48 ~ Verzichtserklärung

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David hatte den Kopf in den Händen vergraben und starrte mit leerem Blick auf den Boden vor sich. Eine einzelne Träne bahnte sich ihren Weg über seine Wange. Mit dem Handrücken wischte er sie sich vom Gesicht und betrachtete verwundert die Feuchtigkeit darauf.

»Weißt du, wie lange ich schon nicht mehr geweint habe, Pequeña?«, fragte er und betrachtete stirnrunzelnd seine Hand. Die Traurigkeit spiegelte sich in seinen Augen wider, und er sah plötzlich so verloren aus, dass sein Schmerz sich auch in mein Innerstes bohrte.

Ohne ein weiteres Wort stand ich auf, setzte mich auf seinen Schoß, schlang meine Arme um ihn und schmiegte mich an seine Brust. Ich hielt ihn fest und wünschte mir, ihn nie wieder loslassen zu müssen. Seinen warmen, sicheren Körper so nah an meinem zu spüren, ließ auch mich wieder ruhiger werden. Es war so furchtbar gewesen, was er als kleiner Junge hatte erleben müssen. Ich fühlte sein Leid mit ihm, es trieb mir die Tränen in die Augen.

»Weinen kann sehr gut tun. Manchmal ist es befreiend«, flüsterte ich nach einer Weile und schniefte.

»Mir wurde etwas anderes beigebracht. Es bedeutet nur Schwäche.« Erstaunt über seine Worte hob ich den Kopf und sah ihn an.

»Du weißt hoffentlich, dass das keine Schwäche ist, sondern Schwachsinn.«

Ein schiefes Lächeln huschte über sein Gesicht. »Wenn du das sagst, werde ich mal drüber nachdenken.«

»Das wäre gut.« Auch auf mein Gesicht schlich sich ein kleines Lächeln, das jedoch sofort wieder erlosch. »Erzählst du mir, wie es weiterging?«

Seine Geschichte konnte noch nicht zu Ende sein, denn er war ja hier bei mir, also war zumindest er gerettet worden. Aber ich hatte große Angst davor zu erfahren, was mit seiner Schwester geschehen war.

Er schluckte sichtlich, dann nickte er langsam. Ich ließ mich wieder an seine Brust sinken und umarmte ihn noch fester.

*****

Elf Jahre zuvor
Buenos Aires, Argentinien
Hospital Aléman

Ich wachte auf, aber meine Lider waren so schwer, dass ich sie nur einen kleinen Spalt weit öffnen konnte. Also hob ich meine Hand und wollte meine Augen reiben. Dabei bemerkte ich die Schläuche, die in meinem Handrücken steckten. Ich versuchte zu schlucken, aber meine Kehle fühlte sich ganz rau und trocken an. Nach einer ganzen Weile schaffte ich es endlich, die Augen richtig aufzumachen. Nachdem ich ein paar Mal geblinzelt hatte, konnte ich auch etwas sehen.

Ich lag in einem Bett mit weißen Bezügen. Eines war klar, ich war nicht zu Hause. Als ich den Kopf hob, sah ich, dass jemand am Fenster stand. Der Mann hatte einen breiten Rücken und trug einen hellgrauen Anzug. Ich holte tief Luft, musste dabei aber fürchterlich husten. Der Mann hörte es und drehte sich um. Es war mein Vater.

»Victor, du bist wach«, sagte er. Seine Stimme klang, wie so oft, als wäre er gar nicht wirklich da. Einen Moment lang überlegte ich, was ich hier in diesem fremden, kahlen Zimmer wohl machte, dann fiel mir alles wieder ein.

Das Wasser. Keine Luft zum Atmen. Schwarz. Evita.

Mein Herz hämmerte wild. Fest schlug es gegen meine Brust. »Papa, wo ist Evi?«, krächzte ich. Meine Stimme funktionierte irgendwie nicht richtig. Ich brachte kaum einen Ton aus meinem Hals heraus.

»Sie hat überlebt, aber sie hat eine Lungenentzündung. Der Gärtner hat euch beide im Pool gefunden und aus dem Wasser gezogen.«

Nie in meinem Leben hatte ich schönere Worte gehört. Evi lebte. Und diese komische Entzündung würde sicher bald wieder verschwinden. Ich fühlte mich plötzlich viel besser. Mein Bauch und mein Herz hatten wehgetan, aber das war jetzt fast wieder weg. Ich musste sofort zu Evi und Mamá, um selbst zu sehen, dass es ihnen gut ging.

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