den Schultern, als ich mich an Darios letzte Worte erinnerte. Für ihn war die Sache damit erledigt und für mich war sie das auch. »Irgendwelche drei Typen, ich habe sie nicht erkannt«, murmelte ich mit dieser viel zu leisen, schwachen und kratzigen Stimme.

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